Katholische Soziallehre und ksoe: "Kompass" in aktuellen Krisen
Es war nichts weniger als ein kraftvolles Lebenszeichen einer Institution im Umbruch: Im Rahmen einer hochkarätig besetzten Online-Tagung diskutierten am Montag Sozial- und Politikwissenschaftler sowie Theologinnen und Theologen gleichermaßen über die Aktualität der Katholischen Soziallehre wie auch die bleibende Relevanz der Katholischen Sozialakademie Österreich (ksoe) für deren Aktualisierung. Der Tenor: Beiden kommt die Funktion eines gesellschaftlichen wie kirchlichen "Kompasses" zu, den es gerade in den aktuellen Krisensituationen dringend brauche.
Beiträge zu der vom Zentrum für nachhaltige Gesellschaftstransformation in Graz, der Universität Graz, der Österreichischen Jesuitenprovinz und der Vereine "Transition Graz" und "GIVE" veranstalteten Tagung leisteten u.a. Bundespräsident Alexander van der Bellen, Bischof Hermann Glettler (Innsbruck), Ex-Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl, sowie die Politikwissenschaftler Sieglinde Rosenberger und Anton Pelinka. Die Tagung mit dem Titel "Auswege aus der Mehrfachkrise: Katholische Soziallehre als Kompass?" fand im Gedenken an den Sozialethik-Pionier P. Johannes Schasching SJ statt, der u.a. von 1991 bis 2005 an der ksoe tätig war und der vor sieben Jahren, am 20. September 2013, in Wien starb.
Bundespräsident betont ksoe-Relevanz
Eröffnet wurde die im Internet gestreamte Online-Tagung mit Grußworten von Bundespräsident Alexander Van der Bellen und dem früheren Zweiten Nationalratspräsidenten Heinrich Neisser (ÖVP). Van der Bellen, der die ksoe über 20 Jahre als Berater in Fragen der Ökonomie begleitet und zuletzt auch an deren 60-Jahr-Feier im März 2019 teilgenommen hatte, würdigte die Tätigkeit der ksoe als "bis heute wegweisend für den Dialog und das gesellschaftliche Zusammenleben".
Die soziale Frage sei von wachsender Aktualität und müsse fundiert diskutiert werden. Die ksoe stelle in dieser Situation einen Raum zur Verfügung, der es ermögliche, "Wirtschaft und Gesellschaft anders zu denken", das heißt "ökologisch und sozial gerechter - letztlich enkeltauglich", befand der Bundespräsident.
Neisser: Comeback der Katholischen Soziallehre
Heinrich Neisser würdigte gleichermaßen Person und Werk Johannes Schaschings sowie die Relevanz der ksoe nicht nur für die Bewältigung der sozialen Probleme der Gegenwart, sondern auch für die Fortentwicklung der Demokratie insgesamt. Schasching sei ein herausragender Vertreter eines "transdisziplinären Verständnisses von Ethik" gewesen, der es verstanden habe, Wissenschaftler verschiedenster Provenienz an einen Tisch zu bringen.
Der Raum, der diese Möglichkeit bot, sei die ksoe gewesen. Angesichts der Corona-Pandemie, deren soziale Folgen noch nicht absehbar seien, brauche es solche Stimmen und Orte auch heute dringend, so Neisser. Er prognostizierte zudem ein Comeback der Katholischen Soziallehre auch in den öffentlichen Debatten: "Die ksoe als traditionsreiche Einrichtung stillzulegen oder erheblich einzuschränken wäre ein schwer zu erklärender Verzicht der Kirche auf die Teilnahme an den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen unserer Zeit."
Auch im Blick auf die demokratiepolitische Entwicklung in Österreich und die Notwendigkeit pluraler Stimmen sei die ksoe mit ihrer Aufgabe, die katholische Soziallehre zu erforschen, zu verbreiten und für die Praxis fruchtbar zu machen "für unser Land unverzichtbar geworden", zeigte sich Neisser überzeugt.
Leben und Werk von P. Schasching beleuchteten anschließend auch die Sozialethiker Wolfgang Palaver und P. Alois Riedlsperger SJ. Beide unterstrichen dabei die dialogische und interdisziplinäre Kompetenz Schaschings sowie dessen sozialethische Pionierleistungen. Diese Fähigkeit zu einem "Dialog auf Augenhöhe" brauche es kirchlicherseits heute dringend, so die Sozialethiker.
Solidarität und Demokratie
In Folge referierten und diskutierten die Wiener Politikwissenschaftlerinnen Prof. Barbara Prainsack und Prof. Sieglinde Rosenberger, der frühere Nationalratsabgeordnete und jetzige Moraltheologe an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, Prof. Severin Renoldner, der emeritierte Politikwissenschaftler Anton Pelinka sowie der Salzburger Politikwissenschaftler Helmut Peter Gaisbauer über das Generalthema dieses Panels: "Solidarität und Demokratie".
Neben Solidaritätsadressen im Blick auf die gegenwärtig in einem Umstrukturierungsprozess stehende ksoe betonten alle Referenten den Zusammenhang von Verantwortung und Solidarität gerade im Blick auf die aktuelle Flüchtlingsthematik in Folge des Brandes im griechischen Flüchtlingslager Moria.
Die ksoe sei mit ihrer Bildungsarbeit und ihrem Eintreten für eine "Verantwortungsdemokratie" schon früh "Avantgarde" gewesen, betonte etwa Politikwissenschaftlerin Rosenberger. "Und dies sollte sie auch bleiben, da es um die Verantwortung in der Politik nicht gut bestellt ist", konstatierte sie . Es brauche eine Reflexion darüber, wie verantwortliches Handeln im Privaten mit politischer Verantwortung zusammengehe.
Ein "Glaubwürdigkeitsdefizit" der Katholischen Soziallehre machte indes der Politologe Anton Pelinka aus. Gerade im Blick auf die Demokratie habe sich die Katholische Kirche rückblickend nicht mit Ruhm bekleckert, wies Pelinka etwa darauf hin, dass die Triebfedern der Ausbildung des liberalen Rechtsstaates gerade nicht katholische, sondern vielmehr protestantische sowie antiklerikale Kräfte gewesen seien. Als "alt gewordener Ksoe-ler" hoffe er, dass die ksoe zur Ausleuchtung dieser eher dunklen Seite der Katholischen Soziallehre einen Beitrag leisten wird.
Ein akutes Solidaritätsdefizit machte der Salzburger Politikwissenschaftler Helmut Gaisbauer im Blick auf die österreichische und die europäische Flüchtlingspolitik aus. Durch eine "jahrelange Verweigerung einer solidarischen Ausgestaltung der EU-Migrationspolitik" sei Österreich letztlich "mitverantwortlich" für die Zustände in Lagern wie Moria und auch für die jüngste Brandkatastrophe.
Fortgesetzt wurde die Debatte in einem zweiten Panel zum Thema "Ökologie und Ökonomie" u.a. mit Beiträgen des Leiters des Instituts für Soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur Wien, Prof. Christoph Görg, der ebenfalls dort lehrenden Kulturwissenschaftlerin Prof. Christina Plank, des Linzer Moraltheologen Prof. Michael Rosenberger, sowie der beiden "Schasching-Fellows" Sebastian Thieme und Andreas Exner.
Am Nachmittag folgt ein Panel zur "Rolle und Perspektive der Katholischen Sozialakademie". Eines der Schlussworte spricht der von der Bischofskonferenz als einer von drei Bischöfen mit der ksoe-Neustrukturierung betraute Hermann Glettler.
Glettler: Zukunft der ksoe in neuer Form unbestritten
"Es wird die Katholische Sozialakademie Österreich in neuer Form auch weiterhin geben. Das ist Konsens der Bischöfe": Mit dieser Klarstellung hat der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler am Montagnachmittag eine Online-Tagung beendet, in der es gleichermaßen um die Bedeutung der Katholischen Soziallehre und der ksoe ging. Die engagierten und hochkarätigen Stimmen, die sich während der Tagung bereits demonstrativ hinter die ksoe gestellt hatten, seien eindrucksvoll gewesen, so Glettler. Er warb jedoch ebenso dafür, kritische Rückfragen zuzulassen und sich den tatsächlichen wirtschaftlichen Problemen der ksoe zu stellen.
Im bisherigen Prozess der Neuaufstellung hätten "wir Bischöfe manches Vertrauen überstrapaziert und zerbrochen". Dies tue ihm aufrichtig leid - er habe jedoch auch "manche Empörungsschleife als sehr verletztend empfunden - als hätten wir nichts anderes im Sinn, als die Kirche in die Sakristei zu treiben und dort einzuschließen", so der Innsbrucker Bischof, der gemeinsam mit den Bischöfen Werner Freistetter und Josef Marketz die Lenkungsgruppe zur Neuaufstellung bildet. Zudem betonte Glettler, dass eine Expertengruppe für diese Neuaufstellung eingesetzt wurde, die am 12. Oktober zum ersten Mal zusammenkommen werde. "Davon erhoffe ich mir sehr viel", so Glettler.
Zudem wies Glettler manche Formulierung wie etwa die Rede von einer "mutwilligen Auslöschung der ksoe" durch die Bischofskonferenz zurück. Der seit Herbst 2019 in Folge weniger nachgefragter Kurse gestiegene wirtschaftliche Druck, der sich heute durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt habe, habe dazu geführt, dass der Vorstand der ksoe selbst die Bischofskonferenz um eine Neuaufstellung gebeten habe. "Ich bitte, auch dies zu berücksichtigen." Der prinzipielle Auftrag der ksoe, die sozialen und ethischen Fragen der Gegenwart zu erforschen und "alternative Narrative" zu ermöglichen, bleibe aufrecht - es gehe nun darum, diesen Auftrag "im Netzwerk mit anderen Playern" neu zu beleben, so Glettler.
Engagierte Stimmen für die ksoe
Dem Statement Glettlers gingen bei der Online-Tagung zahlreiche Stimmen aus Kirche, Wirtschaft, Religionen und Zivilgesellschaft voraus, die sich teils vehement für einen Fortbestand der ksoe aussprachen. So appellierte etwa Willi Mernyi vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), die ksoe als "verlässlichen und starken Partner" im gemeinsam verfolgten Anliegen des arbeitsfreien Sonntags beizubehalten. Auch der frühere Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl, Ursula Fatima Kowanda-Yassin von "Religions for Future", Julianna Fehlinger von der Österreichischen Berg- und Kleinbäuerinnen Vereinigung sowie Rainald Tippow von der Caritas und Anna Wall-Strasser von der Katholischen Arbeitnehmer/innen Bewegung Österreichs plädierten nicht nur für den Fortbestand, sondern für einen Ausbau der ksoe.
Den Abschluss der Tagung, die unter dem Titel "Auswege aus der Mehrfachkrise: Katholische Soziallehre als Kompass?" stand und die im Gedenken an den Sozialethik-Pionier P. Johannes Schasching SJ (1917-2013) stattfand, bildeten neben Glettler die Stimmen der Generalleiterin der Caritas Socialis, Sr. Susanne Krendelsberger, der Sozialethikerin Petra Steinmair-Pösel sowie jene von Josef Mautner von der Katholischen Aktion Salzburg. Krendelsberger unterstrich, dass die Kirche die ksoe "gerade angesichts der großen sozialen und ökonomischen Fragen heute braucht". Daher votiere sie nicht nur für eine Beibehaltung, sondern für eine Stärkung der ksoe "auch finanziell".
Steinmair-Pösel ging auf inhaltliche Aspekte eines "Dialogs auf Augenhöhe" ein, den die Kirche mit der Zivilgesellschaft zu führen habe; dazu bedürfe es verschiedener Kompetenzen, um einen Bewusstseins-, Werte- und Strukturwandel kritisch zu begleiten bzw. selber mit zu initiieren. Der ksoe komme in diesem Prozess die Aufgabe eines wissenschaftlichen Reflexionsraumes und eines Ortes auch des kritischen Diskurses über grundlegende Fragen des Menschseins zu.
Josef Mautner würdigte die ksoe schließlich als "Impulsgeberin und Kompetenzzentrum", das für die Arbeit der Katholischen Aktion "unverzichtbar" sei. Die ksoe habe dabei nicht nur eine "Brückenfunktion" zwischen Gesellschaft und Kirche, sondern auch die Aufgabe, "die prophetische Dimension der Katholischen Soziallehre in die Gesellschaft einzubringen".
Quelle: kathpress