Ein Schweigen, das zum Himmel schreit
Über politische Rhetorik in Kriegszeiten
Ein Schweigen, das zum Himmel schreit
Über politische Rhetorik in Kriegszeiten
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
Am Mittwoch, 16. März, ist es zu einer Detonation der politischen Rhetorik gekommen, deren Ausmaß noch kaum angemessen registriert worden ist. Wladimir Putin hat in einer 37-minütigen Ansprache zum russischen Krieg in der Ukraine Stellung genommen. Dabei hat er sprachliche Anleihen aus Hitlers Programmschrift "Mein Kampf" gemacht. Prowestliche Russen hat er als "Volksverräter" bezeichnet und eine "Selbstreinigung" der Gesellschaft angemahnt. Vor allem hat er ein Tabu gebrochen und affirmativ ein Unwort benutzt, das euphemistisch die Verbrechen der Nazis an den europäischen Juden verschleiern sollte: "Endlösung".
Dieses Wort ist auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 geprägt worden, wo man organisatorische Maßnahmen zur Deportation und Vernichtung der europäischen Juden beschlossen hat. Der aus Czernowitz stammende Dichter Paul Celan, der in seinen Gedichten den unbestatteten Toten der Shoah einen Erinnerungsort in der Sprache geben wollte, hat in seiner Meridian-Rede den 20. Jänner als das Datum bezeichnet, dessen man eingedenk bleiben müsse. Nun wird das mit diesem Datum verknüpfte Unwort der "Endlösung" von Präsident Putin aufgegriffen, um zu unterstreichen, dass er die "ukrainische Frage" notfalls mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln lösen werde. Ob hier auch die Androhung, bei einer Intervention des Westens atomare Waffen zum Einsatz zu bringen, mitzuhören ist?
Zwar geht es Putin nicht um rassische "Reinigung" der russischen Bevölkerung, aber die gezielte Verächtlichmachung von politisch Andersdenkenden und Kriegsgegnern zu "Fliegen" und Ungeziefer erinnert an die Sprachpraktiken des Nationalsozialismus.
Putin begeht einen performativen Selbstwiderspruch. Er gibt vor, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen. Gleichzeitig wählt er Versatzstücke aus dem NS-Vokabular, um die ideologische Homogenisierung der russischen Gesellschaft sicher zu stellen. Dabei führt er im Sinne der politischen Theorie von Carl Schmitt Freund-Feind-Unterscheidungen ein und setzt diese brachial durch. Es gelte, zwischen "echten Patrioten" hier und "Lumpen" und "Verrätern" dort zu unterscheiden. Letztere müssen man ausspucken "wie eine zufällig in den Mund geflogene Fliege". Eine "solche natürliche und nötige Selbstreinigung der Gesellschaft" könne das Land nur stärken.
Zwar geht es Putin nicht um rassische "Reinigung" der russischen Bevölkerung, aber die gezielte Verächtlichmachung von politisch Andersdenkenden und Kriegsgegnern zu "Fliegen" und Ungeziefer erinnert an die Sprachpraktiken des Nationalsozialismus. Der Entwürdigungsrhetorik folgen schnell entsprechende Handlungen. Die Rede des Präsidenten ist für den Sicherheitsapparat und die russischen Geheimdienste ein Freibrief, Dissidenten aufzuspüren und zu verhaften. Schon werden Wohnungstüren Oppositioneller beschmiert und vermehrt Strafverfahren eingeleitet.
Putins Absicht, ein Land "entnazifizieren" zu wollen, das von einem Präsidenten jüdischer Herkunft regiert wird, der Vorfahren in den Lagern der Nazis verloren hat, ist absurd. Gewiss, es hat in der Ukraine nationalistische Kräfte gegeben - und es mag sie als Minorität immer noch geben, aber diese hat auf die Politik des Landes keinen oder allenfalls äußert geringen Einfluss. Hinzu kommt, dass beim Vormarsch der russischen Truppen auf Kiew die Gedenkstätte Babyn Jar durch Bomben beschädigt wurde. In der Schlucht von Babyn Jar wurden am 28. und 29. September 1941 durch ein SS-Sonderkommando unter Mitwirkung ukrainischer Hilfspolizisten 33.771 Juden, Männer, Frauen, Kinder und Greise, erschossen. Selbst wenn die Gedenkstätte durch die russische Invasion zerstört würde, bliebe die Erinnerung an das Massaker bewahrt.
Gegen die Eskalation der politischen Sprache, ideologische Gleichschaltung und Freund-Feind-Unterscheidungen müsste auch die Kirche laut ihre Stimme erheben. Das Moskauer Patriarchat aber schweigt - und dieses Schweigen schreit zum Himmel.
Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko hat 1961 dem Ort ein Gedicht gewidmet, das Paul Celan übersetzt hat: "Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / Ein schroffer Hang - der eine unbehauene Grabstein." Der Komponist Dimitri Schostakowitsch hat dieses Gedicht 1962 im Adagio seiner 13. Symphonie in b-moll vertont und dadurch auch ein Zeichen gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion gesetzt. (Interessant ist, dass der russische Dirigent Valery Gergiev diese Symphonie im Petersburger Marinsky-Theater aufgeführt hat – eine Aufnahme, die 2021 zum 80-Jahr-Gedenken von Babyn Yar auf YouTube eingestellt wurde. Lapidar steht seit kurzem ein Kommentar darunter: "Gergiev’s friend Vladmir Putin attacked Babi Yar.")
Auch heute gibt es Akte des politischen Widerstands in Literatur, Kunst und Musik, welche die Würde des Menschen und seine Freiheitsrechte mutig verteidigen. Gegen die Eskalation der politischen Sprache, ideologische Gleichschaltung und Freund-Feind-Unterscheidungen müsste auch die Kirche laut ihre Stimme erheben. Das Moskauer Patriarchat aber schweigt - und dieses Schweigen schreit zum Himmel.
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.