Jesuit Samir: Europa fehlt Masterplan für Muslimen-Integration
Europa muss alles daran setzen, die Flüchtlinge aus muslimischen Ländern nach deren Aufnahme auch kulturell zu integrieren: Das hat der renommierte ägyptische Frühchristentumsforscher und Islamexperte P. Samir Khalil Samir (80), langjähriger Professor am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom und profunder Kenner der arabisch-christlichen Welt, am Wochenende im Interview mit der Nachrichtenagentur "Kathpress" dargelegt. Samir besuchte in den vergangenen Tagen Österreich, u.a. mit Vorträgen in Wien und Graz sowie Begegnungen mit Kardinal Christoph Schönborn und führenden Persönlichkeiten der Stiftung "Pro Oriente".
Bisher erscheine ihm Europa "planlos" bei der Eingliederung muslimischer Migranten in die Gesellschaft, so der Orient-Experte. Dieser Aufgabe müsse man sich jedoch dringlich stellen, würden doch die Menschen ohne vollkommene Integration "immer am Rand der Gesellschaft" leben. Notwendig sei dafür nicht nur die Grundversorgung mit Unterkunft und Nahrung, sondern vor allem das Erlernen der Landessprache - die erst den Austausch und Zugang zu würdevoller Arbeit ermögliche -, sowie die Verpflichtung zu Normen und Werten des Landes, die einzuhalten seien. "Wir müssen sagen: Wenn du hier bist, so läuft es hier bei uns ab, das sind die mindestens 20 wichtigen Punkte. Das ist nicht gegen die Muslime gerichtet, sondern das soll ihnen helfen", so Samir.
Grund dafür sei, dass Europa eben anders "ticke" als muslimische Länder - "die Gesetze sind nicht unbedingt besser, aber sie sind eben anders", so der Orientalist. Unabkömmlich sei volles Verständnis und Akzeptanz seitens muslimischer Migranten etwa dafür, dass Mann und Frau freie und gleichberechtigte Partner seien oder dass unverhüllte Frauen ihre Schönheit zeigen können, ohne deshalb Prostituierte zu sein. Die Anpassung von Muslimen sei durch Bildung und Erziehung möglich, betonte P. Samir. Wesentlich könne Europa als "positives Muster" dem Islam, der sich momentan in einer großen Krise befinde, zu innerem Wandel und zu einer nötigen "Öffnung" verhelfen.
Besonders nötig sei diese Entwicklung mit Blick auf den zunehmenden religiösen Fanatismus, der vermittle, dass der "echte Islam" nur dessen radikale Ausprägung sei. Islamisten wollten wortwörtlich Vorgaben erfüllen, die im 7. Jahrhundert Gültigkeit hatten, doch seien "die wenigsten Muslime froh" über diese Entwicklung.
Auch P. Samir sieht es als nötig an, diese Mentalität zu überwinden. "Wenn ein Christ sagt: Wir müssen so leben wie im 1. Jahrhundert, dann würde ich antworten: Bist du dumm? Wir leben im 21. Jahrhundert!" Sehr wohl seien die ethischen Prinzipien der Religion zeitlos, die Umsetzung müsse sich jedoch anpassen.
Al-Sisi ein Hoffnungsträger
In den arabischen Staaten im Nahen Osten habe der "Arabische Frühling" ab Ende 2010 viele Hoffnungen auf einen Wandel geweckt, bald hätten sich jedoch wieder die alten Kräfte durchgesetzt und man sei meist zur früheren Situation zurückgekehrt, berichtete P. Samir. Dennoch sei die Rolle des Islams in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.
In seiner Heimat Ägypten sei der amtierende Präsident Abdel Fatah Al-Sisi für viele weiter ein Hoffnungsträger, gab Samir zu verstehen. Die 1971 in den Verfassungsrang gehobene Scharia stelle im Land am Nil ein "Unrecht" dar, unter besonders die Christen stark litten. Es sei etwa extrem schwierig, Kirchenbauten zu errichten, da Ansuchen darum gar nicht an den darüber entscheidenden Präsidenten weitergeleitet würden. "Dass Präsident Al-Sisi jüngst 100 illegale christliche Kirchengebäude anerkannt hat, ist wichtig - denn bisher diente der ungeklärte Rechtsstatus muslimischen Fanatiker immer wieder als Vorwand, um Kirchen zu zerstören", erklärte der Ordensmann. Das islamische Recht wirke sich auch negativ für die Erbschaften von Frauen aus.
Grundsätzlich seien die Christen mit der Amtsführung Al-Sisis sehr zufrieden, da er um "Ausgleich" bemüht sei. "Was wir wünschen, ist eine neutrale Politik ohne Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Gruppen. Al-Sisi ist darum bemüht, doch sind die Gesetze weiterhin islamisch." Ein Ausweg wäre, den zweiten Verfassungsartikel, der das islamische Recht verbindlich macht, zu streichen und somit den Zustand vor 1971 wiederherzustellen.
Syrien: Gespanntes Verhältnis
Besonders angespannt und konfliktreich bezeichnete P. Samir das Verhältnis zwischen den Religionen im Syrien, wo nun bereits sechs Jahre Krieg herrscht. Das Land mit sunnitischer Mehrheit (70 Prozent), in dem zehn Prozent Christen und eine Minderheit Alawiten sind (darunter u.a. der Assad-Clan) ist laizistisch und Religion habe früher keine Rolle gespielt. Heute hätten die unter Präsident Bashar al-Assad regierenden Alawiten und andere religiöse Minderheiten Angst vor der Rache der Sunniten, die von Saudi-Arabien unterstützt würden. Assad schaffe mit harter Linie Ordnung, löse damit jedoch Gewaltreaktionen seitens der Opposition aus.
Freiheit auch für Nichtmuslime nötig
Verhalten positiv äußerte sich der Jesuit über die Entwicklung in Saudi-Arabien. Unter Prinz Mohammed Bin Salman gebe es zaghafte Versuche einer "beschränkten Öffnung", etwa für Frauen. Zahlreiche starke Ungerechtigkeiten würden jedoch weiterbestehen - darunter, "dass Millionen Philippinos als Sklaven in arabischen Ländern arbeiten und kein Recht haben", so P. Samir. Dass massenweise katholische Gastarbeiter ins Land geholt wurden, für diese jedoch keine Kirche errichtet werden darf, sei schlichtweg "unmenschlich" und müsse auch Muslimen zu denken geben. Christen würden vom saudischen Königreich "als Sklaven oder als Geldgeber" gebraucht.
Eine Entwicklung Saudi-Arabiens hin zu einem "normalen Staat" müsse auch die Freiheit der muslimischen Mehrheit einschließen, forderte der kirchliche Experte. "Ein Muslim muss auch sagen können: Ich will kein Muslim mehr sein. Denn Gott hat dem Menschen zuerst die Freiheit gegeben, die ihn von den Tieren unterscheidet; die Religion kommt mit der Erkenntnis Gottes erst in Folge dessen." Saudi-Arabien behandle seine Bewohner jedoch so, "als ob sie Tiere wären". Denken sei nicht erlaubt.
Quelle: kathpress