mein STAND.PUNKT
Wenn der Papst träumt...
Der Theologe Jan-Heiner Tück über "Querida Amazonia"
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Wenn der Papst träumt...
Der Theologe Jan-Heiner Tück über "Querida Amazonia"
Ein STAND.PUNKT von Prof. Jan-Heiner Tück
Mit Spannung ist es erwartet worden. Jetzt ist es da. Das postsynodale Schreiben von Papst Franziskus. Es trägt den ungewöhnlichen Titel "Querida Amazonia – Geliebtes Amazonien" und umfasst 51 Seiten. Das Dokument ist eine Überraschung. Man ist bei Franziskus gewohnt, an die Peripherien des Textes zu gehen und die Fußnoten aufmerksam zu lesen. So war es im Schreiben "Amoris laetitia" (2016), wo im Nachgang zur Familiensynode geradezu versteckt in Anmerkung 351 eine pastoral flexiblere Praxis mit wiederverheirateten Geschiedenen angedeutet wurde. Wie ist es jetzt? Der Papst hat entschieden, nicht zu entscheiden. Keine Lockerung des Pflichtzölibats, keine viri probati, nichts. Er lehnt den Abschlussbericht der Amazonien-Synode in diesem Punkt nicht ab, er befürwortet ihn aber auch nicht. Franziskus hält damit Wort – und enttäuscht.
Er hält Wort, dass mit ihm ein "optionaler Zölibat" nicht zu haben ist, dass er das Wort von Papst Paul VI. "mutig" findet, eher sterben zu wollen als den Pflichtzölibat zu lockern. Er enttäuscht, weil er – anders als die Mehrheit der Synodalen – nicht einmal in entlegenen Grenzregionen eine behutsame Ausnahme vom Pflichtzölibat zulässt. Viele werden fragen: Wozu die freundliche Aufforderung an die Bischöfe, ihm "mutige Vorschläge" zu unterbreiten? Wozu der erhebliche Aufwand einer dreiwöchigen Synode in Rom, wenn am Ende alles beim Alten bleibt?
Zum Themenschwerpunkt "Querida Amazonia"
Aber bleibt wirklich alles beim Alten, nur weil Franziskus den Alarmismus mancher Theologen und Bischöfe, dass die Kirche nach der Amazonien-Synode nichts mehr so sein könne wie vorher, ins Leere laufen lässt? Vielleicht hält er die Zeit für eine Entscheidung noch nicht gekommen. Vielleicht fühlt er sich seinem Vorgänger Benedikt XVI. doch enger verbunden als man meinte. Vielleicht will er den eurozentrischen Blick irritieren und auf das geschundene Antlitz der Kirche Amazoniens verweisen. Vielleicht. Der Papst ent-täuscht. Er bedient nicht die Reform-Agenden des Synodalen Weges in Deutschland und anderer Initiativen. In dieser provozierenden Weigerung dürfte das Bemühen stehen, den Begriff der Reform zu weiten. Schon in seinem "Brief an das pilgernde Gottesvolk in Deutschland" vom Juni 2019 erinnerte der Papst an sein Kernanliegen: die Evangelisierung. Das hat man nicht ganz so gern gehört und eine spirituelle Immunisierungsstrategie gewittert. Wie lässt sich die Freude des Anfangs wiederfinden? Wo sind die Quellen, die unter dem Schutt neu freizulegen wären? Aber braucht es für die Evangelisierung nicht neue Formen des Kircheseins?
Der Papst träumt. Er stellt Visionen vor. Sein Schreiben sprengt den Stil päpstlicher Verlautbarungen – mehr noch als sein Schreiben Evangelii Gaudium (2013) oder seine Umwelt-Enzyklika Laudato Si (2015). Franziskus hat vier Träume:
- einen sozialen, der die Rechte der Armen stärken will;
- einen kulturellen, der die Traditionen der indigenen Völker wahren will;
- einen ökologischen, der die Vielfalt der Natur als Schöpfung Gottes schützen will, statt sie ungezügelten ökonomischen Interessen auszuliefern. Sein Traum von einer Kirche Amazoniens mit eigenem Antlitz umfasst
- neben einem Ritus für die Region auch die Hoffnung auf eine lebendige Weitergabe des Glaubens durch engagierte Frauen und Männer, Laien und Kleriker. Franziskus wünscht sich mehr ständige Diakone und warnt zugleich vor einer funktionalistischen Engführung und einer "Klerikalisierung der Frauen".
Prof. Jan-Heiner Tück, Universität Wien
Zugleich bedauert der Papst die partielle Verquickung von kirchlicher Mission und Kolonialismus. Aus dieser selbstkritischen Besinnung bezieht er die Kraft zum solidarischen Einsatz an der Seite der Armen heute. Nebenbei formuliert er eine scharfe Absage an einen Eifer für das Heilige, der die indigene Kultur mit Verachtung behandelt. Die Bilderstürmerei während der Synode – ein Aktivist hatte indigene Statuen im Tiber versenkt – findet damit einen pontifikalen Kommentar, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglässt.
Ein Letztes: Statt dogmatischer Weisungen oder disziplinarischer Regelungen, die man von einem Papst erwarten würde, zitiert Franziskus Gedichte. Indigene und lateinamerikanische Stimmen der Literatur lässt er die bedrohte Schönheit Amazoniens poetisch ins Wort bringen. Darunter Lyrikerinnen, aber auch Pablo Neruda und Mario Vargas Llosa. Durch die Poesie unterbricht und entautomatisiert Franziskus eingeschliffene Leseweisen. «Die Dichter sind kontemplativ und prophetisch, sie helfen uns vom technokratischen und konsumistischen Paradigma zu befreien.» Die extensive Einbeziehung der Dichtung ins Genre des lehramtlichen Sprechens ist neu. Der Papst will offensichtlich die Wahrnehmung für die Leiden schärfen, den Blick auf das Übersehene lenken, zur Umkehr einladen. Gläubige und Suchende, Fromme und Agnostiker – alle! Er gibt der Not einer ökologisch bedrängten, wirtschaftlich ausgebeuteten, sozial missachteten Bevölkerung seine Stimme. Es ist die Stimme des Papstes. Wer hätte hier Ohren dafür? Der Text ist schwach, der Text ist stark.
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
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