Psalmen – Gebete auf dem Weg /Teil 5
Das Chaos unter den Völkern und der Messias Gottes – Überlegungen zu Psalm 2
Mit einer Seligpreisung wurden die Beterinnen und Beter am Eingangsportal des Psalters in Ps 1,1 empfangen.1 Mit einer weiteren Seligpreisung „Selig alle, die bei ihm [beim HERRN] sich bergen“ werden sie am Ende des zweiten Psalms in V 12 aus der Vorhalle entlassen, um in den Gebetsraum des Psalters einzutreten. Die Rahmung der beiden einleitenden Psalmen mit einer Seligpreisung (Ps 1,1 und 2,12) macht deutlich, dass die beiden Psalmen gemeinsam zum Psalmengebet hinführen wollen.
Dabei unterscheiden sich die beiden ersten Psalmen sehr deutlich voneinander. Psalm 1 spricht über einen einzelnen Gläubigen und ermutigt ihn, dem göttlichen Willen, der Tora JHWHs, zu folgen, damit sein Leben gelinge. Psalm 2 hingegen wendet sich an eine aufbegehrende Völkerwelt, die ein Leben nach der Weisung Gottes als Last abschütteln will und JHWH und seinem Gesalbten (seinem Messias) den Kampf erklärt. War der erste Psalm von einem Leben nach dem göttlichen Willen bestimmt, so stellt uns der zweite den Messias Gottes vor Augen.
Ein Messias – wer und was ist das?2
Um zu verstehen, was es mit dem Messias auf sich hat, ist es nötig, den Blick über die Bibel hinaus in den Alten Orient zu weiten. Nach den altorientalischen Vorstellungen ist die Schöpfung durch einen Kampf des Schöpfers gegen das Chaos entstanden.3 Die siegreiche Schöpfergottheit baut sich, nachdem sie den Chaosdrachen besiegt hat, einen Palasttempel im Himmel. Dieser im himmlischen Palast thronende Gott ist zugleich Garant für den Erhalt und die Ordnung der Schöpfung (vgl. Ps 93). Doch bedarf er eines irdischen Repräsentanten, damit dieser von ihm eingesetzte und gesalbte König die Schöpfung im Sinne Gottes gestalte und das ständig drohende Chaos fernhalte. Durch die Salbung (māšaḥ=salben) wird der von Gott beauftragte Herrscher für seine Aufgabe gestärkt und zugerüstet. Zur Aufgabe des messianischen Königs gehört es somit, zerstörerische Kräfte, die in Form von Kriegen, von Unterdrückung und Verfolgung, von Ungerechtigkeit und rücksichtsloser Gewalt über die Gesellschaft, ja die gesamte Menschheit hereinbrechen und sie verwüsten können, in ihre Schranken zu weisen, damit ein Leben nach Recht und Gerechtigkeit und im Frieden möglich ist.
Vom Aufstand der Völker (V 1–3)
Der Psalm beginnt mit einem universalen Aufbegehren der Völker, das jedoch sinnlos ist, wie die einleitende Fragepartikel „wozu?“4 deutlich macht.
1 Wozu toben die Völker, wozu ersinnen die Nationen nichtige Pläne?
2 Die Könige der Erde stehen auf, die Großen tun sich zusammen gegen den HERRN und seinen Gesalbten.
3 Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!
Für die subversiven Planungen der Völker verwendet der Verfasser das gleiche Verbum (hāgāh = „ersinnen“), das in Psalm 1,2 für das Nachsinnen und Meditieren der Tora stand. Im Herzen des Menschen wurzelt neben der Sehnsucht nach Gott und einem Leben nach seinem Willen auch die Sucht nach Einfluss, Macht und Reichtum – nach einer vergötzten Welt, die chaotische Kräfte entfesseln kann. Die Aggression der aufbegehrenden Völker richtet sich gegen JHWH, den Gott Israels, und gegen seinen Messias. Damit ist der Konflikt recht präzise benannt. Die von Gott geordnete Schöpfung, zu deren Erhalt und Erneuerung der Messias in Gottes Namen beauftragt ist, wird von den Völkern als Last, als Einschränkung empfunden. Deshalb ihr Vorhaben, die Fesseln zu zerreißen, die Stricke abzuwerfen und die Schöpfung nach eigenem Gutdünken und den eigenen Bedürfnissen zu gestalten.
Gottes überlegene Souveränität (V 4–6)
Szenenwechsel. Der Psalmist entführt uns in den Raum der Transzendenz, in die Umgebung des göttlichen Thrones. Mit dem Hinweis auf Gottes spöttisches Lachen wird das menschliche Aufbegehren zunächst in seiner Lächerlichkeit entlarvt. Dann jedoch ist vom leidenschaftlichen Engagement Gottes („sein Zorn“, „sein Grimm“) die Rede, mit dem er die Völker auf die Gestalt des von ihm eingesetzten Messiaskönigs hinweist.
4 Er, der im Himmel thront, lacht, der HERR verspottet sie.
5 Dann spricht er in seinem Zorn zu ihnen, in seinem Grimm wird er sie erschrecken:
6 Ich selber habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg.
Der Berg Zion, auf dem in biblischen Zeiten der Tempel stand, galt als Ort der besonderen Gegenwart Gottes. Auch wenn der von Salomo erbaute Tempel (vgl. 1 Kön 6–8) durch die Babylonier zerstört wurde (587/86 v. Chr.) und nach dem Babylonischen Exil der Wiederaufbau eines bescheideneren Tempels erfolgte5, der Berg Zion blieb auch nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) ein Ort besonderer Gottesnähe. Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der von Gott eingesetzte König und Messias ist die göttliche Alternative gegen das die Welt überflutende Völkerchaos. Gottes Antwort auf die Verlorenheit der Menschheit ist sein Messias.
Der Messias als Werkzeug Gottes (V 7–9)
Nach der Szene im Himmel verkündet eine nicht näher bekannte Person, vielleicht ein Prophet, ein Gotteswort, das an den messianischen König auf dem Zion ergeht.Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt.
8 Fordere von mir und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Eigentum die Enden der Erde.
9 Du wirst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern.
„Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt.“ Dieser prophetische Spruch, der im Neuen Testament auf Jesus bezogen wird, sieht den König in einem besonderen Verhältnis zu Gott. Durch seinen Gesalbten will Gott seine Heilspläne auf Erden verwirklichen. Gott selber überträgt ihm die Herrschaft über die Völker, bis an die Enden der Erde (vgl. Mt 28,16-20). Aber kann die Durchsetzung der Gottesherrschaft durch Anwendung von Gewalt geschehen, wie V 9 nahelegt? Hinter dieser Aussage steht ein uraltes Bild, eine symbolische Handlung aus dem Alten Ägypten: „der Ritus vom Niederschlagen der Feinde“. In einer rituellen Handlung werden Gefäße, die symbolisch für Feinde stehen, zertrümmert. Gemeint ist damit der entschiedene Kampf gegen die zerstörerischen Kräfte, damit Recht und Gerechtigkeit einkehren können.
Mahnung zur Umkehr
Der Psalm endet jedoch nicht mit einer Vernichtung der Feinde, wie der vorausgehende Vers angedroht hatte, sondern mit einer Mahnung zur Umkehr. Erneut sind, wie in der ersten Strophe (V 1-3) die Völker angesprochen. Ihnen wird dringend ans Herz gelegt, vom Aufbegehren gegen die Schöpfungsordnung Gottes Abstand zu nehmen und zur Einsicht zu kommen. Dies bedeutet, zum Herrn zurückzukehren und zu ihm in ein Verhältnis zu treten.
10 Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch warnen, ihr Richter der Erde!
11 Mit Furcht dient dem HERRN, jubelt ihm zu mit Beben,
12 küsst den Sohn, damit er nicht zürnt und euer Weg sich nicht verliert, denn wenig nur und sein Zorn ist entbrannt. Selig alle, die bei ihm sich bergen!
Anstelle von Aufruhr und Revolte fordert der Psalmist dazu auf, Gott in Ehrfurcht zu dienen und ihm bebenden Herzens zuzujubeln. Die Aufforderung, den Sohn zu küssen, dürfte als Geste der Unterwerfung zu verstehen sein, aber auch der Ehrerbietung. In der Anerkenntnis des von Gott eingesetzten Messias finden die Völker den Weg zum Leben. Wie eine dringliche Mahnung, die Weisung Gottes doch anzunehmen, wirkt der Hinweis darauf, dass der Lebensweg im Falle der Verweigerung als Irrweg im Gerichtszorn Gottes enden wird. Die abschließende Seligpreisung lädt nochmals alle dazu ein, Bergung und Heimat beim Herrn zu suchen. In ihr drückt sich aus, worum es Gott und seinem Messias geht.
Jesus – als der Messias Gottes
Das Neue Testament erkennt in Jesus von Nazaret diesen Messias. Das Toben der Völker (V 1-2) wird auf die Ablehnung Jesu und die Verfolgung seiner Jünger durch Herodes und den Hohen Rat, Juden und Heiden bezogen (Apg 4,25-26). Paulus zitiert in der Synagoge von Antiochia in Pisidien (Apg 13,33) V 9 als Schriftbeweis, um die besondere Nähe Jesu zu Gott („Mein Sohn bist du …“)6 und die Auferstehung zu begründen („… heute habe ich dich gezeugt“). Beim Gottesdienst und im Stundengebet wird Ps 2 in der Weihnachtszeit mehrfach gebetet. In der Syrischen Kirche gab es den Brauch des Hostienkusses beim Empfang der Kommunion, vermutlich inspiriert durch V 12: „küsst den Sohn“. Diese Geste der Verehrung findet sich in den weihnachtlichen Erzählungen in der Anbetung der Hirten und der Weisen aus dem Osten. Die weihnachtlichen Gesänge drücken als Minnelieder7 ihre innige Liebe zum Kind in der Krippe aus. So könnte der zweite Psalm in einer vom Chaos heimgesuchten Welt zu unserem Begleiter durch die weihnachtliche Festzeit werden.
Prof. Dr. Franz Sedlmeier, Universität Augsburg
Nächste Nummer:
„Wie lange noch, HERR, vergisst du mich ganz?“ (Ps 13,2). Klagend beten mit Psalm 13
Die erste Lesung in der Heiligen Nacht (Jes 9,1-6) berichtet von der Geburt eines Kindes, des Messias. Diese Geburt löst große Freude aus. Mit seinem Kommen wird das Chaos überwunden („drückendes Joch“; „Stock des Antreibers“; „Soldatenstiefel“; „Mantel, mit Blut befleckt“). Recht, Gerechtigkeit und Frieden kehren ein. So strahlt dem Volk in der Finsternis und im Schatten des Todes ein Licht auf, das Licht des Lebens. Es kehrt die große Freude ein.
1 Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf. 2 Du mehrtest die Nation, schenktest ihr große Freude. Man freute sich vor deinem Angesicht, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird. 3 Denn sein drückendes Joch und den Stab auf seiner Schulter, den Stock seines Antreibers zerbrachst du wie am Tag von Midian. 4 Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. 5 Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. 6 Die große Herrschaft und der Frieden sind ohne Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, es zu festigen und zu stützen durch Recht und Gerechtigkeit, von jetzt an bis in Ewigkeit. Der Eifer des HERRN der Heerscharen wird das vollbringen.
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1 Siehe die letzte Nummer, Betendes Gottes Volk 2024/3 Nr. 299, S. 12-13.22.
2 Vgl. dazu: Betendes Gottes Volk 2022/4 Nr. 292, S. 10-11.18.
3 Die Schöpfung ist nach der biblischen Offenbarung durch Gottes Wort aus dem Nichts ins Dasein gerufen („creatio ex nihilo“). Doch prägen die altorientalischen Vorstellungen auch die biblische Sprache. Deshalb ist es notwendig, ein wenig damit vertraut zu sein. Reste dieser alten mythischen Erzählungen sind in der Bibel noch erhalten. So ist die Vorstellung einer Schöpfung als Kampf gegen das Chaos in Ps 74,12-18 präsent. Spuren davon finden wir, wenn von Leviathan (Ps 74,14, Jes 27,1), vom Meeresdrachen (Ps 74,13; Jes 27,1), von den chaotischen Wassermassen die Rede ist. Aufgabe des Messias ist es, der Gerechtigkeit und dem Frieden zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Ps 72).
4 Die Einheitsübersetzung übersetzt mit „warum?“ Doch es wird nicht nach einem Grund („warum?“) gefragt, sondern auf die Sinnlosigkeit des Aufruhrs hingewiesen („wozu?“).
5 Den nach dem babylonischen Exil erbauten Tempel hat König Herodes der Große um die Zeitenwende gründlich und mit viel Glanz umgestaltet. Dieser herodianische Tempel, den Jesus zu Lebzeiten besucht hat, wurde beim jüdischen Aufstand 70 n. Chr. von den Römern zerstört. Noch heute gilt der Zion, auf dem über dem damaligen Tempel der Felsendom als islamische Moschee steht, dem frommen Juden als Ort der besonderen Gottesnähe, wie die betenden Gläubigen an der Westmauer des Tempelareals (Klagemauer) zeigen.
6 Die besondere Nähe des Sohnes zu Gott betont auch der Hebräerbrief. Der Messias Jesus habe eine den Engeln weit überlegene gottähnliche Stellung (Hebr 1,5; 5,5). In der Tat: Engel sind Geschöpfe. Der Sohn indessen „Gott von Gott, Licht von Licht“ (Credo).
7 Das mittelhochdeutsche Wort „minnen“ bedeutet ursprünglich „liebend gedenken“. Vgl. das Lied von Friedrich Spee (1697) „Zu Betlehem geboren“ (GL 239).