Schönborn: März 1938 wurde durch ständiges Hetzen vorbereitet
Kardinal Christoph Schönborn und Gedenkjahr-Regierungskoordinator Altbundespräsident Heinz Fischer haben in der ORF-Sendung "kreuz und quer" am Dienstagabend Lehren aus dem März 1938 zusammengefasst. Der Wiener Erzbischof betonte in dem TV-Talk unter Verweis auf die vergangene Woche verabschiedete Erklärung der österreichischen Bischöfe zu "1918/1938", dass das Hassen und Morden durch "ständiges Hetzen in eine bestimmte Richtung" vorbereitet worden sei. Dies habe sich in ähnlicher Weise beim Ruanda-Genozid 1994 wiederholt, wo zwei private Radiosender jahrelang gehetzt hatten und dann ein kleiner Funke zur Auslösung unfassbarer Gräueltaten genügt habe.
Die Bischöfe, die vor einer Woche in der auch als "Symbol für Schreckliches" stehenden Stadt Sarajewo getagt hatten, hätten in ihrer Erklärung mit einem Zitat von Elie Wiesel (1928-2016) besonders auf die aus der Erinnerung an die dunkle Zeit kommende Hoffnung hinweisen wollen, so Schönborn. Wiesel hatte geschrieben: "Erinnerung ist Hoffnung, und Hoffnung ist Erinnerung". Die Bischöfe wollten damit die aus der Erfahrung von Zwischenkriegszeit und Nationalsozialismus "mühsam errungene Wertschätzung von Menschenrechten, Demokratie und Gemeinwohl" ansprechen. Alle müssten sich dafür "angesichts immer wieder vorhandener Gefährdungen" einsetzen.
Heinz Fischer sprach von einem notwendigen Aufarbeitungsprozess zur schrecklichen Katastrophe, der alle Bereiche - u.a. Politik, Wirtschaft, Kirchen und Universitäten - umfassen müsse:
Wir stehen jetzt im 'Jahr 80' - und sind immer noch beschäftigt, damit ins Reine zu kommen.
Eine zentrale Rolle für eine Festigung einer demokratischen Ethik in der Jugend spiele eine gute Politik. Sie dürfe nicht eine Tendenz haben, "Teile der Bevölkerung auszugrenzen oder schlecht zu behandeln". Wenn man dazu tendiere, sich überlegen zu fühlen und Kontrollinstitutionen auszuschalten, dann begebe man sich auf "den Weg in den Abgrund", warnte der Altbundespräsident.
Kardinal Schönborn verwies auf die in der jüdischen Theologie gelehrte Unterscheidung zwischen dem "Jezer ha'ra" (Böser Trieb) und "Jezer hatow" (Guter Trieb).
In der Zwischenkriegszeit hat man den Bösen Trieb mit allen zur Verfügung stehenden propagandistischen Mitteln angeheizt. So konnten die Menschen am 12. März 1938 Dinge tun, für die sie sich an sich nicht fähig gehalten hatten.
Schönborn und Fischer berichteten über ihre Eltern, die Schikanen und Verhaftungsgefahr ausgesetzt waren. Schönborns Mutter konnte für die Sportwoche nicht den geforderten Ariernachweis vorweisen; Fischers Eltern, die als unzuverlässig galten und ihr zu Hause in Graz verlassen mussten, sprachen untereinander oft Esperanto, damit sich der Sohn nicht in der Schule verplappert.
Gravierende Fehler der Kirche
Der Wiener Erzbischof räumte gravierende Fehler der Kirche in den Jahren von 1918 bis 1938 ein, vor allem der politische Katholizismus und die Fixierung der Kirche auf eine bestimmte politische Richtung. "Das hat viele Menschen von der Kirche weggetrieben." Es habe schon Anfang der 1930er Jahre diesbezüglich katholische Querdenker, die den Kontakt zur Sozialdemokratie suchten, gegeben, "aber diese Kräfte waren viel zu schwach".
Namentlich erwähnte Schönborn den Verleger und Politiker Ernst Karl Winter (1895-1959), dessen Witwe er gut gekannt habe. Erst durch das Mariazeller Manifest (1952) und den ab 1956 als Wiener Erzbischof amtierenden Kardinal Franz König (1905-2004) sei die von den Pionieren schon vor dem Krieg ersehnte Neuorientierung vorgenommen worden.
Heinz Fischer nahm zur Rolle des Vatikans 1938 Stellung, im Blick auf eine im Zuge der jüngsten Vatikan-Archivöffnung aufgetauchte Tagebucheintragung eines Diplomaten über ein Gespräch mit Papst Pius XI., das den "Anschluss" betroffen hatte. Demnach habe Pius XI. tiefste Enttäuschung über die im März 1938 unterbliebene Unterstützung des italienischen Machthabers Benito Mussolini für Österreichs Kanzler Kurt Schuschnigg geäußert. Dies zeige, wie unterschiedlich die Meinungen zum "Anschluss" in den Kirchenführungen gewesen seien.
Interessant sei auch, dass es im März 1938 offenbar keine Kontaktnahmen zwischen dem Vatikan und Wien gegeben habe. Dabei hätten Bundespräsident Wilhelm Miklas und die Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg in den Jahren davor immer wieder bei wichtigen Fragen Kontakt mit dem Vatikan aufgenommen, so Fischer. Er würdigte in diesem Zusammenhang auch den Versuch Kardinal Theodor Innitzers, für die 1934 zum Tode verurteilten Schutzbündler eine Begnadigung zu erreichen - was jedoch ungehört blieb -, und im Ständestaat insgesamt "mäßigend" zu wirken.
Dass Kirche, Politik, Medien und Gesellschaft in der Ersten Republik stark antisemitisch waren, steht für Schönborn und Fischer fest. Hier habe es große Veränderungen seit den 1960er-Jahren gegeben - in der Kirche durch das Zweite Vaticanum (1962-1965) und den Weltkatechismus (1992), in der Politik durch eine stärkere Ächtung und Verurteilung von früher durchaus geduldeten Wortmeldungen im Parlament. Der Wiener Erzbischof erinnerte, dass die jahrhundertelang tragisch missbrauchten Evangeliumsstellen über den Prozess Jesu nicht Ablehnung "der Juden" ausdrückten, sondern Ablehnung der religiösen Autoritäten.
Demokratie braucht mobilisierende Quellen
Ebenfalls seit dem Konzil gefestigt sei die Haltung der Kirche zur Demokratie. Diese Staatsform brauche freilich ein Wertefundament, denn der freiheitliche, säkulare Staat "lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", zitierte Schönborn das bekannte Diktum des deutschen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Demokratie brauche "Einigkeit über das Unabstimmbare" und lebe von den Tugenden und der moralischen Substanz ihrer Bürger und Repräsentanten, betonte Schönborn. Eine wichtige Quelle, die für die Demokratie auf Grundlage von Werten mobilisiere, sei das Christentum.
Eine etwaige Preisgabe grundlegender Menschenrechte - etwa, wenn Asylwerber als Kriminelle angesehen würden - sei deshalb mit Demokratie unvereinbar, betonte der Kardinal. Allerdings bräuchten die Voraussetzungen der Demokratie Stärkung. "Denn wenn sie schwach werden, ist die Demokratie in Gefahr."
Gedenkjahr-Regierungskoordinator Fischer sagte, die Demokratie sei etwas von Menschen Gemachtes und deshalb zerstörbar. Deshalb brauche es "möglichst viele Partner, die demokratisch denken". Aktuell bereiteten ihm auf Europa-Ebene offensichtlich gewordene "Ermüdungserscheinungen" der Demokratie Sorge. Dennoch sei er Optimist, so Fischer, denn die Zahl der Demokratien sei heute viel größer als vor 50 Jahren, und "die Lebenserwartung der Demokratie ist erwiesenermaßen höher als die der Diktatur".
Quelle: kathpress