Gedenken an die Novemberpogrome
Wiederkehr des Verdrängten
Gedenken an die Novemberpogrome
Wiederkehr des Verdrängten
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
Am Vorabend des Gedenkens an die Reichspogromnacht lesen wir im Psalm: "O Gott, erlöse Israel / aus all seinen Nöten!" (Ps 25,22) Wenig später erreicht uns die Nachricht, dass im Wiener Bezirk Alsergrund, in dem wir mit unseren Kindern acht Jahr gelebt haben, Geschäftslokale, Türen und Autos mit roten Hakenkreuzen beschmiert worden sind. Auf wessen Konto die antijüdischen Hass-Attacken gehen, ist polizeilich noch nicht ermittelt. Ein jüdischer Freund, der Kippa trägt, fühlt sich auf den Straßen in Wien nicht mehr sicher.
Dabei war gerade im 9. Bezirk das intellektuelle jüdische Leben bis in die 1930er Jahre besonders vital. In der Berggasse haben Theodor Herzl, der Wegbereiter des Zionismus, und Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, gewohnt. Im Gymnasium Wasagasse sind die Schriftsteller Stefan Zweig und Friedrich Torberg zur Schule gegangen. Hermann Broch, der Verfasser der Schlafwandler-Trilogie, hat zeitweise in der Peregringasse gelebt, der spätere Logo-Therapeut Viktor Frankl ist aus seiner Wohnung im 9. Bezirk vertrieben und nach Auschwitz deportiert worden.
Prof. Jan-Heiner Tück, Universität Wien
Aber nach dem "Anschluss Österreichs" an Hitler-Deutschland im März 1938 ist die Präsenz jüdischen Lebens in wenigen Wochen durch willige Vollstrecker ausgelöscht worden. Allein im 9. Bezirk sind 6.910 Juden – Kinder, Alte, Männer und Frauen – deportiert worden. Erst in den vergangenen Jahren sind "Steine der Erinnerung" mit Namen und Daten der jüdischen Opfer vor einigen Häusern in die Gehsteige eingelassen worden. An der Servitenkirche gibt es das Gedenksymbol "Schlüssel gegen das Vergessen". Eine Glasvitrine gibt den Blick frei auf 462 mit Namen versehene Wohnungsschlüssel, um an die Juden zu erinnern, die allein aus der Servitengasse vertrieben wurden.
Für mich, der in diesem Viertel viele Jahre lang zu Fuß unterwegs war, sind die Spuren, die an Auslöschung jüdischen Lebens erinnern, schmerzliche Gegenwart und Mahnung zugleich.
Jetzt aber bestätigen die roten Hakenkreuz-Schmierereien im Alsergrund Hitlers Vernichtungswahn. Für das Unvorstellbare, was gerade geschieht, hätte Sigmund Freud einen Begriff gehabt: Wiederkehr des Verdrängten. Der latente Judenhass, der in Teilen der österreichischen Gesellschaft bis heute schwelt, tritt offen hervor – die Fratze des Antisemitismus, die sich nur unter einem Tuch verhüllt hat, zeigt sich ohne Scham auf der Straße. Aber auch unter unseren muslimischen Nachbarn und manchen Migranten, die gerade erst zu uns gekommen sind, gibt es welche, die demonstrativ mit dem eliminatorischen Judenhass der Hamas sympathisieren und deren terroristischen Gräueltaten als Ausdruck eines Freiheitskampfes glorifizieren.
Wir hätten es wissen können, ein paar mutige Stimmen haben vor dem Import des Antisemitismus gewarnt, aber wir sind wie Schlafwandler unterwegs gewesen, die nichts hören, nichts wissen wollten – auch, um den Rechten kein Wasser auf die Mühlen zu geben. Nun gibt es ein böses Erwachen. "Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit", hat Elie Wiesel geschrieben. Das muss uns aufrütteln. Erst vor wenigen Tagen wurde der jüdische Friedhof in Wien Ziel eines Brandanschlags und ebenfalls mit Hakenkreuzen geschändet.
Der Dichter Paul Celan hat in der Todesfuge den unbestatteten Juden der Shoah ein Denkmal gesetzt: " …dann steigt ihr als Rauch in die Luft, / dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng." Nun sind auch die bestatteten Namen besudelt worden, als hätten sie hier keinen Ort. Unsere Solidarität mit den Juden heute ist jetzt gefragt.: "O Gott, erlöse Israel / aus all seinen Nöten."
Zum Autor:
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.