Von Heiligen und Toten
Zur theologischen Bedeutung von Allerheiligen und Allerseelen
Von Heiligen und Toten
Zur theologischen Bedeutung von Allerheiligen und Allerseelen
Ein STAND.PUNKT von Jan-Heiner Tück
Allerheiligen ist ein Datum, in dem sich die kirchliche Gedenkkultur zusammenballt und verdichtet. Das Fest gilt allen Märtyrern und Heiligen auf einmal. Schon im 4. Jahrhundert ist in der Ostkirche die Zahl der Vorbilder im Glauben offensichtlich so groß geworden, dass die Tage im kirchlichen Kalender nicht mehr ausreichten, ihrer einzeln zu gedenken. Das Fest Allerheiligen ruft also, um es mit einer musikalischen Metapher zu sagen, nicht besondere Solisten, sondern den polyphonen Chor der Märtyrer und Heiligen auf. Die Kirche geht davon aus, dass den Menschen auf der anderen Seite des Todes nicht das Nichts, sondern die wahre Fülle des Lebens erwartet. Das Beste kommt erst noch – und die Heiligen haben schon jetzt an dem Anteil, wofür wir keine Begriffe, sondern allenfalls Ahnungen und Bilder haben.
Seit dem Mittelalter wird Allerheiligen in der lateinischen Westkirche am 1. November begangen. Es setzt so zur herbstlichen Stimmung einen österlichen Kontrapunkt. Inmitten der vergilbten Blätter und entlaubten Bäume, die uns an die Vergänglichkeit des Lebens erinnern, reißt Allerheiligen einen eschatologischen Horizont auf, der die Immanenz von Welt und Geschichte übersteigt.
Die Zahl der Heilig- und Seligsprechungen ist zuletzt unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. (1978-2005) exponentiell gestiegen. Der polnische Papst wollte durch eine Vielzahl von Kanonisierungen den Ortskirchen lokale oder regionale Vorbilder des Glaubens vor Augen stellen. Er betrachtete die Heilig- und Seligsprechungen als Instrument der Evangelisierung. Man mag das kritisieren und überhaupt ein Fragezeichen hinter die Praxis der Heiligsprechungen setzen. Begeht die katholische Kirche nicht eine Kompetenzüberschreitung, wenn sie Menschen kanonisiert und das Gericht Gottes kühn vorwegnimmt?
Zeitgemäße Heilige in pluralen Lebenswelten
Umgekehrt, und das haben gerade auch Protestanten wie Walter Nigg gewürdigt, zeigen die Biografien der Heiligen die faktische Pluralität von Berufungen und Nachfolgeformen. In unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten haben ganz unterschiedliche Menschen dem Evangelium glaubwürdig Gesicht und Stimme verliehen. Gerade in den pluralen Lebenswelten der Moderne kann diese Vielfalt an Exempeln orientierende Kraft entfalten und zeigen, dass das Wort Gottes beeindruckende Kommentare im Lebenszeugnis von Menschen gefunden hat.
Das II. Vatikanische Konzil hat in seiner Lehre über die Kirche von der "allgemeinen Berufung zur Heiligkeit" gesprochen. Das klingt nach frommer Diktion, aber darin steckt nichts weniger als eine Demokratisierung des Heiligkeitsbegriffs. Alle Gläubige sind eingeladen, ihren Lebensstil am Evangelium auszurichten, dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu folgen und eine Kultur der Vergebung zu üben, die den lästigen Nachbarn eben nicht auf seine Fehler fixiert.
Heiligkeit ist ein Appell an alle und eben kein Elite-Programm für Virtuosen der Frömmigkeit.
Der kaum ausgeschöpfte Reformimpuls des Konzils – das "gemeinsame Priestertum aller Gläubigen" – meint in diesem Zusammenhang primär nicht eine Erweiterung der Mitspracherechte von Laien gegenüber Klerikern, wie in kirchlichen Reformdiskursen oft zu hören ist. Vielmehr geht es darum, dass jedem Christen, jeder Christin durch Taufe und Firmung ein unverlierbares Charisma mitgegeben ist, dem Evangelium ein ansprechendes und auch unverwechselbares Gesicht zu geben. Das ist in den ausdifferenzierten Berufs- und komplexer werdenden Lebenswelten heute allemal wichtig, wenn die Prägekraft des Glaubens nicht weiter erodieren soll. Heiligkeit ist ein Appell an alle und eben kein Elite-Programm für Virtuosen der Frömmigkeit.
Der These, dass der Katholizismus durch die Heiligenverehrung den Polytheismus der Antike beerbt habe, ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass den Heiligen in der Volksfrömmigkeit unterschiedliche Ressorts zugesprochen werden, für die sie zuständig sind. Zwischen Gott, dessen Heiligkeit und Transzendenz stark empfunden wurde, und den Menschen in ihrem Alltag wurde mit den Heiligen eine Zwischen- und Vermittlungsinstanz eingeschoben. Der hl. Blasius war für Halskrankheiten zuständig, der hl. Sebastian wurde gegen die Pest angerufen und der hl. Antonius wurde immer dann angefleht, wenn etwas verloren gegangen war. Verfehlt aber ist es, die Heiligen zu Göttern oder Halbgöttern zu stilisieren. Es handelt sich um einfache Menschen, an deren Leben und Wirken bei allen Fehlern und Schwächen etwas von der Heiligkeit Gottes selbst aufleuchtet.
Um die Heiligenverehrung nicht als Menschenvergötzung misszuverstehen, gilt es, eine theologische Differenz in Erinnerung zu rufen, die bereits das II. Konzil von Nicaea im Jahr 787 eingeführt hat: Gott allein wird angebetet (adoratio), die Heiligen werden lediglich verehrt (veneratio). Auch wird die Einzigkeit der Heilsmittlerschaft Jesu Christi nicht angetastet. Die Heiligen sind Vermittlungen zum Mittler, nicht dieser selbst!
In der lateinischen Westkirche ist um das Jahr 1000 das Fest Allerseelen dazugekommen. Abt Odilo von Cluny hat es zunächst für die Benediktinerklöster eingeführt, dann hat es sich nach und nach in der ganzen Kirche verbreitet. Allerseelen rückt das Gedenken der übrigen Verstorbenen ins Zentrum und wird am 2. November begangen.
Allerseelen erinnert daran, dass auch unser eigenes Leben unter dem Neigungswinkel der Sterblichkeit steht, und leitet so zu einer ars moriendi an.
Das Fest gibt dem Schmerz und der Trauer um den Verlust uns nahestehender Menschen ausdrücklich Raum. Es steht damit quer zur gesellschaftlichen Tabuisierung von Trauer und Tod. Zugleich setzt es eine Zäsur des dankbaren Gedenkens und rückt diejenigen in den Fokus, die unser Leben geprägt haben, nun aber nicht mehr unter uns sind. Damit erinnert Allerseelen daran, dass auch unser eigenes Leben unter dem Neigungswinkel der Sterblichkeit steht, und leitet so zu einer ars moriendi an. Kirche ist Erinnerungsgemeinschaft, die ihre Mitglieder nicht vergisst, sondern deren Namen im Gebet vor das lebensstiftende Gedächtnis Gottes trägt. Das wird auch in rituellen Praktiken deutlich. Man besucht die Gräber, segnet sie, hält inne und entzündet ein Licht, das die österliche Hoffnung symbolisiert.
Ein Leben und Tod umfassendes Fest
Gewiss, die Entstehung des Festes Allerseelen ist mit der Lehre vom Fegefeuer unlöslich verknüpft und theologisch belastet. In der Topografie des Jenseits gibt es nach Lehre der scholastischen Theologie neben Himmel und Hölle das Purgatorium – einen Ort, in dem sündenbeschwerte Seelen einen postmortalen Prozess der Reinigung durchlaufen. Durch gute Taten und vermehrte Gebete im Diesseits hoffte man das Leiden der Verstorbenen im Jenseits verkürzen zu können. Zu den bekannten Hypotheken der Kirchengeschichte zählt es, dass einzelne Bischöfe aus dem Fegefeuerglauben Kapital geschlagen haben.
Lässt man den fiskalischen Missbrauch und die Quantifizierung der Frömmigkeitspraktiken beiseite und schält den theologischen Sinngehalt des Festes Allerseelen heraus, wird man sagen können: Das Gebet für die Verstorbenen zeigt die anamnetische Solidarität der Lebenden mit den Toten. Das Purgatorium aber ist keine postmortale Strafanstalt, sondern der therapeutische Prozess, in dem eine vollendungsbedürftige Biografie in den Status der Vollendung geführt wird.
Die Feste Allerheiligen und Allerseelen machen deutlich, dass die Kirche als Communio sanctorum Lebende und Verstorbene umgreift.
Die Feste Allerheiligen und Allerseelen machen deutlich, dass die Kirche als Communio sanctorum Lebende und Verstorbene umgreift. Es gibt Spielformen zwischen irdischer und himmlischer Kirche, Praktiken des wechselseitigen Eintretens füreinander. Die Gläubigen, die als Pilger in dieser Weltzeit unterwegs sind, rufen die Namen der Heiligen um Schutz und Beistand an, schon in den ersten Jahrhunderten werden die Märtyrer als "Freunde Gottes" verehrt und fungieren als Fürsprecher; umgekehrt bleiben die Gläubigen mit denen, die ihnen im Glauben vorangegangen sind, im Gebet verbunden und empfehlen sie der lebensstiftenden memoria Dei.
"Aus Totenköpfen sollen Antlitze werden!", heißt es in Peter Handkes Stück Immer noch Sturm, in dem es um seine Vorfahren geht. Dieser Sehnsucht, dass die Lebensgeschichten der Verstorbenen nicht im Ozean des Nichts versinken, sondern verwandelt eingehen mögen in die Fülle des Lebens, gibt die christliche Memorialkultur Raum.
Wider eine Kultur der Amnesie
Die Kreuze auf den Friedhöfen sind daher keine lebensfeindlichen Symbole, sie erinnern an den österlichen Transitus vom Tod zum Leben, das keinen Tod mehr kennt. In jedem Gottesdienst, der in Wort und Sakrament an Passion und Auferstehung Jesu Christi erinnert, wird auch der Toten gedacht. Der anamnetische Kult steht daher, wie Johann Baptist Metz treffend notiert hat, gegen eine Kultur der Amnesie, die in den Fluten von Information selbst immer vergesslicher wird und das dankbare Gedenken verlernt, das uns mit denen verbindet, die uns vorangegangen sind.
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
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