Chancen für Religion in "inhaltsleerer säkularer Gesellschaft"
Nicht erst die weitgehend ohne Inhalte auskommende Wahlauseinandersetzung um das Weiße Haus in den USA hat eine tiefgehende System- und Repräsentationskrise der modernen säkularen Gesellschaft offenkundig gemacht: Diese Diagnose war laut dem Wiener Fundamentaltheologen Prof. Kurt Appel von der veranstaltenden Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary Society" Ausgangspunkt der Tagung "The Crisis of Representation" von Sonntag bis Dienstag in Melk (NÖ.). Auch die Religion sei von dieser Krise erfasst - und habe doch viel kritisches Potenzial, einem inhaltsleeren Streben nach "Macht um der Macht willen" zu widerstehen, sagte Appel am Mittwoch gegenüber "Kathpress".
An der interdisziplinären Konferenz über Phänomene wie Neoliberalismus, "Ethnonationalismus" oder durch die Neue Rechte politisch missbrauchte Religion nahmen Fachleute aus Politikwissenschaft, Ökonomie, Philosophie, Theologie und Islamwissenschaft teil. Der an der Uni Wien lehrende Appel widmete sich in seinem Vortrag Selbstentfremdungsprozessen wie der Todesverdrängung aus dem öffentlichen Raum und Bewusstsein. Der Religion komme hier eine wesentliche Bedeutung zu, diesem Symptom schwindender Subjekthaftigkeit des Menschen widerständig zu begegnen. Für Religionen habe der Umgang mit den Toten eine essenzielle Bedeutung, wies Appel hin. Ihnen komme die Aufgabe zu, "die Vision eines jüdisch-christlich-islamisch-säkularen Miteinanders im öffentlichen Raum" Europas gegen aufkeimenden "Nihilismus" zu entwickeln.
Die Kirchen seien durch die Verquickung mit Macht historisch belastet, und ein wieder auflebender "Triumph der institutionalisierten Religion" sei nicht zu erwarten, meinte der Theologe im Gespräch mit "Kathpress". Aber eine von historischen Bürden weitgehend freie junge Generation und auch akademische Kreise würden seiner Beobachtung nach mit religiösen Traditionen viel freier umgehen als dies noch vor 20, 30 Jahren der Fall gewesen sei. Hilfreich sei für diese Verlebendigung auch der gegenwärtige Papst Franziskus, der glaubhaft kein Repräsentant der Macht, sondern ein Anwalt der Ausgegrenzten und Zu-kurz-Gekommenen sei. Die Kirchen haben laut Appel jedenfalls ein "unglaubliches Potenzial", neue Formen von Pluralität zu entwickeln und so der heute vorherrschenden "Verpackung ohne Inhalt" Sinn entgegenzuhalten.
Religion und das Ende des Kapitalismus
Weitere Vorträge in Melk widmeten sich verschiedenen Aspekten der Beobachtung, dass die traditionellen politischen, religiösen und symbolischen Repräsentationssysteme angesichts der wirtschaftlichen (Stichwort: entschränkter Kapitalismus), demographischen (globale Migration) und politischen Entwicklungen (Demokratiekrise) ihre Wirkmächtigkeit verloren haben. Philip Goodchild, Professor für Religion and Philosophy in Nottingham, lud zu einem Gedankenexperiment über das Ende des Kapitalismus: Der damit verbundene Verlust von Vertrauen in existenzielle Absicherung könne mit Hilfe von Religion aufgefangen werden, die wiederum zu interpersonellem Vertrauen zu führen vermag. Die Religiösen sind laut Goodchild demnach jene, die Krisenzeiten eher überstehen können. Er verwies auf die Zunahme zahlreicher sehr unmittelbarer Religionsphänome -wie evangelikale Bewegungen oder Neo-Hinduismus.
Wie Globalisierung Kultur verändert, insbesondere im Hinblick auf islamische Präsenz, beleuchtete Olivier Roy, französischer Politikwissenschaftler am European University Institute Florence. Fundamentalismus, die Neue Rechte und Populismus seien Ausdrucksformen der durch Globalisierung veränderten Kultur. Fundamentalismus entwickle sich wie andere extreme Bewegungen als Opposition zu veränderter Kultur und sei deshalb gegenwartsbezogen und kein Relikt aus der Vergangenheit. Die Umwertung der Werte im Zuge der 1960er Jahre hat nach den Worten Roys zu einer Trennung von Religion und Kultur beigetragen, die wiederum zunehmend von autoritären normativen Regimen ersetzt würden.
Die Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary Society" wurde im Jahr 2010 an der Universität Wien eingerichtet und nach erfolgreicher internationaler Evaluierung bis März 2018 verlängert. Ihr gehören neben katholischen und evangelischen Theologen an der Uni Wien u.a. auch der Islamwissenschafter Ednan Aslan, der Rechtsphilosoph Richard Potz und die Politologin Sieglinde Rosenberger an. (www.religionandtransformation.at)