Kinder haben Recht, zu Sinnvollem motiviert zu werden
Kinder haben ein Recht darauf, "zu Dingen motiviert zu werden, deren Sinn sie noch nicht einsehen" - wie etwa auch das religiöse Verhalten oder der Musikunterricht: Das hat der Schweizer Pädagoge und Psychologe Fritz Oser im Interview mit der "Furche" (aktuelle Ausgabe) dargelegt. Der Professor von der Universität Fribourg, der am Freitag bei der Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg referierte, sprach von einem "erzieherischen Ringen", das Kinder nötig hätten. Sein Vortrag war dem Themenbereich "Kinderrechte im Lichte erzieherischer Konflikte" gewidmet.
Recht des Kindes sei es auch, vor sich selbst geschützt zu werden, verwies Oser auf das Beispiel des Essens: "Kinder mögen ja oft Sachen, die nicht gesund sind. Man sollte sie demgegenüber in der Kontrolle ihrer Emotionen stärken." Es sollte laut dem Pädagogikprofessor auch ein Recht, "eine Rolle im Ganzen der Klasse oder Schule zu spielen", geben. Laut aktuellem Report der OECD wird jeder fünfte Bub zwischen 11 und 15 Jahren "Bullying", also Schikane beispielsweise durch seine Klassenkameraden, ausgesetzt. Österreich führt in diesem Ranking, das 27 Länder umfasst.
Der polnische Pädagogikpionier Janusz Korczak, vor 75 Jahren von den Nazis im Vernichtungslager Treblinka ermordet, etablierte in dem von ihm geleiteten Waisenhaus eine eigene Struktur, in der die Kinder Verantwortung übernehmen mussten. Ein regelmäßig tagendes Kinderparlament führte die Kinder an die Funktionsweise demokratischer Prozesse heran. Ein "Kameradschaftsgericht" mit wechselnden Kinderrichtern ahndete "Gesetzesverletzungen" in einem juristisch abgesicherten Rahmen. Diesem Gericht unterwarf sich konsequenterweise das gesamte Waisenhauspersonal - inklusive Leiter Korczak.
Für "sehr bedeutsam" erachtet Fritz Oser diese Formen der Mitbestimmung von Kindern auch heute: "Wobei man bei den Kindergerichten betonen muss, dass sie immer darauf ausgerichtet waren und sind, dass die Kinder einander verzeihen." Korczaks Kinderrechte seien außerdem anderer Natur als die der UN-Kinderrechtskonvention. Letzte haben justiziablen Charakter und sind ein "Grundschutz für das Kind", erstere sind dagegen Teil einer Erziehungslehre, die das Kind in seiner Entwicklung stärken will.
Oser interessiert sich besonders für diese Dynamiken in der Erziehung, die "das Kind durch einen Prozess des Begründens, Rechtfertigens und Entschuldigens zur Einsicht bringen, dass eine Regelübertretung für niemanden gut ist". Diese Dynamiken hätten viel mit dem Recht des Kindes zu tun, sich zu entwickeln und in Krisen begleitet zu werden. Daraus ergibt sich das Recht, vor Gefahren bewahrt zu werden, "etwa jenen durch digitale Medien": "Es darf nicht sein, dass Eltern ihre Kinder stundenlang diesen Medien aussetzen, damit sie selber Ruhe haben."
Es ist Oser zufolge sehr wichtig, Kinder mit Religion zu konfrontieren: "Ein befreiender Zugang zu religiösen Fragen und Haltungen ermöglicht es dem Kind, dass ihm die Fragilität des Menschseins bewusst wird." Die Tendenz, "dass man - wie etwa in der Schweiz - alles Religiöse an den Rand drängt", hält er für problematisch.
Ansetzen bei Kleinkindpädagogik
Mit Osers Vortrag schloss die 66. Internationale Pädagogische Werktagung. Der vorletzte Vortrag wurde von Anna Tardos aus Budapest gehalten. Sie ist die Tochter der Pädagogin Emmi Pikler, die als "Anwältin der Säuglinge und Kleinkinder" in der Kleinkindpädagogik Maßstäbe setzte. Insgesamt neun Vorträge hielten Referenten aus verschiedenen wissenschaftlichen Sparten zum Thema "Kinderrechte".
Am Mittwoch hatten die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel und die Leiterin der Kinder- und Jugendanwaltschaft (kija) Salzburg Andrea Holz-Dahrenstaedt die Gemeinsamkeiten ihres pädagogischen beziehungsweise juristischen Zugangs zu Kinderrechten herausgestellt. Prengel machte die zentrale Bedeutung von tragfähigen sozialen Verbindungen deutlich: "Wir entwickeln uns in Beziehungen." Speziell im erzieherischen Umfeld sei ein wertschätzendes Miteinander unverzichtbar: "Die Qualität unserer Beziehung zu einer Sache ist immer mitbestimmt durch die Qualität der Beziehung zu der Person, die uns diese Inhalte vermittelt."
Holz-Dahrenstaedt mahnte, dass Kinderrechte nur so gut seien, wie sie tatsächlich gelebt würden. Auch in Industriestaaten wie Österreich gäbe es Gefährdungspotenzial für Gesundheit und Entwicklung von Kindern. Übertriebenes Leistungsdenken, Stress, Umweltzerstörung und Entsolidarisierung würden sich in unserer Gesellschaft bemerkbar machen: "Soziale Netze werden brüchiger und produzieren viele 'abgehängte' Kinder."
Am Donnerstag loteten die Grazer Pädagogin und Psychologin Hannelore Reicher und die Schulpsychologin Andrea Richter die Rechte und Pflichten von Kindern in Bezug auf die Teilnahme an Entscheidungsprozessen aus. Reicher sieht Teilhabe als Balanceakt zwischen Autonomie und Fremdbestimmung. Mitbestimmung habe enorme gesellschaftspolitische Relevanz und sei auch im Schulalltag essentiell. "Partizipation bedeutet nicht, das genuin pädagogische Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden aufzugeben", entgegnete sie ihren Kritikern.
"Ein Großteil der Pflichten, die Kinder bei Schuleintritt lernen müssen, umfasst Impulskontrolle", erklärte Richter in ihrer Betrachtung der Kinderpflichten. Sie erinnerte an die Vorbildwirkung der Erwachsenen: "Kinder beobachten mehr als sie zuhören." Für Richter sind Kinderpflichten wie Schuhe, in die Kinder hineinwachsen müssen - manche bequem, manche eng und drückend. Kinderrechte dagegen seien der Boden, auf dem die Kinder in diesen Schuhen gehen, laufen und tanzen. Das täten sie "manchmal auch barfuß", wurde aus dem Publikum eingeworfen.
Quelle: kathpress