Erstarrtes "verflüssigen": Kirche kann von moderner Kunst lernen
"Verflüssigung": Diesen Begriff sieht der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler als kennzeichnend für die Wirkung der modernen Kunst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - und auch als Ansatzpunkt für mögliche Lerneffekte für die katholische Kirche. So habe z.B. Dada seine Bedeutung als "Widerstand stimulierende Kraft gegenüber allen Systembildungen in Kultur, Politik und Religion" bis heute nicht verloren, die Kunst insgesamt fungiere oft als "notwendiger Ausgleich gegenüber systembedingten Erstarrungen", so Glettler in einem Beitrag auf der theologischen Feuilleton-Website "feinschwarz.net". Auch die Kirche solle derartige Impulse aufnehmen und dadurch an Beweglichkeit, Empathie und "Quer-Denken" gewinnen.
Die Geschichte der Moderne, speziell die Entwicklung der Bildenden Kunst, versteht der studierte Kunsthistoriker am Innsbrucker Bischofsstuhl als "ständigen Prozess der Auflösung (Liquidierung) bis dahin gültiger Parameter". Strömungen wie Dada, Fluxus und Performance hätten sich als höchst unterschiedliche Kunstpositionen quer durch das 20. Jahrhundert in einem "aggressiven, aber auch produktiven Widerspruch zueinander" weiterentwickelt, gemeinsames Merkmal sei die permanente Dekonstruktion des Tradierten, schrieb Glettler. Und weiter: Zeitgenössische Kunst habe den öffentlichen Raum als wesentlichen Interventionsbereich entdeckt, "in dem der gesellschaftliche Diskurs mit viel größerer Effektivität zu führen ist, als im abgeschlossenen Kunstbetrieb der Galerien und Museen". Sie stimuliere damit eine Auseinandersetzung über Werte und Leitbilder heutiger Gesellschaft und leiste einen "unschätzbaren Beitrag zur Visionsarbeit für eine tolerante, menschenwürdige Zukunft der Gesamtgesellschaft".
Von vielen besorgten Vertretern der Kirche sei die zeitgenössische Kunstproduktion bis herauf in die Gegenwart als gefährlich und als Destabilisierung gesellschaftlicher Fundamente "(miss-)verstanden" worden, bedauerte Glettler: "Auch wenn ich diese pauschale Abwertung der Moderne nicht teile, liegt es mir ebenso fern, einer naiven Euphorie der Diskontinuität das Wort zu reden." Eine gesunde Balance zwischen beständigen Grundwerten und einer Dynamik der Veränderung sei nötig, eine "Fetischierung" des Neuen oder des Tradierten abzulehnen.
Jedenfalls gelte es die Chancen der in der Kunstszene zu beobachtende "Verflüssigung" auch für das kirchliche Selbstverständnis zu sehen, wies Glettler hin. Er nannte größere Lebendigkeit, Beweglichkeit und situationsgerechte Einstellung auf gesellschaftliche Veränderungen als mögliche Früchte, aber auch "ein Plus an Präsenz an Orten, die vom Evangelium her ein Anliegen der Kirche sein müssen".
Gegen "Herrschaftsgesten und Statussymbole"
Der Bischof wörtlich: "Wenn Kirche den Mut aufbringt, Herrschaftsgesten der Vergangenheit, überkommene Statussymbole und viele andere erstarrte Formen in Frage zu stellen und auch sterben zu lassen, wird sie sich im gesellschaftlichen Diskurs neu einbringen und damit ihrer Sendung nachkommen können." Glettler plädierte für Offenheit "für diesen nicht immer schmerzfreien Prozess der Selbstreinigung", denn "ideologiegefährdete Systeme aller Art müssen permanent einer Katharsis unterzogen werden".
Wenn sie das selbst nicht schaffen, "weil die Erstarrung bereits so fortgeschritten ist", muss dies nach den Worten des Bischofs von außen geschehen - "im Extremfall auch durch Spott und aggressive Konfrontation". Ein Blick in die Geschichte zeige, dass auch in der Kirche geschlossene und lebensfeindliche Systeme entstehen können, die sich repressiv und aggressiv gegen Andersdenkende und Abweichler richten.
Glettler brach demgegenüber eine Lanze für Geist und Kreativität. Dem Lebendigen, "vorerst Unklassifizierbaren und Unkontrollierbaren" müsse mehr Bedeutung beigemessen werden: "Verwaltung, auch kirchliche Verwaltung und Management, sind eindeutig nachrangig. Innovativ und kreativ ist der Geist." Und dieser habe auch Vorrang vor dem auf Quantität ausgerichteten Bemessen religiöser und kirchlicher Erfolgsindikatoren.
Auch im Zeitgeist spricht Gott
Gegen Kritiker des Zeitgeistes wandte Glettler ein, der Heilige Geist äußere sich auch hier. "Beiden Inspirationsquellen, dem Geist Gottes und dem Geist der jeweiligen Zeit, ist mehr zuzutrauen, als es eine ängstliche und von apokalyptischen Schreckensbildern geleitete Zeitdiagnostik oftmals nahelegt."
Für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen braucht es nach Überzeugung Glettlers wie in der Kunst so "auch im kirchlichen Bereich Lern- und Lehrwerkstätten des Quer-Fragens und Quer-Denkens". Die wesentlichen Veränderungsimpulse und neuen Handlungsoptionen gingen nämlich nicht vom institutionalisierten Kunst- oder Kirchenbetrieb aus. Heute zähle vielmehr das gelebte Zeugnis des einzelnen Gläubigen oder einer quantitativ gesehen kleinen Gruppe, die eine Alternative zu einem ungenügenden Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft entwickelt und so zu dem wird, was die Bibel mit "Salz" oder "Samenkorn" umschreibt.
In der großen Gesellschaft sieht der Innsbrucker Bischof die Rolle der Kirche als ein aktiv mitgestaltender Faktor, aber auch als einen "Störfall, eine Alternative und Provokation, eine Energiequelle und ein Filter, ein Modellfall und ein unsichtbares Ferment zugleich". Wie die seit den 1970er Jahren etablierte politische Kunst solle die Kirche abseits von Selbsterhalt und Eigenversorgung in das Politische, das Allgemeine und Öffentliche hinein wirken, betonte Glettler vor allem die Verantwortung für die Wohlstandsverlierer oder in irgendeiner Weise Marginalisierten. "Es bleibt für die Glaubwürdigkeit und das prophetische Zeugnis der Kirche die zentrale Frage, ob sie der Logik der nahezu totalitären Ökonomisierung aller Lebensbereiche etwas entgegenhalten kann."
Quelle: kathpress