Unbegreiflich begreiflich
Versuch über das Kommen Gottes
Unbegreiflich begreiflich
Versuch über das Kommen Gottes
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
Er hätte der Unbegreifliche bleiben können, der große Unbekannte, der sich menschlichem Begreifen bleibend entzieht. Aber, das ist das Wunder, das wir an Weihnachten feiern: Der Unbegreifliche wollte sich selbst begreiflich machen. Er hat den Exodus aus dem Raum des Göttlichen in den Raum des Menschlichen riskiert. Er hat die Geschichte berührt und ist gekommen als einer von uns. Der, den wir oft suchen und manchmal auch schmerzlich vermissen, hat sich selbst aufgemacht, um uns nahe zu kommen und sich von uns finden zu lassen. Der unendliche Abgrund zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Transzendenz und Immanenz ist durch den "Immanuel" (Jes 7,14; Mt 1,23) überbrückt. Gott kommt uns nahe, damit wir ihm nahe sein können. Das ist die Brücke für das, was Gottesfreundschaft werden kann, wenn wir uns denn auf dieses Abenteuer einlassen.
Die Dynamik von Gottes Kommen aber hat mehrere Dimensionen. Die erste betrifft die Erinnerung: Er ist schon gekommen. Das feiert die Kirche am Fest der Menschwerdung des Wortes Gottes. Wir gedenken dankbar der Geburt des Erlösers, der zwischen Krippe und Kreuz Worte gesprochen und Zeichen gesetzt hat wie noch kein anderer vor ihm. Die zweite betrifft die Aufmerksamkeit für die Spuren seiner Gegenwart jetzt: Er kommt auch heute. Im Wort des Evangeliums, das uns den Spiegel vorhält und zur Umkehr einlädt, ist er ebenso da wie in den Zeichen seiner Nähe, den Sakramenten, die uns auch sinnlich-körperlich affizieren.
Schließlich gibt es die alle menschlichen Planungen durchkreuzende und überragende Erwartung: Er wird kommen. Es wird nicht immer so weitergehen. Die Geschichte ist vom Menschen her nicht vollendbar – aller Fortschrittsemphase und allen Optimierungsstrategien zum Trotz. Gläubige erwarten jedenfalls die Parusie Christi, ohne zu wissen, wann und auf welche Weise sie geschehen wird. Die dankbare Erinnerung, die wache Aufmerksamkeit und die gespannte Erwartung werden so am Weihnachtsfest zusammengeschlossen.
"Puer nobis est natus – ein Kind ist uns geboren."
Beginnen wir mit der Memoria incarnationis: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet" (Joh 1,14). Schon in der frühjüdischen Weisheitsliteratur ist davon die Rede, dass die Weisheit vor Gottes Thron spielt und zugleich bei den Menschen wohnen möchte (Spr 8,30f). Die jüdische Theologie der Einwohnung kann als Vorform des christlichen Inkarnationsglaubens gelesen werden. Die Propheten Israels aber haben in vielstimmiger Weise das Kommen des Messias angekündigt. Vom "Spross aus der Wurzel Isais" (Jes 11,1), vom "Friedensfürsten" (Jes 9,5), vom "König der Völker" (Ps 2,6-8), von der "Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 3,20) ist dort die Rede.
Die Kirche feiert darüber hinaus täglich das Kommen des schon Gekommenen. Seine Ankunft verlangt unsere Antwort, wenn das Christentum keine weltflüchtige Angelegenheit bleiben soll.
Gewiss, die Propheten selbst haben zu ihrer Zeit anderes im Sinn gehabt als das, was dann historisch später eingetroffen ist. Aber die Vieldimensionalität und Sinnoffenheit ihrer Aussagen haben in der Gestalt Jesu einen Konvergenzpunkt erhalten. Die Lesungen im Advent rufen jedenfalls die Stellen in Erinnerung, die nach ältester Lesart auf Christus vorverweisen. "Puer nobis est natus – ein Kind ist uns geboren." (Jes 9,5)
Wem gilt der Blick Christi?
Die Kirche feiert darüber hinaus täglich das Kommen des schon Gekommenen. Seine Ankunft im Wort der Heiligen Schrift verlangt unsere Antwort, verlangt einen Kommentar im Fleisch, wenn das Christentum keine weltflüchtige Angelegenheit bleiben soll. In den Gaben von Brot und Wein kommt er zu uns. Ja, die verwandelten Gaben, die wir in der Kommunion empfangen, können zu einer Gabe der Wandlung werden. Wer gesammelt zum eucharistischen Mahl hinzutritt, wird hineingenommen in die Lebenshaltung Christi, der für andere da war. Ganz und ungeteilt.
Durch diese Begegnung mit dem Anderen kann er selbst anders werden. Ja, er soll es. Der wache Blick für die Armen und Randständigen, aber auch für die stumme Not der Schuldbeladenden ist der Blick Christi. Mit dem Empfang der Gaben aber ist uns aufgegeben, den Geber nachzuahmen, seine Optik zu übernehmen. Wir sind eingeladen, unser Leben zum Medium seiner Gegenwart werden zu lassen, so gut es geht.
Profanierung des Sakralen? Es bleibt ein Unbehagen
Die Kirche aber ist ein heiliger Raum. Mag die Warnung vor der "Profanierung des Sakralen" durch die Impfstraße im Wiener Stephansdom überzogen gewesen sein – ein Angebot, das zweifellos von vielen dankbar angenommen wird, das überdies wohl auch Menschen in die Kirche bringt, die sonst eher draußen bleiben. Die Frage ist komplex, zumal die Gesundheit des Körpers nicht gegen das Seelenheil ausgespielt werden kann. (siehe auch: Debatte über Tück-Kritik geht weiter)
Mag die Warnung vor der "Profanierung des Sakralen" durch die Impfstraße im Wiener Stephansdom überzogen gewesen sein – es bleibt ein leises Unbehagen, weil die Stätte des Heiligen hier für eine Funktion in Anspruch genommen wird, die problemlos auch an anderen Orten hätte erfüllt werden können.
Dennoch bleibt ein leises Unbehagen, weil die Stätte des Heiligen hier für eine Funktion in Anspruch genommen wird, die problemlos auch an anderen Orten hätte erfüllt werden können. Ist es nicht wohltuend und gut, Räume der Stille und Sammlung zu haben, die einen zu den hektischen Lebenswelten auf Distanz gehen lassen? Anders-Orte des Sakralen, welche die Funktions- und Leistungsimperative der Gesellschaft unterbrechen? Stätten, die zur Begegnung mit dem Unbegreiflichen einladen, der sich selbst begreiflich machen wollte?
Ein ganzes Ensemble von Zeichen – Eckhard Nordhofen spricht treffend von "Alteritätsinsignien" – macht uns die Präsenz des Heiligen bewusst. Schon beim Übertreten der Schwelle lädt das Weihwasser dazu ein, der Taufe zu gedenken, durch die unser Name unauslöschlich mit dem Namen des dreifaltigen Gottes verbunden wurde. Der Altar, der Ambo, die Osterkerze, das ewige Licht, welches die verborgene Gegenwart des Allerheiligsten im Tabernakel anzeigt. Sich betrachtend dem Allerheiligsten auszusetzen und sich zu sammeln, kann in Zeiten der Sorge und Zerstreuung allemal heilsam sein.
Christinnen und Christen stehen schließlich in einem adventlichen Erwartungshorizont. Die O-Antiphonen bringen diese Erwartung wunderbar zum Ausdruck. "Ero cras – Morgen werde ich dasein" – dieses Akrostichon ergibt sich aus den lateinischen Anfangsbuchstaben der sieben Antiphonen, wenn sie man von hinten nach vorne liest. Der Pfeil der Sehnsucht aber zielt auf das Kommen Gottes, auf die Vollendung und damit auf nichts weniger als ein Leben, das keinen Tod mehr kennt. Dieses Leben, das Transhumanisten durch biotechnische Aufrüstung des sterblichen Körpers, Technognostiker durch ein digitales Double erreichen wollen, erwarten Christen vom Kommen des Herrn, der allein geben kann, was Menschen ersehnen: ein Leben in Fülle. Der Jubelgesang der himmlischen Chöre ist ein Bild für diese ekstatische Freude, die sich allenfalls erahnen lässt und alle Begriffe übersteigt.
Vom Blick der Unbehausten treffen lassen
Doch dem kontrastiert der Schrei der Leidenden in der realen Geschichte heute: "Wie lange noch?" Wenn wir diesen Schrei nach Gerechtigkeit hören und nicht apathisch an uns abprallen lassen, dann geben wir dem Raum, der sich mit den Opfern rückhaltlos identifiziert hat. So ist Weihnachten weit davon entfernt, ein Fest zu sein, das die bürgerliche Festkulisse fromm verziert und einfach nur verdoppelt.
Vergessen wir nicht: Es war damals schwierig genug, für die Geburt des Erlösers eine Herberge zu finden. Viele müssen auch heute in Provisorien leben, sind auf der Flucht oder gefährdet. Indem wir uns vom Blick dieser Unbehausten treffen lassen, indem wir den Lästigen und Verzweifelten Gehör schenken, indem wir praktische Solidarität mit den Leidenden üben, kann auch Christus bei uns ankommen, der in der Gerichtsparabel des Matthäus gesagt hat: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40)
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.