Zulehner: Politik soll entsolidarisierende Angst mindern
Wie kann entsolidarisierende Angst gemindert, wie Vertrauen und damit Zuversicht gestärkt werden? Das sind nach den Worten des Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner entscheidende Fragen, auf die eine verantwortungsvolle Politik und auch die Kirche ihr Augenmerk richten sollten. Derzeit ist Angst weltpolitisch jedoch im Aufwind, verwies der Werteforscher auf Untersuchungen, wonach die westliche Welt nach 9/11 zur "Furchtregion" geworden, China dagegen von Aufbruchsoptimismus geprägt sei. "Wege aus der Angst" war das Thema eines von Zulehner und dem Journalisten Hans Rauscher ("Der Standard") gestalteten Abend im Rahmen der Theologische Kurse am Mittwoch in Wien.
Der Theologe erwähnte ein Gespräch, das er jüngst mit einem reformierten Theologen, der Mitglied der ungarischen Regierung von Viktor Orban ist, führte. Auf Zulehners Frage, ob die angstschürende Ausländerpolitik in einem Land, in dem es kaum Flüchtlinge und Zuwanderer gibt, letztlich nur der Mehrheitsabsicherung der Fidesz-Partei dient, bekam er demnach ein entwaffnend ehrliches "Ja, so ist es" zu hören.
Auch hierzulande diene der Islam einer politischen Instrumentalisierung, dabei würden sich viele gängige Überzeugungen über "die Muslime" nach einer faktenorientierten Prüfung als Vorurteile entpuppen. Wie repräsentative Studien belegten, kommt es hier zu massiven Umbrüchen zwischen der älteren, ersten Zuwanderergeneration und der zweiten, hier geborenen. Laut Zulehner ist etwa die Sorge unbegründet, "dass uns die Muslime 'niedergebären'"; die Fertilität passe sich rasch hiesigen Verhältnissen an. Ebenso klischeehaft sei das Bild der unterdrückten Frau: unter jungen Muslimas gebe es durchaus Emanzipation, "nur die Männer hinken - wie bei uns auch - hinterher", wie Zulehner sagte. Und auch die behauptete große Gläubigkeit der Muslime werde übertrieben dargestellt. Das säkulare Umfeld wirke sich auch auf den "Brauchtums-Islam" dämpfend aus.
Der emeritierte Wiener Pastoraltheologe verwies auf den auch in der Politik feststellbaren innerpsychischen Mechanismus, Urängste mit Gewalt, Gier und Lüge abzuwehren. Muslime müssten vielfach als Sündenböcke herhalten und von ungelösten sozialen Problemen wie etwa der Pflege alter Menschen ablenken. Dabei würden Zuwanderer das Sozialsystem ungleich weniger belasten als die reichen Steuerflüchtlinge, ärgerte sich Zulehner über eine nur dem Namen nach christlich-soziale Politik.
Gesellschaftliches "Entängstigen" müsse auf mehreren Ebenen ansetzen: Es brauche eine lösungsorientierte Politik mit Augenmaß und Humanität, Bildung, die zuallererst auf Stärkung von Persönlichkeit abstellt sowie Begegnung: Wenn man "Gesichter und Geschichten" kennt, falle meist auch eine fremdenfeindliche Politik weg, meinte Zulehner. Er zitierte Franklin D. Roosevelt, der als 33. US-Präsident inmitten der Großen Depression formulierte: "The only thing we have to fear is fear itself - oder, auf gut Wienerisch: Zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben."
Parallelen zum Antisemitismus der 1930er?
Hans Rauscher hält die - medial geschürte und politisch intrumentalisierte - Furcht vor der Islamisierung für eine bedeutende gesellschaftliche Veränderung mit viel Sprengstoff. Der Einbruch einer "ziemlich anderen Kultur in unsere Lebensverhältnisse" führe regelmäßig zu Postings, die Assoziationen zum Antisemitismus der Zwischenkriegszeit wecken. Angesichts der Tatsache, dass mittlerweile wohl an die 700.000 Muslime in Österreich leben - acht Prozent der Wohnbevölkerung - müsse die Frage, ob der Islam zu Österreich gehört, bejaht werden, so Rauscher. Dieses demographische Faktum gelte aber nicht in kultur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht.
Der Starkolumnist hält es, wie er sagte, für eine Illusion zu meinen, wenn man die Muslime politisch nur genug sekkiert, würden sie weggehen. Die türkis-blaue Regierung setze auf Repression statt auf Integration. Das rund 150 Interessierte umfassende Publikum bei der Veranstaltung im Wiener Erzbischöflichen Palais rief Rauscher auf, dem "Drift zu gesellschaftlicher Bösartigkeit" entgegenzutreten - sich zu Wort zu melden, einzumischen, zu vernetzen.
Quelle: kathpress