Gedenkjahr: Marathonlesung am Sonntag auf dem Stephansplatz
Ein Höhepunkt des Gedenk- und Bedenkjahrs 2018 findet am Sonntag, 7. Oktober, in einem Zelt auf dem Stephansplatz statt: Von 10 bis 24 Uhr werden 100 "Lesende" - Persönlichkeiten aus Politik, Kirche, Kultur, Wissenschaft - das Mauthausen-Buch des großen griechischen Theaterautors und Lyrikers Iakovos Kambanellis "Die Freiheit kam im Mai" zu Gehör bringen. Die Veranstaltung steht unter dem Ehrenschutz von Kardinal Christoph Schönborn, Metropolit Arsenios (Kardamakis), Bischof Michael Bünker, Oberrabbiner Arie Folger, Altbundespräsident Heinz Fischer, des griechischen Altpräsidenten Karolos Papoulias und des früheren griechischen Außenministers Dimitris Droutsas.
Die Veranstaltung wird auf eine Videowall und als Livestream übertragen. Die Lyrik von Kambanellis wurde von den bedeutendsten griechischen Komponisten vertont, diese Lieder zählen zum griechischen nationalen Liederschatz und sind dort im Alltag allgegenwärtig. Vier der Gedichte von Kambanellis hat Mikis Theodorakis zur weltberühmten "Mauthausen Cantata" vertont. Maria Farantouri, die "Stimme Griechenlands", wird diese Lieder bei der Marathonlesung interpretieren. Initiator des Ereignisses ist der langjährige Radiojournalist, Publizist und Verleger Franz Richard Reiter.
Unter den 100 "Lesenden" sind Heinz Fischer, Michael Landau, Maria Bill, Harald Krassnitzer, Adele Neuhauser, Jakob Seeböck, Peter Patzak, Joachim Bißmeier, Trautl Brandstaller, Marianne Enigl, Marika Lichter, Peter Marboe, Hans-Henning Scharsach, Ulrich Schulenburg, Heinz Nußbaumer, Christa Zöchling und Marlene Streeruwitz. Es singen und musizieren u. a. Maria Farantouri, Dorretta Carter, Otto Lechner, Georg Herrnstadt mit Beatrix Neundlinger, Slavko Ninic und Olga Kessaris.
Hommage an NS-Widerstand
Der 7. Oktober wurde bewusst als Datum gewählt, weil er für die österreichische Zeitgeschichte eine besondere Bedeutung hat. Am 7. Oktober 1938 brachten tausende junge Katholiken nach einer Rosenkranzfeier im Stephansdom ihre Ablehnung des NS-Regimes zum Ausdruck. Es war die größte Manifestation des geistigen Widerstands gegen das totalitäre nationalsozialistische Regime. Als Vergeltung stürmte tags darauf die Hitler-Jugend das Erzbischöfliche Palais und verwüstete es. Der Wiener Erzbischof Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955) und seine Mitarbeiter entgingen um Haaresbreite dem Mob.
Franz Richard Reiter sieht die Veranstaltung am kommenden Sonntag als würdiges Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus und als Hommage an jene Menschen, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten. In dem Mauthausen-Buch von Kambanellis werde - "gleichsam wie an einem Studienobjekt" - deutlich, wie Diktatur funktioniert und was sie an den Menschen anrichtet, so Reiter. "Wenn man Jahrzehnte in einer Demokratie lebt, vergisst man allzu leicht, dass Diktatur alle und alles erfasst und dass es schleichende Vorstufen gibt, die man nicht gleich erkennt." Deshalb sei es ihm ein Anliegen, im heurigen Gedenkjahr die Erinnerung an die Ereignisse von damals wachzurufen, schilderte Reiter.
Auf Reiters Initiative hin hatte schon am 12. März 2005 im Wiener Erzbischöflichen Palais eine Marathonlesung des 1935 erschienenen Werks von Irene Harand "Sein Kampf - Antwort an Hitler" stattgefunden, die ebenfalls per Videowall auf den Stephansplatz übertragen wurde. In Griechenland sei der Entschluss, das Buch von Kambanellis nun auf dem Stephansplatz zu Gehör zu bringen, auf großen Beifall gestoßen. "Mikis Theodorakis ist glücklich, dass Maria Farantouri die 'Mauthausen Cantata' in Wien singt", berichtete der Initiator der Marathonlesung.
KZ-Mauthausen-Überlebender
Kambanellis - er starb 2011 im Alter von 89 Jahren in Athen - schildert in seinem einzigen von Elena Strubakis ins Deutsche übersetzten Prosawerk das KZ Mauthausen, in dem er Häftling war. Das Buch beginnt mit der Befreiung des Konzentrationslagers, etwa die Hälfte des Buches ist den Monaten danach gewidmet. Tausende Frauen und Männer mussten ausharren, weil sie eine Reise nicht überlebt hätten oder weil die Transportmittel nicht zur Verfügung standen. Die einschlägige Erinnerungsliteratur endet für gewöhnlich mit der Befreiung. Dass Kambanellis der Zeit danach so viel Platz einräumte, macht seine Schrift zu einem besonderen Zeugnis. Er schilderte, wie die Bevölkerung der umliegenden Dörfer reagierte, er berichtete nicht nur sein persönliches Erleben, sondern auch die Schicksale und nationalen Eigenheiten vieler anderer Menschen, die durch die Hölle von Mauthausen gehen mussten.
Iakovos Kambanellis (1921-2011) war ursprünglich technischer Zeichner und zugleich begeistert für Literatur und Theater. Mitten im Zweiten Weltkrieg wollte er mit einem Freund 1943 - Griechenland stöhnte unter dem deutschen Besatzungsregime - in Richtung Schweiz aufbrechen. In Wien besorgten sich die beiden gefälschte italienische Pässe. Aber kurz vor Innsbruck wurden sie im Zug festgenommen. Iakovos war als technischer Zeichner gewohnt, seine Eindrücke in Skizzen festzuhalten. Die Skizzen und der gefälschte Pass wurden ihm zum Verhängnis.
Kambanellis landete zunächst im Polizeigefangenhaus an der Wiener Elisabethpromenade und wurde dann in das KZ Mauthausen verfrachtet, wo er bis zur Befreiung durch die Alliierten am 5. Mai 1945 inhaftiert blieb. Nach der Befreiung wählten ihn die Griechinnen und Griechen des Lagers zu ihrem Repräsentanten. 150 jüdische Griechinnen, die trotz des Verbots der Alliierten nach Palästina wollten, baten ihn, sie nicht allein zu lassen, nicht vor ihnen aufzubrechen. Deshalb blieb er länger im befreiten Lager als er musste, und brach erst mit seinen "Schützlingen" auf. Nach seiner Rückkehr nach Athen wurde er zu einem der bedeutendsten Bühnen- und Filmautoren Griechenlands.
Erst 1963 publizierte Kambanellis erstmals seine Erinnerungen an Mauthausen, zunächst als Artikelserie für die "Eleftheria", 1965 dann als Buch. Als er das Buch "Mauthausen" des Österreichers Hans Marschalek kennenlernte, das er als "Röntgenaufnahme des gigantischen Verbrechens" der nationalsozialistischen Konzentrationslager empfand, entschloss er sich, seine Erinnerungen zu überarbeiten, ergänzt um manches, das man im Jahr 1945 nicht vollständig wissen konnte. Diese zweite Ausgabe seines Buches erschien 1995, sie bildet auch die Grundlage für die 2010 erstmals von Franz Richard Reiter publizierte deutsche Fassung. Der Wiener Verleger zitiert auch heute gern den Kommentar von Mikis Theodorakis zu dieser Fassung: "Der Dichter Kambanellis beweist in seinem Buch, dass er stärker ist als seine Kerkermeister, weil er uns überzeugend darlegt, dass sich sogar in der Hölle die Liebe letztendlich als das Stärkere erweist". Die packende und literarisch hochwertige Schilderung von Kambanellis wurde in Griechenland mehr als 30 Mal aufgelegt und wird dort als Standardwerk zum Stichwort "Mauthausen" geschätzt.
Zur diesjährigen Gedenk- und Befreiungsfeier in Mauthausen hatte Franz Richard Reiter, der aus der Schule des legendären Caritas-Präsidenten Leopold Ungar (1912-1992) kommt, in seinem "Ephelant"-Verlag zwei wichtige Bücher herausgebracht: Eine Neuauflage der deutschen Übersetzung des Buches "Die Freiheit kam im Mai" von Iakovos Kambanellis (die Reiter erstmals 2010 publiziert hatte) und das Buch "Gute Zeichen" von der Übersetzerin des Kambanellis-Buches, Elena Strubakis, und Christian Angerer. "Gute Zeichen" führt in pädagogisch einfühlsamer Weise Jugendliche an Hand des Buches von Iakovos Kambanellis durch gezielte Fragen zur Auseinandersetzung mit der ver-rückten und inhumanen Gegenwelt der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Insofern ist es auch für die Vor- und Nachbereitung von Exkursionen in die KZ-Gedenkstätte Mauthausen geeignet. In dem Buch "Gute Zeichen" sind auch jene Bilder reproduziert, die Elena Strubakis während der Übersetzungsarbeiten zu Abschnitten aus dem Werk von Kambanellis gemalt hat; auch zu den Bildern werden Fragen an die Jugendlichen gestellt. (Infos für Medienvertreter: Franz Richard Reiter, Tel.: 0676/933 70 95, E-Mail: Franz.Richard.Reiter@aon.at)
Quelle: kathpress