Scheuer: Flucht und Heimatlosigkeit verhindern "richtiges Leben"
Auf die Auswirkungen von Flucht und Heimatlosigkeit auf das Leben Betroffener hat am Sonntag im Rahmen eines ökumenischen Wortgottesdienstes zum Auftakt der Gedenkfeier zur Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers (KZ) Mauthausen der Linzer Bischof Manfred Scheuer aufmerksam gemacht. Keine Wohnung oder Heimat zu haben und auf der Flucht zu sein, stehe einem "richtigen Leben" mit einem unverwechselbaren Namen und Individualität, mit Freiheit und einem Obdach für die Seele, mit Heimat und Beziehung radikal entgegen, so der Bischof.
Scheuer sieht die Gesellschaft in der Praxis vor die Herausforderung gestellt, mit existentieller und psychischer Obdachlosigkeit, mit Suchtkranken, Asylanten oder Arbeitslosen umzugehen. Denn "Heimat ist nicht an Ländereien gebunden, Heimat ist der Mensch, dessen Wort wir vernehmen und erreichen", zitierte der Bischof Max Frisch. Heimat ohne tragfähige soziale Beziehungen, ohne persönliche Teilhabe am kulturellen und religiösen Geschehen, ohne wirtschaftliche Chancen, löse sich auf; "und ohne Anerkennung der Menschenrechte und Menschenwürde anderer, ohne Gerechtigkeit für Schwache wird Heimat zur ideologischen Waffe", so der Bischof.
In eine solche Heimatlosigkeit seien während des Nationalsozialismus hunderttausende Menschen getrieben worden. "Wir haben unser Zuhause verloren, das heißt die Vertrautheit des Alltags", zitierte Scheuer aus einem Essay Hannah Arendts. Und doch seien bei aller "Massivität und Brutalität" Tod und Leiden nicht ausweglos. Beispiel dafür sei etwa der Linzer Priester Johann Gruber, der unter Lebensgefahr im KZ Gusen ein illegales Hilfswerk aufgebaut hatte und dafür am 7. April 1944 hingerichtet worden war. "Dadurch brach in die Hölle des KZ ein Licht der Hoffnung und der Liebe ein", so Scheuer. Wer ein Warum zum Leben habe, ertrage fast jedes Wie, zitierte der Bischof den jüdischen Arzt und Psychotherapeuten Viktor E. Frankl.
"Glaube an Gott angesichts NS-Barbarei möglich?"
Angesichts der NS-Barbarei stelle sich die Frage: "Kann man noch an einen guten Gott glauben, der dies alles zugelassen hat?" Nicht wenige meinten, aus der Erfahrung des Bösen heraus und aus der Solidarität mit den Leidenden und Opfern, Gott absagen zu müssen, so Scheuer. Dieser Anfrage könne nur mit einem Gott begegnet werden, "der mit den Toten, Geschlagenen und Opfern durch die Macht der Auferweckung etwas anfangen kann", zitierte der Bischof den Theologen Johann Baptist Metz.
Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes erfordere laut Scheuer eine Wachsamkeit, die sich selbst im Gewissen und in der Verantwortung situiere. Denn sie sei nicht neutral und objektiv distanziert, sondern stehe im Kontext von Sympathie, Apathie oder Antipathie, von Gleichgültigkeit, von Nihilismus, Hoffnung, Hass und Verachtung, von Verzweiflung oder auch Verzeihen, von Freude am Leben oder Bitterkeit, von Funktionalisierung, Selbstrechtfertigung oder Anklage. Sie stelle die Frage nach Gerechtigkeit, sei aber nicht von vornherein frei vom Willen zur Macht. Insofern gelte es, die eigenen Maßstäbe, Interessen und Motive zu benennen, so der Bischof.
Mit Johann Baptist Metz plädierte Scheuer für eine Rückbesinnung auf die Frage nach der Rettung der Opfer und der Gerechtigkeit für die unschuldigen Leidenden. "Die Gottesrede ist entweder die Rede von der Vision und der Verheißung einer großen Gerechtigkeit, die auch an diesen vergangenen Leiden rührt, oder sie ist leer und verheißungslos - auch für die gegenwärtig Lebenden", zitierte der Bischof den Theologen. Die dieser Gottesrede immanente Frage sei deshalb zunächst und in erster Linie die Frage nach der Rettung der ungerecht Leidenden.
Pfarrerin Reiner: Flucht einzige Chance zu Überleben
80 Jahre nach der NS-Herrschaft sei Flucht und Verlust der Heimat wiederum für so viele Menschen aus dem Nahen Osten und aus afrikanischen Ländern die einzige Chance zum Überleben, betonte die evangelische Pfarrerin und frühere Oberkirchenrätin Hannelore Reiner. Angesichts etwa des andauernden Krieges in Syrien oder des Hungers in Afrika brauche es wesentlich mehr Unterstützung von den reichen Ländern dieser Erde, also auch von Österreich.
Größte Befreiungsfeier weltweit
Am 5. Mai 1945 wurden die Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mauthausen und seinen 49 Außenlagern befreit. Weit über 90 Prozent der Opfer des Lagers waren weder Deutsche noch Österreicher, weshalb die jährlich veranstaltete Gedenk- und Befreiungsfeier an diesem Tag von internationaler Bedeutung ist und auch die weitaus größte ihrer Art weltweit darstellt. Ausgetragen werden die Feiern, die heuer unter dem Motto "Flucht und Heimat" standen, vom Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) in enger Zusammenarbeit mit der Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen (ÖLM) und dem Comité International de Mauthausen (CIM).
Der ökumenische Wortgottesdienst, in dessen Rahmen die Bischofsworte fielen, bildete den Auftakt der Feiern. Scheuer feierte den Wortgottesdienst gemeinsam mit Pfarrerin Reiner und Erzpriester Ioannis Nikolitsis.
Quelle: kathpress