Polak: Individualismus hat mit Corona Zenit überschritten
Der übertriebene Individualismus dürfte nach den Worten der Theologin Regina Polak durch die Corona-Krise einen Dämpfer erhalten haben: Es gebe zwar immer noch Menschen, die ihr "Lifedesign" in den Mittelpunkt stellten, doch Gruppen mit sehr hohen Solidarwerten und aktivem Einsatz für Nöte und Sorgen anderer seien im zivilgesellschaftlichen Bereich im Aufwind, beobachtete die Werteforscherin am Mittwochabend bei der YouTube-Diskussion "Figltalk goes online" der Wiener Akademie für Dialog und Evangelisation.
Wie ein Vergrößerungsglas habe die Pandemie etliche schon zuvor existente Entwicklungen - positive wie negative - sichtbarer gemacht, erklärte die Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. "Die Gruppen, die sich schon davor solidarisch für das Gemeinwohl eingesetzt haben, sind fantasievoll und machen das jetzt noch viel stärker." Doch auch die Einsamkeit von Menschen werde in zugespitzter Form vor Augen geführt, ebenso wie soziale Ungleichheiten oder Schieflagen.
Welche Erzählung über die Krise und ihre Bewältigung sich langfristig durchsetze, sei offen, sagte Polak. Das nunmehrige Hochfahren werde Deutungskämpfe bringen, die unbedingt demokratisch verlaufen sollten, so die Hoffnung der Theologin. Die Zukunft hänge auch davon ab, "welcher Krisendeutung jeder Einzelne glaubt und was er aus dieser Krise lernen möchte". Dabei handle es sich durchaus um ethische Entscheidungen, befand die Expertin bei der Diskussion unter dem Titel "Verantwortung gesucht: Krise, Grenzen, Rezession".
Epidemien hätten in der Geschichte öfters zu Werteverschiebungen geführt, sagte die Theologin, deren Bewertung hier differenziert ausfiel: Pestzeiten hätten teils auch Egoismen anwachsen und "Misstrauen und Hass in die Familien hinein wandern" lassen; der Glaube an einen gut geordneten Kosmos sei erschüttert, zugleich aber auch das Vertrauen an Naturwissenschaften gestärkt worden. Indirekte Bezüge sah Polak zwischen der Spanischen Gruppe von 1918 und dem Entstehen von Faschismus in Europa: Weil sich die Politik zu wenig um die Seuche gekümmert hätte, habe ihr die Bevölkerung das Vertrauen entzogen.
Neue Form von Nähe
Für eine Neudefinition von "Individualisierung" angesichts der Coronakrise sprach sich bei dem Online-Podium Zukunftsforscher Tristan Horx aus. Die Menschen würden sich nicht unbedingt nach Kollektivismus sehnen, "aber nach einer neuen Form von Nähe". Vor Corona hätten sich die Menschen beispielsweise in Onlinediskussionen nicht mehr anhand von Fakten, sondern anhand von Meinungen ausgetauscht, was schon fast "überindividualisiert" gewesen sei. Am Horizont sehe er "eine neue Wir-Kultur", die eine Synthese von Individualisierung und Kollektivismus schaffe. "Unsere Unterschiede und die daraus entstehende Reibung sind das, was uns als Gesellschaft so viel Produktivität gibt", so Horx.
Die Notwendigkeit öffentlicher Diskursräume mahnte bei der Debatte Daniela Kraus, Generalsekretärin des Presseclubs Concordia, ein. Wichtig sei dies, da sich Individuen und Gruppen in ihren Wünschen wie auch in der Argumentationsbasis oft deutlich unterschieden. Das erschwere demokratische Verhandlungsprozesse über die Zukunft der Gesellschaft deutlich.
Quelle: kathpress