Sozialethikerin: Solidarstrukturen aufgeben ist unverantwortlich
Es wäre völlig "unverantwortlich", die aus dem christlich-demokratischen Denken entstandenen Solidaritätsstrukturen der Gesellschaft "zu entsorgen und durch einen Kapitalismus des totalen Laissez-faire zu ersetzen": Das hat die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel hervorgehoben. Die Katholische Soziallehre gebe laut der Expertin auch in der heutigen globalisierten Welt eine "wesentliche Orientierung" für die Frage nach der Umsetzung von Gemeinwohl und Solidarität, befand die Professorin für christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Fakultät für katholische Theologie der Universität Wien in einem Gastkommentar der Zeitung "Die Tagespost" (aktuelle Ausgabe) zehn Jahre nach Beginn der globalen Finanzkrise.
Die Folgen von 2008 seien in Europa weiter spürbar und die Gefahr eines Systemversagens "keineswegs gebannt", mahnte Gabriel. Weiterhin sei die wirtschaftliche und wirtschaftstheoretische Situation in Europas labil, wodurch "libertäre Positionen" aus den USA nach Europa überschwappen würden. Diese sähen Staaten und überstaatliche europäische und internationale Institutionen als Buhmänner und Sündenböcke, insbesondere die Notenbanken und die hohe Staatsverschuldung. Als Kronzeuge berufe man sich dabei auf den österreichischen Nationalökonom Friedrich August von Hayek (1899-1992), dessen Wirtschaftstheorie reduziert werde auf den kreativen Unternehmer als Ursache allen wirtschaftlichen Wohlstands.
Die Sozialethikerin äußerte sich aus gleich mehreren Gründen besorgt über diese Denkrichtung: Sie vereinfache die realen Eigentumsstrukturen zu sehr, ihre Vertreter stünden auffallend oft rechten politischen Parteien wie FPÖ oder AfD nahe, doch auch die Anhängerschaft im katholischen Raum sei bedenklich. Die katholische Soziallehre werde von dieser Seite nämlich als "sachunkundig, kollektivistisch und staatslastig" diskreditiert, und der "linke" Papst Franziskus einer Fundamentalkritik ausgesetzt. Dass dessen Warnungen vor einer überbordenden Finanzindustrie und steigender Exklusion auch von renommierten Ökonomen geteilt würden, übersehe man geflissentlich.
Gabriels Hauptkritik an der "simplen manchesterliberalen Ideologie":
Auch die liberale Wirtschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Öffentliche Güter wie Infrastruktur, Ausbildung und Gesundheitsfürsorge tragen zur Standortsicherung wesentlich bei.
Dass sich Staaten zum Gemeinwohl verpflichteten, sei nicht nur politisch und ökonomisch relevant, sondern habe auch eine "zentrale humane und ethische Bedeutung". Aus christlich-sozialer Sicht sei zudem unbestreitbar, dass soziale und nun auch ökologische Gerechtigkeit das Fundament von Gesellschaften darstelle und dadurch Verantwortlichkeiten entstünden; Hayek habe dies hingegen als Unsinn abgetan.
Quelle: kathpress