Missbrauchsdebatte
Vom Reden ins Handeln kommen
Missbrauchsdebatte
Vom Reden ins Handeln kommen
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
"De profundis"
Die Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens hat in den Medien ein vielfältiges Echo gefunden. Nicht nur Bischöfe und Generalvikare, auch der Papa emeritus stehen in der Kritik, Sexualdelikte an Kindern und Jugendlichen vertuscht zu haben. Zu lückenloser Aufarbeitung, unbürokratischer Entschädigung und effizienter Prävention gibt es keine Alternative. Könnte darüber hinaus die Einführung eines liturgischen Gedenktages der Buße helfen, das Leid der Betroffenen gegenwärtig zu halten und die Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu verstetigen?
Der Skandal um Delikte sexueller Gewalt in der katholischen Kirche hat eine neue Stufe erreicht. Nicht nur Bischöfe und Kardinäle, der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Er steht als Symbolfigur der Vertuschungskirche da. Juristen, die das Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising erstellt haben, werfen ihm indirekt vor, gelogen zu haben.
Näher geht es um eine Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980, bei der die Causa des pädophilen Priesters Peter H. behandelt wurde, von dem es damals allerdings nur hieß, dass eine "Gefährdung" von ihm ausgehe. Benedikt selbst hat zunächst versichert, an der Sitzung nicht teilgenommen zu haben – eine Aussage, die im Widerspruch zum Sitzungsprotokoll steht. Dieses führt unter den Anwesenden auch den damaligen Münchner Kardinal Joseph Ratzinger (1977-1982) auf, der über die Beerdigung des Berliner Kardinals Bengsch sowie über Dialogbemühungen im Fall Hans Küng berichtet habe. Es stand Aussage gegen Aussage. Falschaussage, Erinnerungslücke oder fehlerhaftes Protokoll – so lauteten die Deutungsmöglichkeiten, um den Widerspruch aufzulösen.
Ein Skandal auf drei Ebenen
Nun hat Benedikt am Montag seine Darstellung revidiert und eingeräumt, er habe doch an der Sitzung teilgenommen. Die missliche Kommunikationspanne erklärt er so, dass bei der Endredaktion seiner Stellungnahme versehentlich ein Fehler passiert sei, der ihm sehr leid tue und den er in Bälde aufzuklären gedenke. Bei der besagten Ordinariatssitzung aber, so betont er schon jetzt, sei es nicht um eine Versetzung des Priesters H. in den seelsorglichen Dienst der Erzdiözese München und Freising gegangen, sondern um die Ermöglichung einer therapeutischen Maßnahme.
Der Skandal selbst hat mehrere Ebenen. Die erste ist, dass Kleriker und kirchliche Bedienstete sich an Kindern und Jugendlichen vergriffen haben. Sie haben ihre Position als Geistliche ausgenutzt, um Schutzbefohlene zu missbrauchen. Gewiss, auch in Familien, Sportvereinen, Internaten und Heimen sind Delikte von sexuellem Kindesmissbrauch geschehen. Aber die Fallhöhe ist entschieden größer, wenn Priester oder kirchliche Bedienstete, die ja Multiplikatoren des Evangeliums sind und für die moralischen Überzeugungen der Kirche einstehen, sich an Schutzbefohlenen vergehen. Jesus, der für Kinder die höchste Wertschätzung hatte, spricht eine klare Sprache: "Wer eines dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde." (Mt 18,6)
Nun, wo die Mauer gefallen ist und die Verbrechen aktenkundig auf dem Tisch liegen, stehen die episkopalen Würdenträger einmal mehr in der Verantwortung – und die Irritationen unter Gläubigen, aber auch in der säkularen Gesellschaft wachsen, dass kaum ein Bischof bereit ist, persönliche Konsequenzen zu ziehen.
Die zweite Stufe des Skandals ist, dass Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortliche in den Diözesen die kriminellen Delikte jahrzehntelang systemisch vertuscht haben. Sie haben Kleriker, die sich vergangen haben, in andere Pfarreien versetzt, ohne das neue Umfeld zu informieren. Täterschutz war ihnen wichtiger als Opferschutz, der Ruf der Kirche galt mehr als das Leid der Betroffenen. Die systemische Vertuschung ist eine Folge von Klerikalismus und kaltherzigem Institutionenschutz, von Defiziten im kirchlichen Strafrecht, Mängeln in der Aktenführung und einer falsch verstandenen Theologie der Barmherzigkeit, die Milde mit den Tätern walten lässt, ohne sich um Gerechtigkeit für die Opfer zu kümmern.
Wachsende Ungeduld bei Gläubigen und in der Gesellschaft
Sicher hat es über die Amtsträger hinaus in manchen Fällen auch Gläubige gegeben, die etwas geahnt oder gewusst haben, ohne die Delikte zur Anzeige zu bringen. Umgekehrt aber hat es tragische Fälle gegeben, wo dem Zeugnis der Opfer nicht geglaubt wurde, weil Sexualdelikte durch Priester einfach jenseits der Vorstellungen waren oder schlicht abgestritten wurden. Betroffene mussten hinter der Mauer des Schweigens mit ihrem Trauma allein zurande kommen – mit biografisch oft ruinösen Folgen! Nun, wo die Mauer gefallen ist und die Verbrechen aktenkundig auf dem Tisch liegen, stehen die episkopalen Würdenträger einmal mehr in der Verantwortung – und die Irritationen unter Gläubigen, aber auch in der säkularen Gesellschaft wachsen, dass kaum ein Bischof bereit ist, persönliche Konsequenzen zu ziehen – und falls doch, Rücktrittsangebote durch Papst Franziskus abgelehnt werden.
Dabei ist klar, dass es in den letzten fünfzig Jahren erhebliche Verschiebungen im kulturellen Wissen gegeben hat. Noch Mitte der 1980er-Jahre votierten Parteiprogramme der Grünen ganz offen für die Entkriminalisierung praktizierter Pädophilie. Dieses Votum ist inzwischen durch die Partei klar und deutlich korrigiert worden. Das zeigt, dass das Sensorium für sexuelle Gewalt an Minderjährigen gestiegen ist, auch weiß man heute um die anhaltende Traumatisierung von Missbrauchsopfern, die gravierenden psychischen Folgen. Der Hinweis auf diese Verschiebungen im kulturellen Wissen ist für eine differenzierte Lageeinschätzung wichtig, auch wenn er nicht als generelles Entlastungsargument angeführt werden kann.
Die Solidarität mit den Geschädigten von sexuellem Missbrauch gilt unbedingt und immer.
Die Solidarität mit den Geschädigten von sexuellem Missbrauch gilt unbedingt und immer. Das knapp 1.900 Seiten umfassende Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westphal Spilker Wastl listet für den Zeitraum von 1945 bis 2019 nun 497 Delikte in der Erzdiözese München und Freising auf. Über das detailliert aufgearbeitete Aktenmaterial hinaus werden Zeugenaussagen von Betroffenen einbezogen, um das Bild zu vervollständigen.
Hier kommt die dritte Stufe des Skandals ins Spiel. Den Kardinälen Joseph Ratzinger, Friedrich Wetter und Reinhard Marx sowie ihren Vorgängern wird vorgehalten, Aufsichtspflichten verletzt und sexuellen Missbrauch begünstigt zu haben. Kardinal Marx war bei der Präsentation des Missbrauchsgutachtens abwesend. Der leere Stuhl stand in sichtbarem Kontrast zum Andrang der Betroffenen, die teils von weither angereist waren. Freilich hat sich der Kardinal, der im Dezember 2020 sein Privatvermögen für eine Stiftung zugunsten Betroffener eingesetzt hat, in einer knappen Presseerklärung anschließend entschuldigt und erneut persönliche und systemische Versäumnisse eingestanden.
Benedikts Verdienste um die Missbrauchsaufarbeitung
Der emeritierte Papst Benedikt hatte bereits im Vorfeld in einer umfangreichen Stellungnahme seine persönliche Mitverantwortung an allen Fällen, die ihm im Gutachten angelastet werden, zurückgewiesen. Sicher hat er dabei externe Hilfe beigezogen. Das haben viele als blanke Apologetik kritisiert. Seine Stellungnahme steht in der Tat in einer gewissen Spannung zu den Verdiensten, die Kardinal Ratzinger in Sachen Missbrauchsaufarbeitung erworben hat.
So ist er als Präfekt der Glaubenskongregation (1982-2005) während des Pontifikats von Johannes Paul II. für einen Paradigmenwechsel vom Täter- zum Opferschutz eingetreten. Er wurde vom inzwischen heiliggesprochenen Pontifex, aber auch vom damaligen Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano ausgebremst. In seinem Kreuzweg im römischen Kolosseum hat er im Jahr 2005 vom "beschmutzten Gewand und Gesicht der Kirche" gesprochen und andernorts beklagt, die eigentlichen Feinde der Kirche kämen nicht von außen, sondern von innen.
Als erster Papst überhaupt hat Benedikt sich mit Geschädigten sexuellen Missbrauchs getroffen. Auch jetzt hat der Emeritus Scham und Entsetzen über das zum Himmel schreiende Unrecht geäußert.
Als Papst hat Benedikt XVI. (2005-2013) den Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel, der unter seinem Vorgänger Johannes Paul II. quasi Immunität genoss, seiner kriminellen Machenschaften überführt und kirchenrechtlich geahndet. Das Reglement gegen Missbrauchstäter hat er durch eine Reform des Motu proprio "Sacramentorum Sanctitatis Tutela" noch einmal deutlich verschärft und hunderte straffällig gewordene Priester und vereinzelt selbst Bischöfe vom Dienst suspendiert. Als erster Papst überhaupt hat Benedikt sich mit Geschädigten sexuellen Missbrauchs getroffen. Ein Opfer aus Malta hat nach einer solchen Begegnung geäußert: "Der Papst hat zusammen mit mir geweint, obwohl er keine Schuld hat an dem, was mir zugestoßen ist." Auch jetzt hat der Emeritus Scham und Entsetzen über das zum Himmel schreiende Unrecht geäußert und den Opfern und ihren Angehörigen seine Gebete zugesichert.
Prof. Jan-Heiner Tück, Universität Wien
Dennoch weist er in seinem 82-seitigen Papier die Fehler, die ihm das Gutachten in vier Fällen bescheinigt, zurück. Das Recht der persönlichen Stellungnahme steht ihm natürlich zu, auch das Münchner Missbrauchsgutachten könnte bei aller akribischen Recherche perspektivisch gefärbt oder punktuell fehlerhaft sein. Benedikt begrüßt ausdrücklich den "tiefen Gesinnungswandel", der mit Blick auf sexuellen Missbrauch in der Kirche stattgefunden hat, und legt für seine Amtszeit als Erzbischof von München die Bestimmungen des CIC von 1917 zugrunde. Nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet er die Fragen der Gutachter.
Hat jemand Benedikt die Feder geführt?
Dennoch bleibt Unverständnis. Benedikts Hinweis auf S. 66, exhibitionistische Akte "vor" Kindern seien bei aller Verwerflichkeit juristisch anders zu bewerten als sexuelle Handlungen "mit" Kindern, mag kirchenjuristisch belangvoll sein. Er erweckt den problematischen Eindruck, die schockierenden Vorkommnisse sollten so relativiert werden.
Reicht es in der Stunde einer so massiven Krise aus, sich auf Angaben zur persönlichen Rechtfertigung zu beschränken? Müsste hier nicht deutlicher auch die Mitverantwortung für das systemische Versagen der Kirche übernommen werden?
Es fehlt die Empathie mit den Betroffenen und ihren Angehörigen, wie sie in Malta sichtbar geworden war. Hat ihm da jemand die Feder geführt? Grundsätzlicher aber stellt sich die Frage: Reicht es in der Stunde einer so massiven Krise aus, sich auf Angaben zur persönlichen Rechtfertigung zu beschränken? Müsste hier nicht deutlicher auch die Mitverantwortung für das systemische Versagen der Kirche übernommen werden?
Die anschwellende Empörung in der Gesellschaft ist so groß, die schleichende Abkehr vieler Katholiken von der Kirche so dramatisch, dass man einen Akt der öffentlichen Buße und Trauer fordern könnte. Manche Könige und Propheten Israels haben ihre Gewänder zerrissen – als Zeichen der Trauer und der Buße. Sie haben so ihrer inneren Erschütterung sichtbaren Ausdruck gegeben (vgl. 2 Sam 1,11; 2 Kön 22,8-13; Joel 2,13) – auch wenn eine solche Geste heute nicht einfach imitierbar ist und zu theatralisch wirken würde, gäbe es gewiss symbolische Zeichenhandlungen, die sprechender wären als Worte. Die Betroffenheitsbekundungen vieler Bischöfe wirken inzwischen abgenutzt.
Vorschlag eines Gedenktages der Buße
Der Theologe Joseph Ratzinger aber hat für Fragen der Liturgie stets ein waches Sensorium gehabt. In kreativer Fortschreibung zu den Großen Vergebungsbitten im Jahr 2000 könnte er Papst Franziskus bitten, einen Gedenktag der Buße im liturgischen Kalender einzuführen. Hier könnte die Reue (contritio), das öffentlichen Bekenntnis (confessio), aber auch die Selbstverpflichtung zu praktischen Maßnahmen der Wiedergutmachung (satisfactio) in das lebendige Gedächtnis der Kirche dauerhaft eingeschrieben werden. Dabei müsste darauf geachtet werden, dass die Differenz zwischen Tätern und Opfern nicht eingeebnet wird.
Ein Ende der Negativ-Schlagzeilen in Deutschland ist vorerst noch nicht in Sicht. Von den 27 Bistümern sind längst noch nicht alle ausgeleuchtet. Eine überdiözesane Abstimmung und ein schnelles einheitliches Vorgehen wären aber für die Katholische Kirche in Deutschland dringlich, um zu vermeiden, dass nun immer neue Erschütterungswellen über das Land hereinbrechen.
In kreativer Fortschreibung zu den Großen Vergebungsbitten im Jahr 2000 könnte Joseph Ratzinger Papst Franziskus bitten, einen Gedenktag der Buße im liturgischen Kalender einzuführen.
Die Bischöfe in Österreich sind mit der Einrichtung der unabhängigen Klasnic-Kommission, die mit gesellschaftlich anerkannten Experten besetzt ist, einen deutlich besseren Weg gegangen. Bei aller Krisenstimmung, die durch laute Stimmen einer kirchlichen Insolvenz- und Untergangsrhetorik noch gesteigert wird, ist nicht zu übersehen, dass bereits Entscheidendes auf den Weg gebracht wurde, was auch das Münchner Gutachten ausdrücklich anerkennt.
Blick auf die Betroffenen
Die Bemühungen um rückhaltlose Aufklärung, unbürokratische Entschädigung und seelsorgliche Zuwendung sowie nachhaltige Prävention müssen weitergehen. Sie können auch für andere Institutionen der Gesellschaft Vorbild sein. Dabei gilt es entschieden den Blick auf die wahren Verlierer der Misere zu lenken, die Betroffenen mit ihren Traumata. Eine Kirche, die sich gegenüber den Stimmen der Opfer taub stellte, würde letztlich Christus, ihren Herrn, verraten, der sich mit den Schwachen und Leidenden rückhaltlos identifiziert hat (vgl. Mt 25,31-46). Mitbetroffen sind schließlich auch die vielen Gläubigen und engagierten Priester, die tagtäglich versuchen, dem Evangelium in den pluralen und oft zerklüfteten Lebenswelten heute ein ansprechendes Gesicht zu geben.
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.