Auf der "Suche nach Pflänzchen der Hoffnung"
Von 3./4. bis 10. September 2023 besuchte eine Delegation der ICO gemeinsam mit dem Linzer Bischof Manfred Scheuer Syrien. – Auf der „Suche nach Pflänzchen der Hoffnung“. Und wir haben sie auch tatsächlich gefunden. Allerdings auch sehr viel Not, Elend und Perspektivenlosigkeit. Wir – das waren Bischof Manfred Scheuer, ICO-Obmann Slawomir Dadas, ICO-Geschäftsführerin Michlin Alkhalil, ICO-Projektreferent Stefan Maier, HCO-Obmann Thiemo Pree, die frühere Innsbrucker Schulamtsleiterin Maria Plankensteiner und ICO-Chefredakteur Georg Pulling (Autor).
Montag, 4. September 2023
Frühmorgens um ca. 3.30 Uhr landen wir von Wien kommend in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Um 4.30 Uhr haben wir die Passkontrolle und Gepäckausgabe hinter uns. Wir werden abgeholt und mit einem Kleinbus geht es quer durch den nicht recht großen Libanon in Richtung syrische Grenze. So früh am Morgen gibt es noch recht wenig Verkehr und so erreichen wir die Grenze schon gegen sechs Uhr am Morgen. Es folgt die Ausreise aus dem Libanon und die Einreise nach Syrien. Die Bürokratie ist umfangreich, aber alles verläuft ohne Probleme. Um 8 Uhr haben wir es geschafft und sind in Syrien. Um 9 Uhr erreichen wir Damaskus, wo wir beim syrisch-katholischen Bischof Youhanna Jihad Battah Quartier nehmen und von Michlin Alkhalil empfangen werden. Die ICO-Geschäftsführerin hat bereits vier Wochen Syrien-Urlaub (bei ihrer Familie) hinter sich und hängt nun noch eine fünfte berufliche Woche an.
Zu Gast bei Bischof Younan
Frühstück bei Bischof Younan. - Er erzählt von der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Land. Nach 12 Jahren Krieg lässt auch die Hilfe aus dem Ausland nach. Der Bischof bittet uns, Syrien nicht zu vergessen. Die Menschen hätten das Vertrauen in eine bessere Zukunft in Syrien verloren. Praktisch alle wollen weg, sagt der Bischof. Diese Botschaft werden wir während unserer Reise noch oft hören.
Die syrisch-katholische Diözese von Bischof Youhanna zählt fünf Pfarren in Damaskus und Umgebung. Dafür stehen ihm 10 Priester zur Verfügung. Die Kirche betreibt einige Sozialprojekte, so eine Werkstätte für Menschen mit Beeinträchtigungen („Haus des Friedens“) und ein Altenheim (geführt von Mutter Teresa-Schwestern), weiters gibt es Hilfe für Bedürftige bei den Mieten, medizinischer Versorgung, Lebensmitteln oder Schulsachen für die Kinder. Besondere Hilfe gibt es auch für Erdbebenopfer vom vergangenen Februar.
Gottesdienst in St. Paul
Am Montagvormittag feiern wir in St. Paul Gottesdienst. Es ist jener Ort, wo der Tradition nach der Apostel Paulus sein Bekehrungserlebnis hatte. Bischof Manfred Scheuer steht dem Gottesdienst vor.
Im Anschluss empfangen uns die Franziskaner zum Gespräch. Die Kämpfe sind in Damaskus und Umgebung längst vorbei, dafür herrsche nun ein „Krieg des Hungers“, nennt es ein Ordensmann. Die Hilfe der Franziskaner ähnelt jener der anderen Kirchen: Lebensmittelhilfe, medizinische Hilfe, Mieten, Unterstützung für Kindergärten, Hilfe für die Gründung eigener kleiner Unternehmen, damit sich die Menschen selbst ernähren können; für Kinder gibt es Sommerlager, für Studenten finanzielle Unterstützung, …..Leider könne man nicht allen helfen, die es bräuchten, bedauern die Franziskaner. Die Not sei einfach zu groß.
Ein großes Problem in Syrien: Die jungen Leute wandern aus, zurück bleiben die Alten und Kranken. Die Franziskanerwollen darauf mit der Gründung einer Pflegeschule antworten. Junge Menschen sollen zu Pflegerinnen und Pflegern ausgebildet werden. Ein sicher zukunftsweisendes Projekt. Wie ein Ordensmann betont, gilt die Hilfe der Franziskaner Christen und Muslimen gleichermaßen.
Früher betrieben die Franziskaner in Damaskus ein Gästehaus, das von Touristen gut besucht war. Die sind freilich seit Kriegsbeginn ausgeblieben. Heute werden Krebspatienten im Haus beherbergt sowie Auswanderungswillige aus dem ganzen Land, die wegen behördlicher Wege nach Damaskus kommen müssen.
Die Franziskaner bemühen sich derzeit, ihr Haus mit Solarpanelen auszustatten. – Die einzige Chance, über ausreichend Strom zu verfügen. Öffentlich gibt es in Syrien nur ein bis zwei Stunden Strom am Tag.
Die Hilfe der Franziskaner stützt sich dabei auf das ordenseigenen Hilfswerk Pro Terra Sancta. Eine große und in vielen Ländern tätige Einrichtung. Der Orden selbst hat in Syrien Niederlassungen in Damaskus (4 Brüder), Aleppo (4 Brüder) und Latakia (2 Brüder).
Wir sprechen die Ordensleute auch kurz auf die politische Situation im Land an. Ihre Antwort mag hier stellvertretend für alle Antworten unserer Gesprächspartner in den kommenden Tagen stehen: „Wir mischen uns in die Politik nicht ein. Wir werden von der Regierung bzw. den Behörden respektvoll behandelt und auch die Muslime respektieren uns.“
Unterwegs mit „People of Mercy“
Nach einem guten Mittagessen (Ja, es gibt nach wie vor gute Restaurants in Damaskus, und ja, es gibt auch scheinbar noch genügend Leute, die sich das leisten können, und Nein, das ist bei weitem nicht die Mehrheit, sondern nur eine verschwindende Minderheit) verbringen wir den Nachmittag bei Projekten unserer Partnerorganisation „People of Mercy“ (POM).
Die 2017 in Damaskus gegründete Hilfsorganisation People of Mercy hat sich der Bildung der syrischen Kinder und Jugendlichen verschrieben. In einem vom Krieg zerrissenen Land mit Hunderttausenden Opfern, Verwundeten und Gefangenen sowie einer sehr großen Zahl von Schulabbrechern und Kindern ohne Schulbildung war „People of Mercy" eine der ersten Organisationen, die in dieser Richtung aktiv geworden ist. Zu beachten ist, dass der Vorstand aus Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften besteht. Dies verleiht der Organisation eine säkulare Dimension, die unerlässlich ist, um konfessionelle Konflikte zu vermeiden, die derzeit Syrien bedrohen. „People of Mercy“ ist eine nach syrischem Recht offiziell anerkannte, unpolitische und nicht-konfessionelle NGO. Ghassan Finianos und sein Sohn Karim leiten das Hilfswerk. Sie begleiten uns an diesem Nachmittag.
Unsere erste Station ist eine Schule in Damaskus. POM hat das Gebäude einer privaten kirchlichen Schule an den Nachmittagen gemietet und betreibt eine eigene Schule für Flüchtlingskinder (aus anderen Regionen Syriens), die bisher keine Schule besuchen konnten. In acht Klassen werden die Kinder unterrichtet und lernen Lesen, Schreiben und Rechnen. Einige Kinder besuchen inzwischen auch schon zusätzlich eine öffentliche Schule. Besonders wichtig: Die Kinder, die schon Schlimmes erlebt haben und durchwegs traumatisiert sind, werden auch psychologisch betreut. 200 Kinder besuchen die Schule, sie bekommen auch eine Jause und Schulmaterial zur Verfügung gestellt, für die Eltern gibt es auch kleine finanzielle Zuwendungen. Wir schauen ein bisschen beim Unterricht zu und plaudern mit den Lehrerinnen und Kindern. Ein absolutes Herausstellungsmerkmal der Schule: Im Winter wird geheizt!
Zweite Station ist ein Ausbildungszentrum von POM für Frauen (und einige wenige Männer). Hier können die Menschen einen Beruf (z.B. Näherin) erlernen. Derzeit gibt es 85 Kursteilnehmerinnen. Es gibt Nähkurse, Kochkurse, Mechanikerkurse usw. …. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Leute später ihren eigenen kleinen Betrieb aufmachen und sich und ihre Familien selbst erhalten können. Die ICO und POM sind schon lange Partner. Allerdings unterstützt die ICO keine POM-Projekte in Damaskus, sondern in Latakia. Dazu aber später mehr.
POM hat auch Hilfsprojekte für Schwangere und junge Mütter/Eltern laufen. Die Finanzierung ist aber nicht gesichert, sagt Ghassan Finianos: Als größte Herausforderung nennt Ghassan Finianos den medizinischen Bereich.
POM hat in Damaskus rund 30 Angestellte, dazu einige Ehrenamtliche. Eine wichtige NGO. Wir besuchen noch kurz die Zentrale des Hilfswerks in der Altstadt von Damaskus, bevor wir durch schlecht beleuchtete Gassen in Richtung Omajjadenmoschee stolpern. Das letzte Ziel für den ersten Tag.
Dienstag, 5. September 2023
Zu Gast bei Patriarch Aphrem
Wir besuchen in der Früh die Ananias-Kirche in Damaskus. Danach machen wir uns auf den Weg nach Maarat Sadnaya, rund eine Stunde außerhalb von Damaskus. Unser Ziel ist das syrisch-orthodoxe Patriarchat, wo wir von Patriarch Aphrem II. empfangen werden. Derzeit findet gerade ein kirchliches Jugendtreffen vor Ort statt. Der Patriarch nimmt sich trotzdem gerne für uns Zeit. Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen die schwierigen Lebensbedingungen für die syrischen Bevölkerung, fehlende Zukunftsperspektiven für die Jugend und die Notwendigkeit weiterer Hilfsprojekte.
Um den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive zu bieten, hat der Patriarch vor einigen Jahren in Maarat Sadnaya eine eigene Universität gegründet. Die Universität wird bereits von mehr als 1.000 jungen Leuten besucht, die Mehrheit davon Muslime. Das Angebot ist breit gestreut und reicht von Elektrotechnik über Informatik bis zu Wirtschaftsfächern und Jus. Im Endausbau soll die Universität Platz und Lehrangebote für 5.000 junge Leute bieten. Der Patriarch nennt das auch als einen Beitrag zur Entwicklung des Landes. Ein zweiter Beitrag ist eine Firma, die Medikamente herstellt und die von der Kirche gegründet wurde. Die Firma läuft seit rund einem Jahr, 120 Menschen haben Arbeit gefunden.
Dann spricht der Patriarch noch ein weiteres Thema an: die internationalen Wirtschaftssanktionen. Diese würden nur die einfachen Leute treffen und noch weiter ins Elend stürzen, sagt der Patriarch. Alle anderen Gesprächspartner in Syrien werden dasselbe sagen.
Besorgt zeigt sich Patriarch Aphrem im Blick auf die christliche Präsenz in Syrien. Seit Ausbruch des Kriegs hätten 50 Prozent der Christen das Land verlassen. Das ist überproportional viel. Besonders schlimm: Es sind vor allem die jungen und gut ausgebildeten Leute, die das Land verlassen. – Wer kann es ihnen verdenken. Zur Auswanderung trägt u.a. auch der Militärdienst bei, der in Syrien schon einmal zehn Jahre dauern kann.
Der Patriarch spricht sehr offen: Er schämt sich angesichts der schwierigen Situation eigentlich, den jungen Leuten zu sagen, sie sollen im Land bleiben. Ohne Frieden wird es für Syrien jedenfalls keine positive Entwicklung geben. Und selbst wenn das Wunder passiert und endlich Frieden ist, würde es wohl gut zehn Jahre dauern, bis der Wiederaufbau in Schwung ist und das Gröbste überstanden ist, meint der Patriarch.
Vor der Abreise vom Patriarchatssitz besuchen wir noch kurz die vor einigen Jahren errichtete unterirdische Kapelle, in der eine besondere Reliquien aufbewahrt wird: ein kleiner Teil des Gürtels Mariens.
In der Christenstadt Maalula
Nach einem guten Mittagessen in einem Restaurant in Maarat Sadnaya fahren wir weiter in die Christenstadt Maalula. In Maalula sprechen die Bewohner(Christen wie auch Muslime) noch Aramäisch, die Sprache Jesu.
Schwer gelitten hat im Krieg die Kleinstadt Malula. In der christlichen Stadt wird noch Aramäisch, die Sprache Jesu, gesprochen. Kardinal Schönborn besucht das melkitische Sergios- und Bachuskloster sowie das griechisch-orthodoxe Mar Thekla-Kloster. 2013 eroberten Islamisten Malula und entführten die Nonnen des Klosters. Sie kamen später wieder frei und die syrische Armee eroberte Malula zurück. Über diese Zeit sprechen die Ordensfrauen nicht gerne, sie wollen lieber nach vorne blicken. Dem Großteil der syrischen Bevölkerung fällt dies angesichts der aktuellen Not schwer. Umso wichtiger sei die Solidarität des Westens, bekräftigt der Wiener Erzbischof.
Wir besuchen das griechisch-orthodoxe Mar Thekla-Kloster. 2013 eroberten Islamisten Maalula und entführten die Nonnen des Klosters. Sie kamen später wieder frei und die syrische Armee eroberte Malula zurück. Über diese Zeit sprechen die Ordensfrauen nicht gerne, sie wollen lieber nach vorne blicken.
Das zweite Kloster, das wir besuchen, ist das melkitische griechisch-katholische Sergios- und Bachuskloster. Das Kloster steht auf einer felsigen Anhöhe über dem Ort. Das Kloster wurde im Krieg schwer zerstört, wurde inzwischen aber ebenfalls wieder hergerichtet. Die Klosterkirche der Heiligen Sergius und Bacchus aus dem 4. Jahrhundert ist eine der ältesten Kirchen der Welt und wurde wahrscheinlich in den Jahren von 313 bis 325 unter dem römischen Kaiser Konstantin dem Großen auf den Mauern eines älteren heidnischen Tempels errichtet.
Weiter geht die Reise Richtung Aleppo, das wir am späteren Abend bei Dunkelheit erreichen. Unser Ziel ist das Franziskanerkloster, wo wir von P. Bahjat und seinem Team herzlich empfangen werden. Und ein gutes Abendessen gibt es auch noch. Mahlzeit und Gute Nacht!
Mittwoch, 6. September 2023
ICO-Projekte in Aleppo
Der Tag beginnt mit der Morgenmesse in der Franziskanerkirche. P. Bahjat stellt uns den Gläubigen vor. Im Anschluss an den Gottesdienst kommen einige Menschen auf uns zu, um sich für die ICO-Hilfe zu bedanken.
Beim anschließenden Frühstück berichtet Bahjat, wie wichtig unser Besuch für die Menschen ist, damit sie das Gefühl haben, nicht völlig isloiert und vergessen zu sein. Vor dem Krieg lebten mehr als 200.000 Christen in Aleppo, jetzt sind es vielleicht noch 25.000. Die christliche Vielfalt ist dabei allerdings groß: Neun Bischöfe residieren in Aleppo, die Ökumene beschreibt Bahjat als recht gut.
Die Franziskaner sind ein langjähriger Projektpartner der ICO. Er würde viel lieber nachhaltige Projekte ins Leben rufen, sagt Bahjat, aber das sei derzeit nicht möglich. In Aleppo geht es um Nothilfe: Lebensmittelhilfe und Hilfe für die Erdbebenopfer. Wir besuchen Hilfsprojekte der Franziskaner, die von der ICO unterstützt werden.
Durch das verheerende Erdbeben vom Februar 2023 wurden in Aleppo rund 200.000 Menschen obdachlos. Die Franziskaner hatten mehrere Wochen lang tausende Menschen aufgenommen, die sich nicht zurück in ihre desolaten Wohnungen trauten. Die Franziskaner wollen insgesamt in Aleppo und der Küstenstadt Latakia 170 Wohnungen wieder instandsetzen, sodass die Menschen darin wieder wohnen können. 14 Wohnungen in Latakia und 10 in Aleppo wurden bereits vollständig renoviert, einige weitere sind gerade in Arbeit. Bis zu einem Jahr wird es laut P. Bahjat dauern, bis alle Wohnungen renoviert sind. Die ICO ist einer von mehreren Geldgebern für dieses Projekt.
Auf dem Weg zu einer der renovierten Wohnung kommen wir bei einem völlig zerstörten Hochhaus vorbei. Das war einst der Sitz des melkitischen Bischofs. Der Bischof und ein Kind wurden bei dem Erdbeben verletzt, ein Priester fand den Tod.
Nach den Wohnungen besuchen wir die von der ICO finanzierte Suppenküche der Franziskaner in Aleppo. Mehr als 300.000 Mahlzeiten wurden in den vergangenen 2 Jahren hier zubereitet und an Bedürftige ausgegeben. P. Bahjat berichtete von 1.200 bis 1.300 Mahlzeiten pro Tag. Die meisten Begünstigten sind Familien, alte, kranke oder auch behinderte Personen. Auch Muslime werden versorgt. Die Leute holen sich ihr Essen ab und bringen es auch zu ihren Familienmitgliedern zu Hause. Wer nicht mehr mobil ist, wird von Mitarbeitern der Suppenküche mit Essen versorgt.
Insgesamt würden rund 2.500 Personen jede Woche mit Essen versorgt, so P. Bahjat. Nach dem Erdbeben im Februar 2023 wurden die Kapazitäten für einige Monate dramatisch hinaufgefahren. 5.000 Leute wurden jeden Tag versorgt.
Die Suppenküche ist auch ein willkommener Arbeitgeber in der Stadt. Ca. 30 Personen erhalten für ihre Arbeit in der Küche einen Lohn. Die Suppenküche ist für P. Bahjat derzeit das wichtigste Hilfsprojekt der Franziskaner. 90 Prozent der Bevölkerung Aleppos lebt in bitterer Armut.
Auffällig: Die Leute sind bitterarm, aber trotzdem ordentlich gekleidet. Sie kämpfen bis zuletzt um ihre Würde. Und sie bedanken sich bei uns für die Unterstützung. – Die Hilfe der ICO bzw. der vielen Spenderinnen und Spender kommt an.
In den Trümmern von Aleppo
Fröhliches Kinderlachen empfängt uns in einer Schule, die von den Franziskanern geführt wird und die wir kurz besuchen. Schließlich machen wir noch einen Abstecher zur Zitadelle von Aleppo, die vom Krieg schwer mitgenommen wurde, nachher zum Teil schon wieder aufgebaut und nun vom Erdbeben wieder beschädigt wurde. Wir schlendern kurz durch den Souk, der zu einem großen Teil noch in Trümmern liegt, einige Geschäfte haben aber bereits wieder geöffnet. An anderer Stelle wird fleißig renoviert. Freilich bleibt noch unheimlich viel zu tun.
Zurück im Franziskanerkloster gibt es ein kurzes Mittagessen. Im Prinzip das Gleiche, was auch in der Suppenküche ausgegeben wurde. Und es schmeckt. Die Qualität ist in Ordnung.
Was bei den Gesprächen immer wieder auffällt. Das Gehalt eines öffentlichen Angestellten beträgt 15 Euro im Monat. Davon kann man vielleicht fünf Tage leben. Viele Menschen haben mehrere Jobs, bekommen auch Hilfe von Verwandten aus dem Ausland oder von Hilfswerken in Syrien. Angestellte im Privatsektor bekommen vielleicht bis zu 60 Euro. Besser bezahlt sind noch jene Glücklichen, die bei einer internationalen Organisation angestellt sind. Aber trotzdem: Es bleibt uns ein Rätsel, wie die Menschen überhaupt überleben können.
Begegnung mit Bischof Boutros Kassis
Am späteren Nachmittag besuchen wir den syrisch-orthodoxen Bischof Boutros Kassis in Aleppo. Er ist u.a. auch der Chef des Hilfswerks St. Ephrem der syrisch-orthodoxen Kirche. St. Ephrem hat fünf Büros in Syrien und zählt ca 1.000 Mitarbeiter.
50 Prozent der Christen haben in den letzten zehn Jahren aufgrund des Krieges und der katastrophalen Wirtschaftslage Syrien verlassen, berichtete der Bischof. Die verbleibenden Christen bräuchten dringend Hilfe. Die Kirche würde viel lieber in nachhaltige Wiederaufbauprojekte investieren, doch das sei derzeit schlicht unmöglich, erzählt der Bischof. An erster Stelle stehe derzeit die Unterstützung der Menschen mit Lebensmitteln Auch medizinische Hilfe sei dringend notwendig vor allem für die Alten, aber etwa auch Menschen mit Behinderung. Die Kirche finanziere vielen Menschen die Medikamente und teils auch lebensnotwendige Operationen.
Beim Erdbeben vom 6. Februar wurden in Aleppo allein 400 Wohnungen von syrisch-orthodoxen Christen beschädigt, rund die Hälfte davon schwer. Die Kirche hat sofort Hilfsmaßnahmen begonnen, Familien aufgenommen bzw. für Erdbebenopfer die Mieten in Ausweichquartieren bezahlt. 115 beschädigte Wohnungen wurden bereits wieder hergerichtet, so der Bischof.
Und leider bestätigt auch Bischof Kassis, dass 50 Prozent der Christen das Land verlassen haben. Ohne Hilfe von außen wird es Syrien nicht schaffen, sagt der Bischof. Aleppo sei einst eine blühende Industriestadt gewesen. Davon sei nichts mehr übrig. Und auch der Bischof kommt auf die internationalen Sanktionen zu sprechen.
Bei den „Blauen Maristen“
Unser letzter Programmpunkt am Mittwoch ist das Hauptquartier der Blauen Maristen in Aleppo. Von den vielfältigen sozialen Aktivitäten der Maristen unterstützt die ICO das Programm SEEDS: Mehr als 500 Kinder und Jugendliche, aber auch einige erwachsene Frauen werden psychologisch betreut, die Kinder können in einer spielerischen Atmosphäre ihre Kriegstraumata aufarbeiten. Und diese sind massiv! Die ICO-Delegation trifft sich mit mehr als 30 jungen Frauen und Männern, die die SEEDS-Gruppen leiten. Das Engagement der jungen Leute ist beeindruckend. Trotz aller Probleme im Land wollen sie anderen helfen und an einer besseren Zukunft mitarbeiten. Freilich sprechen sie auch ganz offen aus: Eigentlich wollen sie weg, aber sie haben keine Chance, das Land zu verlassen. Deshalb machen sie das Beste daraus. Bei den Maristen bekommen sie zwar kein Gehalt, aber zumindest eine kleine Aufwandsentschädigung und sie könnten etwa Sinnvolles leisten.
Ein Drittel der SEEDS-Schützlinge sind Christen, zwei Drittel Muslime. Und auch unter den Freiwilligen gibt es einige junge muslimische Frauen. Das Gespräch mit den jungen Leuten ist höchst beeindruckend.
Im Anschluss sitzen wir noch länger mit Br. Georges Sabri zusammen, der uns über die Maristen in Aleppo bzw. ihr Hilfswerk berichtet. Mit Nabil Antaki und dessen Frau wurde das Hilfswerk 1986 gegründet. Das erste Projekt hieß „Das Ohr Gottes“. Betroffen von der großen Not der Menschen galt die erste Hilfe 30 christlichen Familien. „Man muss vor allem bei den Kindern ansetzen und die Frauen stärken“, so Br. Georges.
Ein Datum, das er nie vergessen wird: der 23. Juli 2012. An diesem Tag kam der Krieg nach Aleppo. Sabri war gerade in einem Armenviertel von Aleppo, als ihm unzählige Menschen entgegenkamen, die vor den ausgebrochenen Kämpfen flüchteten. Seit dem Beginn des Krieges gilt die Hilfe der Blauen Maristen gleichermaßen Christen wie Muslimen. Schlicht allen Menschen in Not, und Not gibt es mehr als genug.
Ein weiteres dramatisches Datum: der Karfreitag 2013, als die Kämpfe besonders schlimm wurden und immer mehr Menschen fliehen mussten. Die Maristen nahmen immer mehr vertriebene Familien auf, die sie längere Zeit beherbergten.
Wie sind die Maristen zu ihrer Bezeichnung „blau“ gekommen. Die Mitarbeiter hatten schlicht blaue T-Shirts an und die Kinder der Bedürftigen nannten sie daraufhin die „Blauen“.
Das jüngste Projekt der Blauen Maristen heißt „Geteiltes Brot“. Mit dem Ausbruch von Corona versorgten die Maristen vor allem alte Menschen mit einer warmen Mahlzeit täglich. 250 Menschen werden versorgt, 12 Frauen kochen, 26 Mitarbeiter verteilen die Mahlzeiten.
Insgesamt zählt das Hilfswerk rund 150 Mitarbeiter, erzählt Fr. Georges. Seit dem Erdbeben rollt einen neue Ausreisewelle unter den Christen, sagt er. - Verständlich und zugleich bedauerlich
Donnerstag, 7. September 2023
Nach einer herzhaften Verabschiedung von den Franziskanern in Aleppo ist unser heutiges Ziel die Küstenstadt Latakia. An und für sich wäre sie in zwei Stunden mit dem Auto leicht zu erreichen. Der Haken: Dieser Weg würde durch die Provinz Idlib führen, wo immer noch Rebellen das Sagen haben. Es wird – unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – täglich gekämpft. So müssen wir einen großen Umweg in Kauf nehmen, die Fahrt dauert rund 5 Stunden. An einer Stelle sind wir höchstens 5 Kilometer von der Front entfernt. Am Straßenrand fahren wir an gestaffelten Schützengräben vorbei, ab und zu steht mitten auf dem Feld ein verrosteter Panzer.
Wenig zum raschen Fortkommen tragen auch die vielen Straßensperren und Kontrollen bei. Bei manchen werden wir relativ rasch durchgewunken, bei manchen müssen wir unsere Pässe abgeben und es dauert länger.
Bei den Franziskanern in Latakia
Am frühen Nachmittag haben wir es endlich geschafft und fahren im Franziskanerkloster in Latakia vor, wo wir von Br. Fadi begrüßt werden. Das Mittagessen muss noch warten, zuerst gibt es eine ausführliche Präsentation über die pastoralen und sozialen Aktivitäten der Franziskaner in Latakia.
Die Pfarre der Franziskaner vor Ort zählt rund 700 Familien. Drei Viertel davon sind Flüchtlinge aus der nahen Region Idlib, die nach wie vor von verschiedenen islamistischen Gruppen mithilfe der Türkei gehalten wird. In der Region Idlib leben noch höchstens 200 Christen unter schwierigsten Bedingungen.
Die christlichen Flüchtlinge in Latakia haben in der Stadt die billigsten und damit auch schlechtesten Unterkünfte gemietet. Vieler dieser Behausungen hielten dem Erdbeben vom Februar nicht stand. Manche stürzten ganz ein, bei anderen wurde die Bausubstanz so schwer beschädigt, dass sie nicht mehr bewohnbar sind. Bei manchen fielen auch „nur“ die Decken herunter oder die Strom- und Wasserleitungen wurden zerstört.
Die Franziskaner nahmen rund 400 Erdbebenopfer für mehrere Wochen in ihrem Kloster auf. Dann begannen die Renovierungsarbeiten an den Wohnungen. 90 Wohnungen wurden inzwischen wieder hergerichtet, einige davon mithilfe der ICO. Die Hilfe gilt neben Familien vor allem auch alleinstehenden alten Personen.
Weitere Projekte: Seit 2017 haben die Franziskaner mithilfe von Pro Terra santa eine kleine medizinische Klinik eingerichtet. Zudem haben sie ein kleines Tageszentrum eingerichtet, in dem 20 Schulkinder den Nachmittag verbringen, ein warmes Essen bekommen und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wird. Viele Kinder sind schulisch so schwach, dass es eigentlich um einen Zusatzunterricht geht, damit sie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.
Es gibt auch Ausbildungskurse für alleinerziehende Mütter. Sie werden zu Nägeldesignerinnen ausgebildet. Ein Beruf mit Zukunft. Extravagante Fingernägel sind das Markenzeichen der syrischen Frauen.
Ein besonders lobenswertes kirchliches Projekt ist das „Haus der Brüder“, eine Werkstätte für Menschen mit Beeinträchtigung. Sie stellen zum Beispiel Flüssigseife her. Die ICO überlegt, diese in ihr HCO-Sortiment aufzunehmen. Das Projekt gibt den Menschen Würde. Sie bekommen für ihre Arbeit ein Gehalt. Und die verantwortliche Ordensschwester betont, dass dieses Geld den Behinderten zusteht und nicht deren Familien. Die Arbeit der Kirche trägt so auch zu einem gewissen Bewusstseinswandel bei.
Ein neues Projekt, das die Franziskaner in Latakia mithilfe der ICO starten wollen: eine Suppenküche für rund 30 Personen.
Schließlich werden wir von der örtlichen Caritas-Vertreterin auch über die vielfältige Hilfe der Caritas informiert, die im Prinzip die gleiche Art von Projekten betreibt wie die anderen kirchlichen Einrichtungen. Wünschenswert ist es, dass alle kirchlichen Hilfswerke zusammenarbeiten und nicht gegeneinander. Die Not ist so groß, es gibt für alle genug zu tun.
Und dann gibt es endlich Mittagessen bevor wir zu einer älteren Frau aufbrechen, deren Wohnung gerade fertig renoviert wurde. Die Freude ist groß, als sie uns kurz begrüßen kann.
Bildung für muslimische Mädchen
Weiter geht es zu einer Art Privatschule der Organisation „People of Mercy“ für Mädchen, die bisher noch nie die Schule besuchten. Die Mädchen und jungen Frauen stammen fast ausschließlich aus muslimischen Flüchtlingsfamilien, die nach einer schlimmen Flucht in Latakia Zuflucht gefunden haben In der Schule lernen die Mädchen zwischen 13 und 17 Lesen, Schreiben, Rechnen und Englisch. Es gibt kreative Einheiten, Sport, Unterrichtsstunden zur Persönlichkeitsbildung und psychosoziale Begleitung. Die Mädchen lernen auch über ihre Rechte und darüber, wie sie sich gegen Gewalt wehren könne. - Für die jungen Frauen eine einmalige Chance, ein wesentlich selbstbestimmteres Leben führen zu können, als es sonst möglich wäre, und dem Kreislauf von Kinderarbeit und Kinderheirat zu entkommen.
Viele der Jugendlichen sind am Beginn Analphabetinnen. Nach drei Jahren schaffen viele einen Pflichtschulabschluss, einige haben bereits zu studieren begonnen. In das Projekt sind auch die Eltern, respektive die Mütter, miteinbezogen, die auf über gewisse Themen informiert und aufgeklärt werden.
Das Projekt gibt es seit 2015. Anfangs sei es schwer gewesen, die streng konservativen Eltern der Mädchen zu überzeugen, diesen den Schulbesuch zu erlauben. Inzwischen sorgt die Mundpropaganda stets für volle Klassen. Die Mädchen stammen alle aus einem bestimmten Viertel von Latakia. POM hat einen Bus angekauft, mit dem die Mädchen gemeinsam von und zur Schule gebracht werden. So können die Eltern sicher sein, dass ihren Töchtern nichts „passiert“.
Der Unterricht findet in kleinen Kellerräumen einer maronitischen Kirche statt, die Luft ist stickig, es gibt kein Tageslicht, doch die Mädchen sind mit Feuereifer bei der Sache. Die Räumlichkeiten sind groß genug für 200 Mädchen. – Ein Projekt, das wirklich Sinn macht, wie sich die ICO-Delegation gemeinsam mit Bischof Scheuer überzeugen konnte. Ganz so einfach ist es freilich nicht. Manche Mädchen müssen zusätzlich zum Schulbesuch auch noch arbeiten, um ihre Familien zu ernähren.
Ein gemeinsames Abendessen mit Ghassan und Karim Finianos beschließt diesen ereignisreichen Tag in Latakia. Eine schweißgebadete Nacht im Franziskanerkloster liegt vor uns, statt der trockenen Hitze im Landesinneren ist die Luftfeuchtigkeit in Latakia enorm. Die ganz Mutigen versuchen es mit einem Ventilator im Zimmer und riskieren eine schwere Verkühlung.
Freitag, 8. September 2023
Über die Küstenstadt Tartus (wir machen einen kurzen Abstecher ans Meer, ICO-Obmann Dadas und Bischof Scheuer statten dem maronitischen Bischof Antoine Chbeir einen kurzen Besuch ab) geht es weiter ins „Tal der Christen“, wo die ICO in einem Altenheim der griechisch-orthodoxen Kirche in der Ortschaft Al-Mouzineh u.a. die Verpflegung der alten, kranken und beeinträchtigten Menschen übernimmt.
Im „Tal der Christen“
Wir werden nicht nur von Pfarrer Boutros, sondern auch von vielen Kindern begrüßt, die uns in der Kirche einige Lieder bzw. Musikstücke präsentieren. Die Kinder haben dafür extra von der Schule frei bekommen; und zuvor natürlich eifrig geprobt.
Das „Tal der Christen“ ist eine der besseren Regionen Syriens. Es gab hier wie in der gesamten Küstenregion kaum Kampfhandlungen, freilich wurde die Region deshalb auch von Binnenvertriebenen geflutet. Vor dem Krieg gab es in Al-Mouzineh 600 christliche Familien (allesamt griechisch-orthodox), nun sind es 1.200 erzählt der Pfarrer. Sie gehören inzwischen auch verschiedenen Konfessionen an.
Nothilfe sei für die Kirche früher nie ein Thema gewesen, jetzt ist sie allgegenwärtig. Am Anfang hätten auch noch viele NGOs geholfen, erzählt Pfarrer Boutros, deren Zahl hat aber stetig abgenommen. Umso wichtiger sei die Hilfe der ICO.
Das Altenheim im Ort hat die Kirche gebaut. Derzeit sind 30 alte und behinderte Personen untergebracht. Es gibt auch therapeutische Angebote. 40 Personen haben einen Arbeitsplatz. Der Pfarrer möchte gerne noch einen zweiten Stock errichten, um noch mehr Menschen aufnehmen zu können. Der Strom kommt übrigens zu einem großen Teil von einer Solaranlage, die die ICO finanziert hat.
Wir essen gemeinsam mit den alten Menschen zu Mittag. Im Anschluss erzählt der Pfarrer von weiteren Hilfsprojekten der Pfarre: 70 Kranke werden regelmäßig mit Medikamenten unterstützt, für 200 Kinder – auch muslimische Kinder - wurde vor dem letzten Winter warme Bekleidung ausgegeben (von der ICO finanziert), heuer gab es für zahlreiche Kinder Sommerferienlager (von der ICO finanziert), es gibt Unterstützung für Studenten, die Pfarre hat zwei Busse angeschafft, mit denen die Kinder in die Schule gefahren werden, usw.
Wenn der Staat auslässt, springt die Kirche ein: die Pfarre sorgt u.a. auch für die Straßenbeleuchtung, die Müllabfuhr und versorgt die öffentlichen Schulen mit Materialien. Die Kontakte zu den Behörden seien nicht schlecht, meint der Pfarrer. Die allgemeine Lage in Syrien sei aber eben schlimm.
Hoch über Al-Mouzieh thront die Kreuzfahrerfestung Krak de Chevailers. Sie wurde im Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogen, mit ungarischer Hilfe wieder aufgebaut. Ein Besuch geht sich leider zeitlich für uns nicht aus, wir fahren weiter durch die Berge zum Wallfahrtsort Mashta Al Hilu. Hier feiern wir in der Marienkirche einen Gottesdienst, bei dem wieder das Gebet um den Frieden im Mittelpunkt steht.
Die Wallfahrtskirche steht auf dem Gipfel eines kleinen Berges mit einem wunderbaren Ausblick auf die Berge und Täler ringsum. Die Kirche wird von der maronitischen und griechisch-orthodoxen Kirche gemeinsam genutzt. So soll Ökumene sein. Aber auch viele Muslime statten dem Marienheiligtum einen Besuch ab.
Nach dem Gottesdienst sitzen wir noch kurz mit zwei maronitischen Geistlichen zusammen. Einer meint im Gespräch, dass die karitative Hilfe der Kirche natürlich selbstverständlich sei, dabei aber die Seelsorge nicht vernachlässigt werden dürfe. Er würde sich mehr spirituelle Angebote für Jugendliche wünschen. Und auch bei der Ausbildung des Klerus sieht er noch Luft nach oben.
Zu Gast bei Erzbischof Mourad
Von Mashta Al Hilu fahren wir weiter, überqueren das Gebirge und kommen schließlich nach Homs. Es ist schon dunkel, als wir bei Erzbischof Jacques Mourad eintreffen. – Eine zutiefst beeindruckende Persönlichkeit.
Der syrisch-katholischen Erzbischof zeigte sich bei der Begegnung (die dankenswerter Weise mit einem Abendessen beginnt) zutiefst überzeugt, dass es zum Dialog zwischen Christen und Muslimen keine Alternative gibt. Daran habe auch sein traumatisches Erlebnis als Geisel des IS nichts geändert.
Mourad wurde 2015 von Terroristen des "Islamischen Staates" aus seinem Kloster Mar Elian in Syrien entführten und für mehrere Monate festgehalten. Der IS drohte ihm mehrmals mit der Hinrichtung, sollte er nicht zum Islam konvertieren. Mourad blieb standhaft. Nach rund viereinhalb Monaten gelang ihm mithilfe von Muslimen die Flucht. Einige der Fluchthelfer wurden deswegen später vom IS ermordet. Mourad hat seine Erfahrungen in der Gefangenschaft in dem Buch "Ein Mönch in Geiselhaft" festgehalten.
Jacques Mourad stammt aus Aleppo und gehört der syrischen Ordensgemeinschaft Deir Mar Musa el-Habashi (Kloster des Heiligen Moses des Abessiniers) ab, deren Mitbegründer er ist und die sich ganz dem Dialog zwischen Christen und Muslimen verschrieben hat. Mourad kehrte einige Jahre nach seiner Gefangenschaft in sein Kloster Mar Elian in Syrien zurück. Das vom IS schwer beschädigte Kloster wurde wieder aufgebaut. Anfang März 2023 wurde Mourad schließlich zum Erzbischof von Homs geweiht.
Die Revitalisierung des Klosters Mar Elian bezeichnete der Erzbischof als Zeichen der Hoffnung. Auch viele örtliche Muslime hätten an den Feierlichkeiten teilgenommen.
Ein Detail am Rande, das nicht unerwähnt bleiben darf: Mar Elian liegt am Rand der Ortschaft Quarantaine. Der Ort wurde früher von Christen und Muslimen bewohnt. Vom IS wurde 105 Muslime und nur ein Christ ermordet, berichtete der Erzbischof. – Man sieht: Auch die Muslime hatten unter dem Terrorregime schwer zu leiden.
Sehr besorgt zeigte sich der Erzbischof über die anhaltende Auswanderung christlicher Familien. Das sei angesichts des Elends im Land verständlich, schwäche aber die christliche Präsenz in Syrien. Mourad kritisierte in diesem Zusammenhang auch die internationalen Sanktionen gegen Syrien, die nur die einfache Bevölkerung treffen würden.
Die syrisch-katholische Diözese Homs hat so wie auch alle anderen Kirchen im Land in den vergangenen Jahren einen heftigen Aderlass erlitten. Noch zählt die Diözese in Summe rund 2.000 Familien, berichtet Erzbischof Mourad.
Ein herzlicher Empfang in Maskaneh
Es ist schon spät, als wir uns von Erzbischof Mourad verabschieden. Unser Ziel ist das Dorf Maskaneh, wo wir die Nacht im Haus von Iyad Ghanem verbringen werden. (Iyad ist der Leiter der Sozialprojekte der syrisch-katholischen Kirche in der Diözese Homs. – Ein langjähriger ICO-Freund und Projektpartner.) Wir freuen uns auf ein Bett, doch es kommt vorerst anders.
In Maskaneh hat die ICO in den vergangenen Jahren eine Reihe von Hilfsprojekten finanziert. Wir wollen sie morgen besuchen. Do ch als wir bei Iyads Haus ankommen, werden wir von einer Abordnung der muslimischen „Würdenträger“ des Dorfes begrüßt. Mit dabei sind der örtliche Scheich und der Dorfvorsteher. Sie bedanken sich herzlich für die bisherige Hilfe. Viele Reden werden gehalten. Und zum Schluss – wie könnte es auch anders sein – gibt es die Bitte um Hilfe für weitere Projekte. Trotzdem war diese nächtliche Begegnung eine sehr nette Episode.
Iyad stellt uns sein Haus für die Nacht zu Verfügung. Die hohe Geistlichkeit ruht in Einzelzimmern, die übrigen Delegationsmitglieder sind in Ehebetten oder Kinderzimmern untergebracht. Aber wir wissen die Gastfreundschaft sehr zu schätzen.
Samstag, 9. September 2023
Ein Besuch in der Baby-Klinik
Wir beginnen unseren letzten Tag in Syrien mit dem Besuch der Babyklinik In Maskaneh. Die Klinik wird von der syrisch-katholischen Kirche betrieben und von der ICO finanziell unterstützt wird. Rund 300 Babys und Kinder werden hier jeden Monat kostenlos medizinisch untersucht. Die Kinderärztin ist Iyads Frau Hanna. Viele Kinder haben Entwicklungsverzögerungen, erzählt die Ärztin. Asthma ist ein weiteres großes Thema. Ein weiteres Problem: wenn die Mütter keine Muttermilch haben, ist guter Rat oft teuer. Künstliche Muttermilch ist in Syrien extrem teuer und oft sind die Produkte auch nicht erhältlich. Von weit her kommen die Frauen mit ihren Kindern, die Behandlung ist schließlich kostenlos. Wir sehen nur muslimische Mütter.
In Maskaneh erhalten zudem jeden Monat 60 bedürftige Familien mit behinderten Angehörigen kostenlos Windeln in zwei lokalen Apotheken, die ebenfalls von der ICO finanziert werden. Wir besuchen beide Apotheken. Eine wird von einer Muslima betrieben, die zweite von einem Christen. Die Menschen sind sehr dankbar für die Unterstützung. Freilich: Oft reichen die Windeln nicht aus und es gibt wesentlich mehr Familien, die auch diese Unterstützung bräuchten.
Iyad führt uns schließlich zu einer Familie, die eine besonders tragische Geschichte hat. Firad ist mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen Stevan und Julian nach Deutschland ausgewandert, nach einigen Jahren aber mit seiner Familie zurückgekehrt nach Syrien. Warum? Weil seine Mutter nach dem Tod des Ehemanns allein war. Die Geschwister Firads leben in Kanada und Australien. Niemandem gelang es vorerst, die Mutter nachzuholen. Also ging Firad zu rück. Schließlich bekam die Mutter doch ein Visum für Kanada. Sie lebt nun dort, Firad und seine Familie haben nun aber keine Chance mehr auf eine nochmalige Auswanderung nach Deutschland. Besonders tragisch: Der 15-jährige Julian ist schwerst behindert, sitzt im Rollstuhl und bräuchte dringende eine hoch spezialisierte Behandlung. In Syrien ist dies unmöglich. – Wie lange hat er noch zu leben? Das Schicksal der Familie macht uns betroffen. Kann man helfen?
Begegnungen in Homs
Wir fahren zurück nach Homs und statten dem Jesuitenkloster einen kurzen Besuch ab. Wir beten am Grab von Pater Frans Van der Lugt um Frieden. Der Ordensmann hatte als letzter Europäer in der umkämpften Stadt ausgehalten und war 2014 von Islamisten ermordet worden.
Danach suchen wir den syrisch-orthodoxen Bischofssitz auf. Dort treffen wir auf die Verantwortlichen der Jugendbewegung „Young 4 Ever“. Die Initiative wurde in Sadat gegründet, wo auch die meisten Aktivitäten abgehalten werden. Es gibt ein umfangreiches soziales und spirituelles Programm. U.a. auch Sommeraktivitäten für Kinder, die die ICO heuer erstmals unterstützt hat.
Die Stadt Sadat liegt im südöstlichen ländlichen Teil der Provinz Homs. Der syrisch-orthodoxe Priester Pater Boutrus begann vor gut zehn Jahren im Kloster Mar Antonios al-Kabir seinen Dienst für die Menschen von Sadat. Er organisierte erste Studenten-Treffen, die 2013 zur Gründung von „Young 4 Ever“ („Jugendbewegung von Mar Antonios al-Kabir für Universitätsabsolventen“)" führten, die auch als "Shabab 'ala Tool" bekannt ist.
„Young 4 Ever“ umfasst junge Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren und ihre Zahl schwankt von Zeit zu Zeit zwischen 30 und über 100 aktiven Mitgliedern. Alles begann mit wöchentlichen Treffen, bei denen religiöse, soziale und kulturelle Themen behandelt wurden. Später bildeten sich verschiedenen Gruppen, die soziale Dienst übernahmen, etwa den Besuch von Kranken.
Auch Feste wie Weihnachten, Neujahr oder die Passionstage wurden in besonderer und auch kreativer Weise gefeiert. Es gibt auch Veranstaltungen für Senioren und Menschen mit besonderen Bedürfnissen, für Schülern mit herausragenden Abitur-Leistungen, die jungen Erwachsenen organisieren Muttertagsfeiern, Wohltätigkeitsbasare, spirituelle und kulturelle Veranstaltungen und Ferienlager für Kinder. Die Jugendlichen organisieren Sammlungen und Verteilungen von Kleidung und sie arbeiten mit einer humanitären Organisation zusammen, um Milch und Windeln für Kinder zu organisieren.
Im Bischofshaus treffen wir mit den Verantwortlichen der Bewegung und jungen Mitarbeitenden zusammen. Vor allem die Begegnung mit den jungen Menschen, die trotz widrigster Bedingungen nicht aufgeben, sind jedes Mal extrem beeindruckend. Beispielhaft sei hier die 20-jährige Jessica erwähnt, die zu Kriegsbeginn acht Jahre alt war. Mehrmals musste ihre Familie bereits innerhalb von Syrien fliehen, alle ihre Freunde hätten das Land inzwischen verlassen. Sie hat natürlich auch immer wieder darüber nachgedacht, wollte letztlich ihre Familie aber nicht im Stich lassen. Und so engagiert sie sich bei „Young 4 Ever“.
Ein Kinderfest in Maskaneh
Unser letzter offizieller Programmpunkt ist schließlich das Abschlussfest eines Sommerlagers für die Kinder von Maskaneh, das von der örtlichen syrisch-katholischen Pfarre gemeinsam mit der ICO durchgeführt wurde. Unter anderem gibt es in einer Ausstellung die Möglichkeit, Bastelarbeiten der Kinder zu besichtigen. Bischof Scheuer wird die Ehre zuteil, die Ausstellung hochoffiziell zu eröffnen, zu der auch die Familienangehörigen der Kinder gekommen sind.
Zurück im Haus von Iyad wartet auf uns noch der letzte Höhepunkt unserer Syrien-Reise. Eine kleine Grill-Party zum Abschluss. Dermaßen gestärkt starten wir am späten Nachmittag und treten die Heimreise an. Von der Provinz Homs geht es vorerst zurück Richtung Süden nach Damaskus, wo wir uns aber nicht aufhalten, sondern gleich weiterfahren zur Grenze. Am späteren Abend ist an der Grenze wenig los, der Grenzübertritt ist zwar wieder mit viel Bürokratie verbunden, sonst aber problemlos. Gegen 21 Uhr sind wir wieder im Libanon. Nach einem längeren Halt in einem Cafe erreichen wir um ca. 1 Uhr nachts oder morgens den Flughafen in Beirut, wo wir uns von Stefan Maier verabschieden, der noch einige Tage ICO-Projekt besuche und Urlaub im Libanon anhängt. Alle anderen treten den Rückflug (via Istanbul) nach Wien an.