Mit dem Rosenkranz
gegen Hitler?
Mit dem Rosenkranz
gegen Hitler?
Ein STAND.PUNKT von Prof. Dr. Rupert Klieber
Präambel
Die sogenannte Rosenkranzfeier im Wiener Stephansdom am 7. Oktober 1938 bildet ein zentrales Element für die historiographischen Analysen sowie die biographisch-anekdotischen Überlieferungen zum Schicksal und Agieren der katholischen Kirche während des NS-Regimes von 1938 bis 1945. Sie hat auch einen festen Platz in der Beurteilung von Erzbischof Theodor Innitzer (+1955). Insgesamt konzentriert sich die historische Aufarbeitung auf die sieben Monate von März bis Oktober 1938, während die folgende Zeit bis zum Frühjahr 1945 wenig Beachtung findet. Häufig folgt sie einem Duktus von "Sündenfall" (Anschluss-Erklärung der Bischöfe, rasche Akkommodation ans neue Regime), "Läuterung" (bewirkt durch NS-Schikanen, das gescheiterte Ringen um einen Modus vivendi), "Umkehr" und "Sühne" (Bekenntnis der Jugendfeier, Martyrium der Palais-Verwüstung).
Tatsächlich bietet die Zusammenschau des Bekannten und Neuen ein modifiziertes Bild zum Ereignis im Oktober 1938 in Wien, das sich aus sieben Mosaiksteinen zusammensetzt
Brisanz erhält das Ereignis nicht nur durch die kirchliche Entwicklung seit März 1938, sondern auch vom dramatischen gesamtpolitischen Kontext. Wenige Tage zuvor erlebt das Hitler-Regime mit dem Anschluss des Sudetenlandes einen neuen Triumph. Auf die Initiative des Wiener Erzbischofs Theodor Innitzer reagiert die katholische "Ostmark" darauf mit Dankgebeten und Glockengeläut. Ein bedeutender Teil des Welt- und Ordensklerus im gesamten Donauraum stammte aus den Sudetengebieten. Genau einen Monat nach dem Sturm eines NS-Mobs auf das bischöfliche Palais in Wien brennen in Wien 42 Synagogen und jüdische Bethäuser. Außer einem Protestbrief des steirischen Priestergelehrten und politischen Sonderlings Johannes Ude (+1965) ist kein kirchlicher Kommentar dazu überliefert.
Vorgeschichte, Abfolge und Konsequenzen des sogenannten Anschlusses Österreichs an Hitler-Deutschland sind gründlich erforscht. Auch die Reaktionen der katholischen Kirche haben (Kirchen-)Historiker wie Erika Weinzierl (+2014), Ernst Hanisch (*1940) und Liebmann (*1934) akribisch rekonstruiert. Zusätzliche Quellen sind dennoch für Überraschungen gut. So hat die Öffnung des Vatikanischen Archivs für die Bestände zum Pontifikat Pius XI. (1922-1939) neue Facetten des Geschehens ans Licht gebracht. Weitere Erkenntnisse sind vom Zugang zu den Beständen für Pius XII. (1939-1958) zu erwarten, der zur 80. Wiederkehr des Amtsantritts 2019 gewährt werden könnte. Tatsächlich bietet die Zusammenschau des Bekannten und Neuen ein modifiziertes Bild zum Ereignis im Oktober 1938 in Wien, das sich aus sieben Mosaiksteinen zusammensetzt:
Mosaikstein I:
Die Jugendfeier von 1938 folgte einem Modell von 1937
Die Feier von 1938 ist im engen Konnex zu einem Ereignis vom Jahr zuvor zu sehen. Die Erzdiözese Wien war 1937 darin vorgeprescht, die vielen separaten katholischen Jugendverbände (Reichsbund, Pfadfinder, Neuland-Jugend etc.) in eine gemeinsame Jugendsektion der Katholischen Aktion unter Aufsicht des Bischofs zu nötigen. Diese hatte am 4. Oktober 1937 ihre erste Heerschau in einem Diözesanjugendtag. Von 1.500 Führerinnen und Führern organisiert, marschierten 15.000 Jugendliche vom Rathausplatz über den Ballhausplatz zum bischöflichen Palais, wo Innitzer sie vom Fenster aus (!) begrüßte. Im Dom selbst fand eine hochemotionale Feier statt; die "gesamte Diözesanjugend weihte sich darin Christus dem König". In einer Versammlung im Musikverein sprach neben Bischof Innitzer und anderen Rednern auch Kanzler Kurt Schuschnigg zu den Jugendlichen. Die 7.000 jungen Leute, die sich im Oktober 1938 einfanden, hatten die Feier vom Vorjahr sicher nicht vergessen. Da sie wohl primär aus der Stadt stammten (s. Beginn 20 Uhr), wird zudem deutlich, dass ein erstaunlich großer Teil der Teilnehmer vom Vorjahr allen Umbrüchen zum Trotz kirchlich bei der Stange geblieben war.
1918 - 1938 - 2018Brückenschläge der Geschichte
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Mosaikstein II:
Die Jugendfeier als öffentliche Veranstaltung
Dem Mythos der konspirativen Veranstaltung ist entgegen zu halten, dass die offizielle Jugendfeier im Dom unter den gegebenen Umständen maximal bekanntgemacht wurde. Verordnungsblatt und zweihundert Plakate in den Pfarren wiesen darauf hin; zweimal wurde sie von den Kanzeln verkündet. Die Veranstalter bemühten sich sogar bei den Behörden um Formulare, wie sie im Reich existierten. Mit ihnen hätten jene Burschen und Mädchen, die an diesem Abend bei der Hitlerjugend oder dem Bund deutscher Mädchen "Dienstpflichten" zu erfüllen hatten, um "Urlaub" ansuchen können. Diese Formulare waren in Wien nicht aufzutreiben. Den Betroffenen wurde deshalb angeraten, sich die Beurlaubung bei den Führern mündlich zu erbitten. Mehr Öffentlichkeit war kaum denkbar. Angeblich pessimistische Erwartungen über den Besuch sind insofern zu relativieren, als immerhin 2.500 Feiertexte vervielfältigt wurden – mit 7.000 konnte freilich niemand rechnen.
Mosaikstein III:
Die Jugendfeier als Musterbeispiel religiös kodierter Regimekritik
Die Feier war professionell vorbereitet und choreographiert. Erzbischof Innitzer hatte sie weder erfunden noch konzipiert, sondern nur zugelassen. Ihre Initiatoren waren geistliche diözesane Jugendleiter der neuen KA, allen voran Domkurat Martin Stur. Sie bot ein Musterbeispiel mehrdeutiger religiöser Rede, die Regimeleute zur Weißglut brachte (Ernst Hanisch), aber nicht angreifbar war – ja setzte in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Diese Form geistiger Hygiene bestärkte eigene Überzeugungen und sicherte geistige Freiräume gegenüber den ideologischen Zumutungen des Regimes. Schon die Deklarierung des Treffens als Rosenkranzfeier am Herz-Jesu-Freitag war geschickt gewählt, suggerierte sie doch eine harmlos-traditionelle Veranstaltung.
Programmabschriften dokumentieren eine interaktive Gestaltung mit Wechselgebeten zwischen Burschen und Mädchen und bekenntnisträchtigen Liedern. Zwischentexte wanderten vordergründig durch die Geschichte des Rosenkranzes, zielten aber stets auf die Gegenwart. Der Rosenkranz sei zur Zeit der "gefährlichen Irrlehre" der Albigenser entstanden und eine Hilfe im "Kampf gegen den Halbmond" bei der Seeschlacht von Lepanto gewesen, die mit Siegesruf "Es lebe Christus" endete. Man zitierte eine Enzyklika Leo XIII.: "Das ist das Traurigste und Bitterste, dass heute so viele Seelen, die der Herr mit Seinem Blut erkauft hat, vom Irrtum unserer Tage angesteckt dahinleben." Und:
Das Heilmittel gegen alle Übel unserer Zeit liegt zu Tiefst darin, dass wir alle wieder zu Christus zurückkehren …, und die zu unserer Fürsprecherin machen, der es zu allen Zeiten gegeben war, alle Irrlehren heimzuführen zur Wahrheit.
Welche "Irrlehren" jetzt zu bekämpfen waren, brauchte nicht weiter erklärt zu werden. Alles steuerte auf die Ansprache des Erzbischofs zu, der aufgrund der großen Teilnehmerschar außer Plan von der Pilgram-Kanzel sprach. Es war die letzte Großveranstaltung im Dom ohne Lautsprecheranlage! Tausende hielten den Atem an und machten keinen Mucks, um den Mann zu verstehen, der über ihnen schwebte und sich in Wallung redete.
Innitzer begann mit einer Entschuldigung: "Vielleicht haben manche von Euch in den letzten Monaten nicht alles verstanden, was die Bischöfe getan haben". Dann folgten Appelle, die NS-Diktion christlich wendete:
Wir wollen gerade jetzt in dieser Zeit … uns zu Christus bekennen, unserem Führer und Meister, unserem König.
Und weiter:
Das Wort 'Kraft durch Freude' hat einen tiefen Sinn. Das ist ein biblisches Wort. Das hat der Prophet Esra in einer schweren Zeit [den Israeliten] gesagt, als sie beschlossen hatten, wieder zum Herrgott zurückzukehren.
Dennoch: Hätten sich die Teilnehmer nach dem Schlusslied ("Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre") gestärkt, motiviert aber still und geordnet entfernt, es wäre wohl nichts weiter passiert. Doch es kam anders.
Prof. Dr. Rupert Klieber lehrt Kirchengeschichte an der Universität Wien
Mosaikstein IV:
Die Jugenddemonstration am Stephansplatz als Regiepanne
Der Rückblick zum 7. Oktober fasst zwei Ereignisse zusammen, die zwar eng zusammenhingen, aber klar zu unterscheiden sind, weil sie anderer Qualität waren: 1. die choreographierte Feier im Dom, 2. die chaotische Demonstration am Stephansplatz. Zweitere war die Folge einer Regielücke. Die Veranstalter hatten nicht bedacht, dass man Tausende aufgekratzte Jugendliche nicht ohne Anweisungen in die Nacht entlassen konnte. Das Programmheft enthielt keine Hinweise für den Abgang; und als den Organisatoren diese Lücke dämmerte, konnten sie mangels Lautsprecher nichts mehr ausrichten. Tausende Bekenntnisdurstige stießen auf eine Gruppe Stänkerer, die schon während der Feier auf den Plätzen um den Dom gestört hatten.
Mosaikstein V:
Die Jugenddemonstration - politisch falsch aber imposant!
Die Demonstration am Stephansplatz war – nüchtern betrachtet - strategisch unklug und politisch offen provokant. Die Jugendlichen schmetterten auch nicht "Es lebe die Demokratie" noch "Wir wollen Österreich zurück", nicht einmal "Christus ist unser König". Vielmehr begannen katholische Heißsporne Parolen zu skandieren, die den NS-Führerkult veräppelten: "Wir wollen unsern Bischof sehen", "ein Volk, ein Reich, ein Bischof", "Lieber Bischof, sei so nett, zeige dich am Fensterbrett" – und Innitzer erschien wie 1937 am Fenster.
Laut Erwin Ringel wurde auch der eine oder andere Gegner verdroschen. Man stimmte das in den fünf Jahren "Systemzeit" vielstrapazierte Bekenntnislied der Tiroler gegen Napoleon aus Andreas Hofers Zeiten an ("Auf zum Schwure, Volk und Land"), das wohl vor allem die klassische Verbandsjugend ansprach. Die Neuland-Jugend schmetterte ihr mystisch-düsteres Wanderlied "Wir marschieren". Das war nicht zukunftsweisende religiöse Taktik für das Bestehen in der Diktatur, das war Konfrontation im Stile politischer Straßenschlachten unter Jugendlichen der Jahrzehnte vorher. In einer am 23. Oktober in allen Kirchen verlesenen Rechtfertigung distanzierte sich Innitzer denn auch von der Demonstration, die von den Organisatoren "weder vorauszusehen noch auch gewollt" gewesen sei.
Das ändert freilich nichts daran, dass die Demonstration eine einmalige und imposante Aktion war. Nach fünf Jahren NS-Regime im Reich bzw. sieben Monaten in Österreich haben Tausende katholische Jugendliche den Nazis noch einmal für eine halbe Stunde das Straßenmonopol entrissen, sie verhöhnt. Sie bescherte ihnen eine religiös-politische Heldentat, von der sie das weitere Leben zehren konnten, und schuf eine gute emotionale Basis für ihre Mitarbeit in den Pfarren in den folgenden rund siebzig Jahren ("ich war dabei")!
Dieser Akt geistigen Widerstands ist freilich weder den Organisatoren noch Innitzer zuzuschreiben. Dieser Ruhm gebührt allein den beteiligten Jugendlichen! War die Aktion einzigartig und die größte im "Reich"? Vergleichbar mit Wien war am ehesten die sogenannte Aachener Heiltumsfahrt von 1937, die mit rund 800.000 Pilgern zur "Wallfahrt des stummen Protestes" wurde. Sie war wohlorganisiert und ohne politische Provokation von kath. Seite, ist gerade so aber zu einer beeindruckenden Manifestation von Selbstbewusstsein, Selbstversicherung und Selbstbehauptung der Katholiken geworden.
Mosaikstein VI:
Die Verwüstung des Bischofshofes als Revanche für die Demonstration
Sehr viel stärker als im "Altreich" gab es in der "Ostmark" eine jahrzehntelang genährte Polarisierung in weltanschaulich-religiösen Fragen. Eine ihrer Erscheinungsformen war ein ausgeprägter "Pfaffenhass" linker wie rechter Provenienz. Jede Menge Leute dürsteten danach, es den Schwarzen endlich heimzuzahlen. Ein Wetterleuchten dafür waren Ausschreitungen in der Nacht vor dem Einmarsch gewesen.
Dem Salzburger Erzbischof Waitz hat man die Fenster eingeworfen und mit Lynchjustiz gedroht ("Sigismund, du Hund, du hängst in einer Stund"). Den Grazer Bischof Ferdinand Pawlikowski eskortierte eine johlende Menge ins Gefängnis, aus dem er erst 24 Stunden später wieder freikam. Vom Einmarsch hatte man gezielt die österreichischen Exil-Nazis ferngehalten, weil sie sofort über die Schwarzen hergefallen wären. Inzwischen waren die meisten von ihnen in die alte Heimat zurückgekehrt und dürsteten immer noch nach Rache, die ihnen nicht zuletzt Innitzers Kotau vor den neuen Machthabern im März vereitelt hatte.
Die Provokation am Dom bot endlich Anlass für eine Nacht der langen Messer. Die brutale Revanche des 8. Oktober galt zweifellos nicht der religiösen Feier im Dom, auch nicht der Ansprache des Bischofs, sondern der offenen Verhöhnung der "Braunen" durch die "Schwarzen". Die Jugendlichen aber bescherten Innitzer damit unverhofft die Rehabilitation vor der Kirchenzentrale sowie in der katholischen und freien Welt. Der "Wendehals" hatte sich zum "Bekennerbischof" gemausert.
Mosaikstein VII:
Die Oktober-Vorfälle zu St. Stephan – ein typisches Ereignis?
Die spontane Jugenddemonstration und die folgende Verwüstung des Bischofshofes waren einmalige Episoden und für die kirchliche Wirklichkeit im NS-Regime nicht typisch. Kennzeichnend war vielmehr ein Arrangement, das durch stete massive Einschüchterung und Bedrohung erzwungen wurde (nach dem Motto: "Aufmucken, Blut spucken"). Es bestand im kirchlichen Schweigen zu "politischen" Fragen; Protest wurde nur in unzähligen Eingaben an die Behörden oder an den "Führer" formuliert. Auch dafür typisch die Reaktion Innitzers auf die Verwüstung des Palais.
Zum einen sorgt er durch eine Benachrichtigung des Amtsbruders in Budapest dafür, dass der Vorfall international bekannt wird. Zum anderen schreibt er einen Brief an Hitler (gezeichnet "Mit dem Ausdruck der Hochachtung"). Er gibt ihn dem in anderer Mission in Wien weilenden Nuntius Cesare Orsenigo persönlich mit nach Berlin, wo ihn dieser einem Unterstaatssekretär offiziell aushändigt. Im Gegenzug für die öffentliche Zurückhaltung wurde den Kirchen ein beschränkter Wirk- und Freiraum zugestanden.
Maßnahmen, die in den Jahrzehnten zuvor kirchliches Zeter und Mordeo provoziert hätten, wurden nun ohne öffentlichen Aufschrei hingenommen: die Einführung der Zivilehe, den Verlust der staatlichen Finanzierung, die Schließung kirchlicher Schulen, theologischer Fakultäten und Klöster.
Umgekehrt hat die katholische Kirche den Freiraum aktiv und erfolgreich genutzt. So erfolgreich, dass damit die Basis für goldene kirchliche Jahre von 1945 bis etwa 1965 gelegt wurde. Charakteristisch für das amtskirchliche Agieren im NS-Staat war somit weder "Widerstand" noch "Kollaboration", sondern eine "Loyalität mit Grenzen".
Prof. Dr. Rupert Klieber A.o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Wien
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