Kirche im Jahr 1938: Über damals "nicht zu Gericht sitzen"
Für Zurückhaltung bei moralischen Urteilen und beim Verteilen von "Haltungsnoten", was das Verhältnis der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus betrifft, hat sich der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber ausgesprochen. Aus heutiger Sicht sei es zu billig, über damals "zu Gericht zu sitzen", doch redlicherweise bedürfe es großer Differenzierung beim Blick etwa auf die Ereignisse im Jahr 1938.
Ähnliche Plädoyers für Behutsamkeit äußerten beim Symposium "Katholische Kirche zwischen 1918 und 1938/'Christus ist euer Führer'", veranstaltet von der Bischofskonferenz gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Verbände (AKV) und der Katholischen Aktion Österreich (KAÖ) am Freitag im Wiener Erzbischöflichen Palais auch andere Referenten, etwa Ex-Stadtschulratspräsident Kurt Scholz als Vertreter des Zukunftsfonds der Republik Österreich oder die Wiener Kirchenhistorikerin Annemarie Fenzl. Anlass der Veranstaltung waren der 80. Jahrestag der Feier des Rosenkranzfestes am 7. Oktober 1938 im Wiener Stephansdom - es handelte sich um die größte kirchliche Widerstandsmanifestation Nazideutschlands - und der 100. Jahrestag der Proklamation der Republik (12.11.1918).
Scholz kritisierte, dass der damalige Wiener Erzbischof, Kardinal Theodor Innitzer, von einer oft "reduktionistischen" zeitgenössischen Geschichtsschreibung meist nur als Verantwortlicher für die "Feierliche Erklärung" der österreichischen Bischöfe mit dem Ja zum "Anschluss" an Hitlerdeutschland und für das handschriftlich darunter gesetzte "Heil Hitler" gesehen werde. Wie beim späteren ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik, dem Sozialdemokraten Karl Renner, der im März 1938 ein öffentliches Ja zum "Anschluss" sagte, müsse auch bei der Beurteilung Innitzers das gesamte Lebenswerk in den Blick genommen werden.
Fenzl, frühere Büroleiterin von Kardinal Franz König, erinnerte dazu an die von Innitzer errichtete "Hilfsstelle für nichtarische Katholiken", die Fluchthilfe für Hunderte NS-Verfolgte leistete. Über seinen als "Kotau" kritisierten Besuch am 15. März 1938 bei Adolf Hitler im Hotel Imperial, der zu einem Modus vivendi mit den neuen Machthabern führen sollte, habe der Kardinal später gesagt: "Ich konnte doch nicht ahnen, dass mich dieser Mann so belügt!" Aus der Geschichte zu lernen muss nach den Worten der langjährigen Wiener Diözesanarchivarin bedeuten, Verständnis für die jeweiligen Zeitumstände aufzubringen - und auch, selbstkritisch die Frage zu stellen: "Wie hätte ich gehandelt?"
Kirche leistete der Republik Geburtshilfe
Die Vortragenden beleuchteten bei der Tagung sowohl das Republikgründungsjahr 1918 als auch das "Schicksalsjahr" 1938 und seine Folgen für das Verhältnis der Kirche zum Nationalsozialismus. Als Gäste begrüßte der Leiter des Medienreferates der Bischofskonferenz, Paul Wuthe, u.a. den Linzer Bischof Manfred Scheuer, die emeritierten Bischöfe Maximilian Aichern (Linz) und Klaus Küng (St. Pölten), den Wiener Bischofsvikar Dariusz Schutzki sowie seitens der Israelitischen Kultusgemeinde deren Generalsekretär Raimund Fastenbauer. Anwesend waren auch die Präsidenten des Katholischen Laienrats, Wolfgang Rank, und der AKV, Helmut Kukacka.
Die Grazer Kirchenhistorikerin Michaela Sohn-Kronthaler schilderte den bemerkenswerten Kurswechsel der "de facto von Kaiser Franz Joseph ernannten" Bischöfe von "unentwegter Treue" zur Habsburgermonarchie hin zu einem Loyalitätsaufruf zugunsten der Demokratie im November 1918. Noch am Tag der Republik-Proklamation, dem 12. November, mahnte der Wiener Kardinal Friedrich Piffl seinen Klerus und die Gläubigen zur unbedingten Treue gegenüber dem nun rechtmäßigen Staat Deutschösterreich; der ursprüngliche Plan der Bischöfe, die Monarchie nach Kriegsende zu erhalten, wurde fallengelassen und eine Volksabstimmung über die künftige Staatsform angeregt - die aus katholischer Sicht "kein Dogma" sei, wie Piffl wissen ließ.
Begründet wurde dies laut Sohn-Kronthaler mit dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin, der bereits im Mittelalter "die Teilnahme möglichst aller an der Regierung" als am ehesten friedensfördernd und dem Gemeinwohl dienend befürwortete. 1918 und dann aber auch 1938 habe die Kirche damit jenen "Pragmatismus" gezeigt, der ihr ein möglichst unbeeinträchtigtes seelsorgliches Wirken sichern sollte. Jedenfalls habe die Kirche in der Zeit nach der tiefgreifenden politischen Wende nach dem Ersten Weltkrieg eine stabilisierende Wirkung in der jungen Republik ausgeübt, resümierte Sohn-Kronthaler.
Dass dieser Schwenk von manchen Teilen der Kirche kritisch gesehen wurde, stellte Helmut Wohnout vom Wiener Karl-von-Vogelsang-Institut dar. Er warf auch einen differenzierten Blick auf Ignaz Seipel, der 1918 zunächst "Bindeglied zwischen Kaiser, Kardinal Piffl und den Spitzen des politischen Katholizismus" und danach als erster Geistlicher in Österreich Minister wurde. Der später als "Prälat ohne Gnade" verschriene Seipel verfolgte laut Wohnout im Gründungsprozess der Republik eine klare Linie der "Demokratisierung des politischen Systems ohne Rücksicht auf feudal-aristokratische Relikte bei gleichzeitiger Erhaltung des Kaisers an der Spitze des Staates". Als er erkannte, "dass das Kaisertum nicht zu retten war", habe der vormalige Moraltheologieprofessor maßgeblichen Einfluss auf die Art des Rückzugs Kaiser Karls aus der Politik genommen.
Staatlicher Obrigkeit war Gehorsam zu leisten
Warum es unter der Naziherrschaft seitens der kirchlichen Hierarchie zu einer beschwichtigenden "Appeasement-Politik" kam, begründete die Kirchenhistorikerin Sohn-Kronthaler zum einen mit der auf den paulinischen Römerbrief zurückgeführten katholischen Tradition, der jeweiligen staatlichen Obrigkeit Gehorsam zu leisten, zum anderen mit dem Bestreben, trotz vieler Schikanen die Seelsorge abzusichern. Die Bischöfe wie der von den Nazis sogar kurzzeitig inhaftierte Grazer Oberhirte Ferdinand Pawlikowski seien im Zuge des "Anschlusses" unter enormem Druck gestanden, dem Diktat von Gauleiter Josef Bürckel Folge zu leisten. Bereits am 12. März 1938, dem Tag der NS-Machtübernahme, wurden laut Sohn-Kronthaler, Priester und Laien verhaftet, die Caritas, Klöster und kirchliche Schulen sowie Organisationen beschlagnahmt oder aufgelöst.
Dass es am 7. Oktober 1938 beim und nach dem Rosenkranzfest im Wiener Stephansdom zu einer Manifestation christlichen Widerstands gegen das Regime kam, war nach den Worten des Wiener Kirchenhistorikers Klieber untypisch für das sonst öffentlich unspektakuläre Verhältnis zwischen Kirche und Nationalsozialismus. Kardinal Innitzer löste damals mit seiner Predigt vor rund 7.000 begeisterten jungen Katholiken und dem Satz "Euer Führer ist Christus" eine "Panne" aus, eine ungeplante Kundgebung vor dem Erzbischöflichen Palais, die tags darauf ein gewaltsames Eindringen der Hitlerjugend ebendort zur Folge hatte. Eine Woche später fand eine Massenkundgebung der Nationalsozialisten mit 200.000 Menschen auf dem Wiener Heldenplatz statt, in der Gauleiter Bürckel gegen Innitzer und die Kirche Stimmung machte. Auf Spruchbändern war dabei zu lesen: "Die Pfaffen an den Galgen" oder "Innitzer und Jud, eine Brut".
Im Vatikan war man über den zunächst liebdienenden Kurs der Kirche in Österreich entsetzt, so Klieber; Nuntius Gaetano Cicognani berichtete nach Rom über Angst und Depression, ja "echten Wahnsinn" in Wien. Innitzer wurde in den Vatikan zu einer "stürmischen Unterredung" mit dem NS-Kritiker Pius XI. zitiert, von der bekannt sei, der Papst sei bereit gewesen, den Rücktritt des Wiener Kardinals anzunehmen, "den Innitzer aber nicht anbot". Die öffentliche Zurückhaltung bei der kirchlichen Kritik an den Nazis in Österreich führte laut dem Kirchenhistoriker zu einem zwar beschränkten Freiraum und zum Aufbau von Strukturen, die letztlich zur Grundlage für die "goldenen kirchlichen Jahre zwischen 1945 und 1965" genutzt wurden.
Kirchliche "Überlebensstrategien"
Kirchliche "Überlebensstrategien unter dem NS-Regime" legte die frühere Wiener Schulamtsleiterin Christine Mann dar. Die Bandbreite habe hier von "völliger Unterwerfung" gerade in der Zeit nach dem "Anschluss" bis hin zu widerständigen, neu geschaffenen Strukturen wie der Abteilung für kirchliche Rechtswahrung - die sich hinter jeden ihr bekannt gewordenen Fall von Übergriffen, Vertragsbrüchen und Gesetzesverletzungen setzte - gereicht.
Gezeigt hat sich laut Mann ein gewisses "Beharrungsvermögen von Systemen und Menschen" etwa gegenüber der systematische Entkonfessionalisierung des gesamten Schulwesens im dann Ostmark genannten Österreich: Viele geistlicher Religionslehrer hätten auf Bitten ihres Bischofs auch ohne Gehalt weiterhin unterrichtet, als Religion zu einem unbenoteten Freigegenstand mutierte. Und viele Eltern - österreichweit zwischen 50 und fast 100 Prozent - hätten ihre Kinder zum Religionsunterricht angemeldet, "aus Überzeugung oder auch nur aus Gewohnheit", wie Mann sagte.
Nach dem Krieg Verzeihen auch ohne Reue
Nach Kriegsende verfolgte die katholische Kirche in Österreich eine Politik des "Verzeihens um jeden Preis", die jedoch auf die theologisch geforderte Reue der vormaligen Nazis verzichtete. Darauf wies die ORF-Redakteurin und Buchautorin Eva Maria Kaiser ("Hitlers Jünger und Gottes Hirten") beim Symposium hin. ÜberJahre hinweg bekamen die alliierten Besatzungsmächte Begnadigungsgesuche des heimischen Episkopats zugunsten von Mitläufern, "von der Propaganda Verführten" und in manchen Fällen sogar für verurteilte Kriegsverbrecher. Ziel sei es gewesen, die rund 550.000 ehemaligen NSDAP-Mitglieder - mit ihren Angehörigen rund ein Viertel der Bevölkerung - wieder in die Gesellschaft und die Kirche zu integrieren.
Kaiser recherchierte für ihre mehrfach ausgezeichnete Dissertation in allen österreichischen Diözesanarchiven und stieß dabei auf einen heute befremdlich ignoranten Umgang mit den von den Nazis verfolgten Geistlichen: Immerhin 700 Priester wurden inhaftiert, 110 kamen ins KZ, von denen 83 überlebten - und nach ihrer Heimkehr oft auf Ignoranz oder gar Ablehnung aus schlechtem Gewissen stießen. Der Innsbrucker Caritasdirektor Josef Steinkelderer habe als ehemaliger KZ-Priester in einem Brief an seinen Bischof Paul Rusch Jahre nach Kriegsende eine unter Klerikern verbreitete "Geschichtsfälschung" beklagt, die seinesgleichen "als Opfer ihrer Dummheit oder ihres schlecht beratenen Übereifers" darstelle.
Das Symposium - eine von mehreren kirchlichen Gedenkveranstaltungen - endete mit einer vom Linzer Bischof Scheuer geleiteten Messe in der Wiener Dominikanerkirche. Die Österreichische Bischofskonferenz plant eine Publikation mit den Manuskripten aller Vortragenden. (Info: www.bischofskonferenz.at/gedenkjahr)
Quelle: kathpress