Experten: Religionsbildung im pluralen Zeitalter immer wichtiger
Religion entwickelt sich in der Bildungslandschaft Europas nicht zu einem vernachlässigenden Faktor, sondern wird angesichts der zunehmenden Vielfalt an Kulturen immer wichtiger: Darauf haben Experten bei einer internationalen Tagung in Wien verwiesen, die am Donnerstag zu Ende gegangen ist. "Zu lernen, wie man in einem ethnisch, kulturell und religiös diversen Europa lebt, ist eine pädagogische und auch politische Notwendigkeit", sagte der Hauptredner Siebren Miedema von der Freien Universität Amsterdam. Die Frage, ob Europa religiöse Bildung braucht, beantwortete der Bildungsforscher mit einem "uneingeschränkten Ja".
Die Vermittlung von Religionen und Weltanschauungen habe auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion, so der Experte. Es komme darauf an, die Entwicklung des "ganzen Menschen" im Auge zu haben und Heranwachsende zur kritischen Evaluierung anzuleiten. "Unhinterfragtes Übernehmen oder eine unreflektierte volle Übernahme der Ansichten des Lehrers soll nicht angestrebt werden", so Miedema. Klar sprach er sich zugleich gegen eine neoliberale Sichtweise aus, die Bildung auf Vermittlung von in der Wissensgesellschaft geforderten Kompetenzen wie Beschäftigungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität reduziere und dabei andere Qualifikationen zurückdränge.
Auch im säkularen Zeitalter seien die meisten Menschen auf der Suche nach Bedeutung in ihrem Leben, so das Argument des niederländischen Bildungsforschers. Diese "Pilgerschaft" sei ernst zu nehmen und die Suche zu fördern. Religion sei dabei für liberal-demokratische Gemeinschaften ein wichtiger und notwendiger Lieferant für Sinn und Bedeutung, weshalb der Staat gut beraten sei, eine "positive Haltung" gegenüber den Leistungen und Vertretern religiöser Gemeinschaften einzunehmen.
Neuentdeckung der Religion
Durchaus werde Religion heute - nach Zeiten ihrer Dominanz und schließlich Verdrängung - in den Schulen vielerorts "neuentdeckt", so die Beobachtung der Religionspädagogin Andrea Lehner-Hartmann. Es handle sich dabei aber nicht um eine bruchlose Rückkehr zur bisherigen christlichen Tradition, sondern vielmehr um das Bewusstwerden einer neuen Pluralität unterschiedlicher Religionen in Europa. Auch gebe es "kein homogenes katholisches Christentum mehr", so die stellvertretende Vorständin am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Das neue Neben- und Miteinander mache es nötig, gestaltet zu werden.
Viele Schulen fühlten sich heute jedoch hilflos und überfordert beim Thema Religion, konkret angesichts der pluralen Schülerschaft und der dazugehörigen Eltern, stellte Lehner-Hartmann fest. Oft sei große Unsicherheit spürbar, was in der Schule thematisiert werden dürfe oder solle, welcher Platz der Religion zuzuweisen sei. Das Zulassen und der Umgang mit Pluralität sei jedoch ein wesentliches Merkmal von Demokratie. Es gelte:
Schulen geben einen Ort ab, an dem religiöse Überzeugung im Horizont von Demokratie gelebt werden kann, aber auch herausgefordert wird, sich an demokratischen Prinzipien zu orientieren.
Ort der Empathiebildung
Bildung sollte Religion nicht ausklammern oder ignorieren, da das Thema auch über den Religionsunterricht hinaus wichtige Funktionen im Schulalltag habe, so die Überzeugung der Wiener Theologin. Dazu gehöre u.a. die Ermutigung des Kindes oder Jugendlichen dazu, über Sinnfragen zu reflektieren und je eigene Antworten darauf zu finden, die Entwicklung eines Verständnisses der unantastbaren Würde des Menschen sowie der Einspruch gegen Entwicklungen, die Menschen ausgrenzen, demütigen oder verzwecken.
Der Religionsunterricht werde dabei neben anderen Gegenständen immer mehr zu einem "Ort, an dem Empathie und Argumentationsfähigkeit ausgebildet und gefördert werden", sagte Lehner-Hartmann. Zwar gelte dabei, dass Religionslehrer von den Schulen häufig vor allem wegen ihres Sozialengagements geschätzt, zu religiösen Fragen aber selten kontaktiert würden. Als Vermittler von "Orientierungswissen" seien sie jedoch kaum zu unterschätzen. Auch die Schulpastoral - die Theologin verwies hier auf externe Ansprechpartner, begleitende Angebote oder freiwillige spirituelle oder liturgische Veranstaltungen - würden auf die Sinnfragen der Schüler eingehen.
Die Wiener Tagung im Curhaus am Stephansplatz war die Abschlussveranstaltung eines dreijährigen Projekts über die Zukunft der Religionslehrerausbildung, an dem sich Bildungseinrichtungen aus Österreich, Deutschland, England, Schottland, Schweden und der Schweiz beteiligt hatten. Die Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems - vertreten durch das Institut Religiöse Bildung - war dabei als heimischer Partner vertreten. (Informationen: www.readyproject.eu)
Quelle: kathpress