"Unfehlbares Lehramt der Betroffenen"? Eine Problemanzeige
"Unfehlbares Lehramt der Betroffenen"? Eine Problemanzeige
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
In den Reformdebatten der katholischen Kirche in Deutschland lässt ein neuer Begriff aufhorchen: "Lehramt der Betroffenen". Bereits bei der zweiten Synodalversammlung im Oktober 2021 versicherte der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, er wisse um die Tränen der Opfer, lehne aber eine "Emotionalisierung und das unfehlbare Lehramt der Betroffenen" ab.
Diese zugespitzte Äußerung, die von Kritikern umgehend als zynisch zurückgewiesen wurde, hat bereits während der Synodalversammlung die Entgegnung des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck hervorgerufen: "Wir sind als Kirche nur Licht der Welt, wenn wir mit den Tränen und schwierigen Lebenssituationen so vieler Betroffener wirklich ernst umgehen. Wir können deswegen auch von einem Lehramt der Betroffenen sprechen. So werden sie in die Nähe Jesu gerückt. Und es ist mir wichtig, dass wir an dieser Stelle wissen. Das ist das einzig wirkliche unfehlbare Lehramt." Inzwischen hat der Begriff eines besonderen "Lehramt der Betroffenen" Eingang in ein programmatisches Papier des Synodalen Weges gefunden.
Die Rede vom Lehramt der Betroffenen ist nach der anhaltenden Erschütterung über sexuellen Missbrauch und systemische Vertuschung in der Kirche eine klare Ansage. Akteure von Kirche und Theologie müssen lernen, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen – und das heißt hier: mit den Augen der Opfer! Der schon länger geforderte Paradigmenwechsel vom Täter- zum Opferschutz verlangt entschiedene Maßnahmen. Viele Missbrauchsbetroffene mussten hinter der Mauer des Schweigens mit ihrem Trauma jahrzehntelang allein zurechtkommen und fühlten sich "lebendig begraben" (Alejandro Palomas). Keiner wollte sie hören, keiner hat ihnen geglaubt, die Taten wurden vertuscht, die Täter geschützt.
Was soll ein solches Lehramt im Blick auf die Synodalforen zu Macht und Gewaltenteilung, zur priesterlichen Existenz heute, zur Rolle der Frau in der Kirche und zur Erneuerung der Sexualmoral konkret bedeuten? Soll das Leiden der Opfer dafür herhalten, die Dispositive der Macht in der Kirche umzuschreiben?
Die vorrangige Solidarität mit den Armen und Leidenden ist eine Forderung des Evangeliums (Mt 25,31-46). Auch Benedikt XVI. hat 2010 in seinem Brief an die Bischöfe von Irland geschrieben, dass in den Stimmen der Opfer die Stimme Christi zu hören sei. Daran kann die Rede vom Lehramt der Betroffenen anschließen. Sie ist überdies ein Anstoß, dass die abgenutzten Zerknirschungsbekundungen vieler Bischöfe nicht Leerformeln bleiben dürfen, sondern praktische Folgen haben müssen. Intransparenz, die Verantwortungsflucht begünstigt, muss ein Ende haben. Rückhaltlose Aufarbeitung der Delikte und Verurteilung der Täter, zügige Entschädigung und therapeutische Begleitung der Opfer, aber auch wirksame Präventionsprogramme für kirchliche Bedienstete sind angezeigt.
Kommt den Stimmen der Betroffenen lehramtliche Qualität zu?
Der Begriff "Lehramt der Betroffenen" geht über Fragen der Missbrauchsbekämpfung allerdings hinaus. Er spricht der Stimme der Betroffenen lehramtliche Autorität in theologischen Diskursen zu. Das ist bemerkenswert, denn der Begriff "Lehramt" hat heute eigentlich keinen guten Klang. Dass es eine amtliche Instanz geben soll, welche die ursprungsgetreue Weitergabe des Glaubens normiert und im Falle von Abweichungen mit letztinstanzlicher Autorität einschreitet, leuchtet vielen nicht mehr ein. Neben der kognitiven Engführung von Religion wird hier die machtförmige Verzerrung von Kommunikation moniert. Lehramtliche Disziplinierungen durch Rom haben bei betroffenen Theologen nicht selten nachhaltige biografische Spuren hinterlassen. Der Begriff "Lehramt der Betroffenen" wäre hier eine Art Gegenbesetzung, die mit der Autorität der Leidenden eine neue Instanz einführt und auch affektive Dimensionen wie Erschütterung, Ohnmacht und Sprachverlust ins Spiel bringt.
Der Anstoß, das Leiden der Betroffenen zu würdigen und alles zu tun, um künftig sexuellen oder geistlichen Missbrauch zu verhindern, kommt in der Rede vom besonderen Lehramt der Betroffenen treffend zum Ausdruck, die, so verstanden, nicht zwangsläufig in Konkurrenz zum Lehramt der Bischöfe und des Papstes gebracht werden muss. Erst dann, wenn Forderungen im Reformdiskurs direkt mit dem Lehramt der Betroffenen begründet werden, stellen sich Rückfragen: Was soll ein solches Lehramt im Blick auf die Synodalforen zu Macht und Gewaltenteilung, zur priesterlichen Existenz heute, zur Rolle der Frau in der Kirche und zur Erneuerung der Sexualmoral konkret bedeuten? Soll das Leiden der Opfer dafür herhalten, die Dispositive der Macht in der Kirche umzuschreiben, die Zulassungsbedingungen zum Amt zu lockern, Geschlechtergerechtigkeit zu fördern und die von vielen als rigide empfundene Sexualmoral zu liberalisieren?
Das Problem einer möglichen Instrumentalisierung der Betroffenen bleibt. Um dieses zu vermeiden und in die Vereinnahmungsfalle erst gar nicht hineinzutappen, möchte ich mit Nachdruck dafür votieren, auf den Begriff "Lehramt der Betroffenen" zu verzichten.
5 Einsprüche - um der Opfer selbst willen
Über all das ist zu reden – keine Frage! Aber hier "das" Lehramt der Opfer zu beanspruchen, ist problematisch – gerade um der Opfer selbst willen!
(1) Zum einen bilden die Geschädigten keine homogene Größe. Die Verwendung eines "Kollektivsingulars" (Reinhart Koselleck) verstößt gegen den Code der Pluralitätsfreundlichkeit und Diversitätssensibilität, dem sich der Synodale Weg selbst verschrieben hat. Jedes Opfer hat seine eigene Sicht, die unverrechenbar ist. Die einen begrüßen Reformen, den anderen sind sie gleichgültig, wieder andere wollen mit der Kirche nichts mehr zu tun haben, weil sie eine Retraumatisierung befürchten, sie sind längst ausgetreten. Und es gibt vereinzelt auch Missbrauchsopfer, die der Reformagenda des Synodalen Weges ablehnend gegenüberstehen. Was also, wenn das Lehramt der Betroffenen faktisch polyphon und dissonant ist?
(2) Auch ist bei der Missbrauchsaufarbeitung das Streben nach Gerechtigkeit für die Betroffenen zu unterscheiden von dem Interesse der Kirche, verloren gegangenes Vertrauen wieder zu gewinnen. Wer die Stimmen der Opfer einbezieht mit der Absicht, den verspielten Kredit an Glaubwürdigkeit rückgängig zu machen, der setzt die Vorzeichen falsch. Die fällige Debatte über Strukturreformen in der Kirche lässt sich auch ohne Rekurs auf die Betroffenen führen. Die Gefahr der "Reinszenierung des Missbrauchs" (Klaus Mertes) ist allzu groß, wenn das Leiden der Betroffenen als Reformkatalysator angeführt wird.
(3) Weiter steckt wohl ein Quäntchen Anmaßung darin, wenn einzelne Akteure meinen, im Namen der Betroffenen sprechen zu können. Jede Stimme der Opfer ist unvertretbar. Das ist im Diskurssetting des Synodalen Weges seit der zweiten Synodalversammlung berücksichtigt worden. Drei Betroffenenvertreter sind nun in die Verständigung eingebunden. Aber auch dieses Trio, das die Sicht der Geschädigten einklagt und mit Recht vorschnelle Harmonisierungen abweist, kann nicht für alle sprechen.
(4) Die Rede vom "besonderen Lehramt der Betroffenen" kann überdies als Immunisierungsstrategie eingesetzt werden. Stimmen, die einzelne Reformvorschläge problematisieren oder das Projekt des Synodalen Weges als Ganzes in Frage stellen, werden dann als verblüffungsresistent oder leidunempfindlich hingestellt. Es werden rote Karten gezückt, wenn Bedenkenträger das Wort ergreifen – ein klares Zeichen dafür, dass die synodale Gesprächskultur in Sachen Dialog und Ambiguitätstoleranz noch Spielraum nach oben hat.
(5) Schließlich wird den Schultern der Betroffenen zu viel aufgebürdet, wenn das Gelingen der Reformen mit der Autorität ihrer Leiden verbunden wird. Auch hier besteht nicht nur die Gefahr der Funktionalisierung, sondern auch die der Retraumatisierung, zumal nicht wenige Fragen des Synodalen Weges nur universalkirchlich entschieden werden können.
Bleibende Gefahr einer Instrumentalisierung Betroffener
Gegner des Synodalen Weges haben mit der Formel "Missbrauch des Missbrauchs" den Ansatzpunkt und das Vorgehen des Reformprojekts diskreditieren wollen. Das ist von Bischof Georg Bätzing, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, als "eine sehr unerlaubte und sehr anmaßende Stellungnahme" zurückgewiesen worden. Das ist eine klare Punktsetzung, die verständlich ist, wenn die Rede vom "Missbrauch des Missbrauchs" beabsichtigt, die fällige Debatte über Strukturfragen im Keim zu ersticken, und dabei auch die vorrangige Option für die Betroffenen in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals ausblendet.
Die Punktsetzung hat aber eine blinde Stelle: Das Problem einer möglichen Instrumentalisierung der Betroffenen bleibt. Um dieses zu vermeiden und in die Vereinnahmungsfalle erst gar nicht hineinzutappen, möchte ich mit Nachdruck dafür votieren, auf den Begriff "Lehramt der Betroffenen" zu verzichten – und den fälligen Disput über Strukturreformen mit Sachargumenten auszutragen.
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.