Armenpfarrer Pucher: Distanz zu Menschen am Rand überwinden
Wenn Papst Franziskus mit einem neuen Welttag den Blick der Kirche und Gesellschaft auf die Armen stärken will, so muss es nach den Worten des "Armenpfarrers" Wolfgang Pucher besonders um "mehr Nähe" gehen. "Es ist schlimm, dass man sich in Europa die Armen auf Distanz hält. Wir praktizieren oft nur 'Fernstenliebe', sind vielleicht dazu bereit, etwas in Armutsregionen anderer Kontinente zu schicken oder dafür zu spenden. Wenn aber jemand, der Hilfe braucht, in die Nähe kommt, macht man einen Bogen um ihn. Man bekämpft ihn nicht, weicht ihm aber aus", sagte der Lazaristenpater im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress. Die Kirche könne die Distanz verringern.
Der 78-jährige Pucher ist bekannt für sein langjähriges Engagement für Delogierte, Obdachlose, Alkoholkranke und Bettler. Die von ihm gegründete "Vinzenzgemeinschaft Eggenberg" betreibt in Österreich und Osteuropa 38 "VinziWerke" für Notleidende. Die Essensausgabestellen namens "VinziBus" versorgen täglich 1.400 Personen mit Nahrung. Dazu kommen noch Sozialmärkte, medizinische Hilfen sowie Wohnhäuser, Herbergen und Notschlafstellen, in denen täglich 450 Personen Unterkunft finden. 750 Ehrenamtliche sind in den durch Spenden finanzierten Einrichtungen für die "Gäste" zuständig.
Nicht nur die "VinziWerke", sondern auch seine Grazer Pfarre St. Vinzenz setze das vom Papst geforderte Prinzip der Begegnung mit Armen bereits um, berichtete Pucher. Zu mehreren Festen im Jahr werden armutsbetroffene Menschen gezielt eingeladen. "Man kann sich da ohne jede Verpflichtung neben einen setzen, der nicht so gut betucht ist wie man selbst, eine Viertelstunde plaudern und ihm vielleicht ein Bier schenken." Nähe werde dabei als "großes Geschenk" erfahren.
Kontakt hinterlässt Spuren
Von Armen kann man vieles lernen, so Puchers Erfahrung. "Viele von ihnen sind zufrieden mit dem, was sie haben - zum Unterschied von uns, denen es besonders gut geht. Sie jammern erst dann, wenn es weh tut und sind viel einfacher in ihren Lebensansprüchen. Wir wollen immer etwas Größeres und Schöneres und werfen unglaublich viele Dinge weg, mit denen sie noch etwas anfangen können", so die Beobachtung des Armenpriesters. Auffällig seien auch die enorme Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Menschen in gleichen Lebensnöten, die Bereitschaft zum Teilen auch von Kleinigkeiten, sowie starkes Gottvertrauen: "Arme Menschen wissen, dass ihnen kein Mensch helfen kann, und sagen: 'Dafür habe ich den Herrgott.'"
In ihm selbst habe der lebenslange Kontakt mit Menschen in Not Spuren hinterlassen, gab sich der Lazaristenpater überzeugt. Er werde immer dankbarer, "auch dafür, dass es mir gut geht, für meine Kindheit, Erziehung, Freunde und Werdegang. Ich habe zwei Priester kennengelernt, die obdachlos und Alkoholiker sind. Und dachte: Was wäre wohl aus mir geworden, hätte ich dieselbe Vorgeschichte gehabt. Es gibt da das Sprichwort 'Man muss 1.000 Meilen in den Mokassins des anderen gegangen sein, bevor man über ihn urteilt'. Es trifft immer zu." Aber auch seine Achtung und der vorsichtige Umgang mit eigenem Besitz und der Gesundheit seien gestiegen, während er seine Ansprüche stets weiter reduziert hätte. Auch von der Gläubigkeit der Menschen habe er viel gelernt.
Kleine Hilfen im Alltag
Das Zugehen auf Arme dürfe jedoch keine jährliche "Alibiveranstaltung" oder bloße Gewissenserleichterung sein, mahnte der Ordensmann. Wichtiger sei die kleine Hilfe im Alltag. "Dass man mit offenen Augen durch die Welt geht und wahrnimmt, ob jemand in der Umgebung Trost, Unterstützung und Hilfe benötigt oder in einer offensichtlichen Armutssituation ist. Frage dich: Was kann ich für ihn tun? Das Mindeste ist, ihn anzusprechen und zu fragen, wie es ihm geht." Nicht die "Gesamtveränderung" des Lebens, sondern Verständnis, Mitgefühl und Nähe seien dabei zentral.
Auch auf Selbstlosigkeit komme es an. "Wer sich Dankbarkeit, Anerkennung, Selbstverwirklichung, das Umsetzen eigener Vorstellungen oder Bestimmenkönnen über andere erwartet, braucht gar nicht erst anzufangen. Es funktioniert nur, wenn man umgekehrt auf den anderen zugeht mit der Frage: Was möchtest du, dass ich dir tue?" Wichtig ist für Pucher dabei die nach außen sichtbare Grundhaltung. "Bei den Vinzi-Bussen fahren oft junge Leute mit. Wir haben die Gewohnheit, vor der Essensausgabe jedem der Gäste die Hand zu geben. Zwei Medizinstudenten haben einmal Latexhandschuhe angezogen. Ich sagte ihnen: So geht das nicht. Verzichtet darauf - oder auf euren Dienst."
Im Notleidenden begegne man Jesus, stehe in dessen Dienst und orientiere sich dabei an der Art und Weise, wie er einst mit Armen umgegangen ist, so Puchers persönlicher Zugang. Dennoch seien unter den Mitarbeitern und Helfern der "Vinziwerke" viele nach außen weniger christlich, "die meisten sind keine Kirchgeher, manche ausgetreten". Der Priester dazu: "Wir bemühen uns, in jeder Einrichtung die Mitarbeiter regelmäßig in diesem Geist zu stärken und in der Praxis zu vermitteln, was entscheidend ist. Nächstenliebe ist per se christlich. Es gibt viele anonyme Christen."
Heilige Pflicht und anderer Blick
Die Kirche dürfe die Sorge um die Ärmsten nicht anderen Einrichtungen oder dem Staat überlassen, so Puchers Überzeugung. Begründet sei dies in der Person von Jesus Christus: "Er war wie kein anderer Religionsgründer ganz für die Menschen da, denen es schlecht gegangen ist, egal ob aus gesellschaftlichen Umständen oder eigener Schuld wie etwa die Zöllner und Sünder. Weil sich Jesus mit aller Energie und Klarheit auf die Seite der Ärmsten gestellt hat, muss es auch heilige Pflicht der Kirche sein, dies zu tun." Am weitesten sei Jesu wohl mit seiner Barmherzigkeit für den Zöllner gegangen, "der von allen verachtet als Gauner und Bandit lebte", wie Pucher hervorhob.
Der kirchliche Zugang zu Armut sei anders als jener der Gesellschaft, erklärte der Ordensmann. Außer Streit stehe, dass auf Unrecht begründete Armut beseitigt werden müsse. Jedoch gebe es keine allgemeine Zustimmung auch Drogen- und Alkoholabhängige, psychisch Belastete, Migranten oder Haftentlassene als Arme anzuerkennen. Besonders bei allen Formen "hässlicher Armut" sei die Kirche mit ihrer Barmherzigkeit gefordert. "Politik kann nur durchsetzen, was die Gesellschaft toleriert, was auch verständlich ist. Das Christentum hängt aber nicht davon ab, ob das Handeln mehrheitsfähig ist oder nicht. Barmherzigkeit ist nicht mehrheitsfähig", stellte Pucher klar.
Kein "genug ist genug"
Christliche Barmherzigkeit dürfe nicht falsch als Sentimentalität verstanden werden, warnte Pucher. Statt um ein Gefühl handle es sich um ein "Hinausgehen über die Gerechtigkeit, das dann eintritt, wenn man jemandem etwas zukommen lässt, was ihm weder zusteht noch gebührt". Das Christentum besitze in seiner Geschichte "unendlich viele Zeugnisse von Barmherzigkeit", verwies der Priester auf Heilige wie Vinzenz von Paul (1581-1660). Der Gründer seines Ordens habe u.a. die Gefangenenseelsorge erfunden, "in einer Zeit, in der kein Mensch einem Häftling nachgeweint hat". Menschen, die selbstverschuldet in Not kommen, seien auch heute noch "arm dran".
Durch den Beitrag vieler könnten katholischen Sozialeinrichtungen "unheimlich viel" leisten und "Oasen der Barmherzigkeit" entstehen, sagte Pucher. Beispiel dafür sei auch die christliche Minderheit in der indischen Metropole Kalkutta, deren Mitglieder täglich eine Million Menschen ernährten. "Ähnliches ist aus anderen Religionen kaum bekannt." Dennoch bleibe die Kirche oft hinter ihrem Selbstanspruch zurück. "Es gibt noch genug Luft nach oben, denn bei der Barmherzigkeit kann es kein 'genug ist genug' geben. Das wäre nicht christlich", hob der "Vinzi-Pfarrer" hervor. Kein Christ sei aber verpflichtet, mehr als sein Mögliches zu tun oder sich zu überfordern.
Quelle: kathpress