"Nicht wenige Christen werden politisch heimatlos"
Er komme in letzter Zeit wiederholt mit Christinnen und Christen in Kontakt, die "nach und nach politisch heimatlos" werden: Das hat der Wiener Pastoraltheologe und Werteforscher Paul Zulehner im Hinblick auf die für 15. Oktober geplante Nationalratswahl berichtet. "Irritiert" seien viele durch die politische Praxis vieler Parteien zumal in der Flüchtlingsfrage. "Und generell stört sie der Hang zu populistischen Täuschungen der Bevölkerung, in welchen für komplexe Herausforderungen/Probleme einfache Scheinlösungen vorgegaukelt werden", schrieb Zulehner in einem am Dienstag veröffentlichten Blogeintrag (https://zulehner.wordpress.com), der die Langversion eines am selben Tag in den "Salzburger Nachrichten" abgedruckten Interviews darstellt.
Dieser kritische Befund gelte auch für die christlich-soziale ÖVP, in der viele engagierte Christinnen und Christen bisher ihre politische Heimat hatten. Ein bald 80-jähriger Pfarrer habe ihm kürzlich auf die Frage, wen er im Herbst wählen werde, geantwortet: "Wohl zum ersten Mal nicht ÖVP". Aber auch Christen mit einer anderen parteipolitischen Präferenz fühlten "Ratlosigkeit", so der emeritierte Theologieprofessor.
Nur wenige seiner Glaubensgenossen meinten, dass sich die alltägliche Politik unmittelbar aus dem Evangelium ableiten lässt. Zugleich seien sie aber der festen Überzeugung, dass das Evangelium eine Art Grundorientierung auch für die Politik abgibt. "Sie verstehen durchaus, dass es in der realen Politik immer nur Schritte in jene Richtung gibt, in welche das Evangelium weist", so Zulehner. "Aber wenn die Richtung erkennbar nicht mehr stimmt, werden nicht wenige Christinnen und Christen rat- und nach und nach politisch heimatlos."
Christen seien ihrem Glauben gemäß "Universalisten", hielt der Theologe fest: "Weil es nur einen Gott gibt, gibt es auch nur eine einzige Menschheit" und für diese ein einziges "Welthaus". Dem widerspreche zutiefst ein ausgrenzender Nationalismus, nicht zu verwechseln "mit einem auf Grund historischer Erfahrungen geläutertem Heimatgefühl".
Ein weiterer Grundsatz sei Fairness beim Teilen von Lebenschancen: "Der Anspruch auf universelle Solidarität ist für das Christentum prinzipiell nicht verhandelbar." Christen stünden wie Kain ("Wo ist dein Bruder?") vor der Anfrage Gottes, wenn Kinder verhungern oder Flüchtende im Mittelmeer ertrinken, erklärte Zulehner.
Fluchtursachen statt Flüchtende bekämpfen
Aus diesen Grundorientierungen ließen sich "natürlich" nicht direkt alltagspraktische Maßnahmen ableiten. Aber es sei durchaus "möglich, das Bessere von weniger Gutem klar zu unterscheiden", nannte Zulehner einige Beispiele: So sei es "immer besser, an der Abmilderung der Fluchtursachen zu arbeiten als nur Symptome zu bekämpfen".
Der Werteforscher sprach sich für einen Marshallplan für Afrika aus, von dem auch Europa langfristig profitieren würde, und kritisierte zugleich Waffenexporte Europas sowie den "Wirtschaftsimperialismus", der afrikanische Märkte durch subventionierte Agrarprodukte zerstöre. "Eine christlich inspirierte Flüchtlingspolitik steht und fällt daher mit der Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung der an hoffnungsloser Armut leidenden Weltregionen". Sie ziele auf die Beendigung kriegerischer Konflikte und eine umsichtige Klimapolitik. Durch das "Stoppen" von Menschen auf gleich welcher Route sei "längerfristig keines der wahren Probleme gelöst".
Solidarität sei auch innerhalb Österreichs für Christen unverzichtbar, so Zulehner im Blick auf die anstehenden Integrationsbemühungen: "Man kann nicht in der Wohnbaupolitik oder beim Zugang zum Arbeitsmarkt die eingesessenen Österreicher gegen die dank eines Asylbescheids neu angekommenen Menschen ausspielen." Der vielfache Studien- und Buchautor sprach sich zudem für eine Art neue "Willkommenskultur" aus. "Deren mutwillige Beschädigung durch die Politik hat viele Kirchenmitglieder sehr irritiert", stellte Zulehner fest.
Kritik an Steuerflucht der "Reichen"
Vielen engagierten Christen widerstrebe auch zutiefst, "dass in einem der reichsten Länder der Erde die Mindestsicherung für Schutzsuchende gekürzt wird". Zugleich könnten nicht wenige Reiche - Personen und Organisationen bzw. Konzerne - weithin "legal" den Sozialstaat schwächen, indem sie unbehindert ihre Gewinne in Steueroasen anhäuften. Zulehner wörtlich: "Es geht nicht länger an, dass der redlich arbeitenden Bevölkerung der Beitrag zum Sozialstaat vom Lohn abgezogen wird, dass aber nicht wenige der Reichen sich dieser Pflicht entziehen können." Zudem sei es "sozialethisch ein Ärgernis", wenn Gewinne privatisiert, Verluste und ökologische Schäden aber sozialisiert werden.
Der Sozialstaat dürfe gerade in einer Zeit wachsender Lebenserwartung und einer "Industrie 4.0" nicht ausgehöhlt werden. Zulehner nannte es "unverzichtbar", eine faire Finanzierung des Pflegebedarfs vorzusehen. "Das muss nicht primär über neue Steuern laufen, obwohl für engagierte Christinnen und Christen solche nicht grundsätzlich tabu sind, solange sie gerecht sind." Der Theologe plädierte dafür, staatliche Mittel mehr in die Pflege statt in das Pensionssystem zu pumpen. Nötig dafür wäre die Anhebung des Pensionsalters parallel zur steigenden Lebenserwartung.
Visionen statt Wahltaktik
Eine "christliche Politik" werde auch die Einigung Europas vorantreiben statt sie dem "populistisch kurzsichtigen Gewinn von Wählerstimmen" zu opfern. Auch jegliches "unbedachte Spiel mit einem Feindbild Islam" schade einem friedlichen Miteinander der Religionen. "Wer aus Wahltaktik populistisch Ängste schürt, handelt politisch nicht staatsmännisch und schadet dem Land, mag er auch kurzfristig der Partei nützen", warnte Zulehner. "Wer die Angstgeister ruft, wird sie nicht mehr los."
Einer Regierung komme es zu, Spannungen im Land auszutarieren - etwa zwischen der Verantwortung für die eigene Bevölkerung und der Sorge um die schutzsuchenden Menschen und deren Familien. Eine ähnliche Spannung herrscht laut dem Wiener Theologen heute "zwischen dem Bekämpfen eines politischen Islamismus, den es tragischerweise gibt, und dem Zusammenleben mit den Muslimen".
Es brauche dringend eine neue politische Kultur in Österreich, befand Zulehner abschließend. "Eine solche lebt von einer attraktiven Vision, von der heute in den politischen Auseinandersetzungen nicht viel zu spüren ist." (Link: https://zulehner.wordpress.com)
Quelle: kathpress