
"Kultur des Schweigens" in Kirche wurde aufgebrochen
In der katholischen Kirche hat sich beim Umgang mit sexuellem Missbrauch seit dem Skandaljahr 2010 viel geändert: Laut dem seit 2009 als Leiter der Wiener Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der Kirche tätigen Psychiater Prof. Johannes Wancata wurde eine davor vorherrschende "Kultur des Schweigens" aufgebrochen; früher "Übersehenes" oder Verschwiegenes sei Gegenstand einer auch struktuell verankerten Enttabuisierung geworden. Wancata äußerte sich am Donnerstag in Wien bei einer Informationsveranstaltung zur kirchlichen Rahmenordnung gegen Missbrauch und Gewalt, zu der alle Mitarbeiter im Umfeld der Bischofskonferenz eingeladen waren.
2010 sei eine Altlast an Fällen ans Tageslicht getreten, deren Ausmaß bei Kirchenverantwortlichen "Entsetzen" ausgelöst habe, wies der auch im AKH tätige Leiter der Uniklinik-Abteilung für Sozialpsychiatrie hin. Man habe innerkirchlich erst lernen müssen, wie fatal es sei, Vorkommnisse aus falscher Rücksichtnahme auf das Ansehen der Kirche unter den Teppich zu kehren. Heute gebe es in allen österreichischen Diözesen Ombudsstellen, an die sich Opfer oder aber Beobachter von Verdachtsfällen wenden können. Ausdruck dieser neuen Haltung sei die inzwischen 68 A4-Seiten umfassende Rahmenordnung, die von allen kirchlichen Mitarbeiter - egal ob Kleriker oder Laien - in Form eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet werden müsse.
Seit 2010 hat die Unabhängige Opferschutzkommission rund 1.500 Fälle zugunsten der Opfer entschieden, wie Wancata weiter mitteilte. Die Kirche habe alle Entscheidungen der "Klasnic-Kommission" akzeptiert und den Opfern bis dato rund 22 Millionen Euro zuerkannt, davon 17,6 Mio. Euro als Finanzhilfen und 4,4 Mio. Euro für Therapien. Und das, obwohl die aller meisten Vorfälle strafrechtlich verjährt sind: 55 Prozent ereigneten sich vor 1970, etwa fünf Prozent nach dem Jahr 1993.
Im seinem ersten Jahr als Ombudsstellenleiter fielen ganze sieben Meldungen von Verdachtsfällen an, im Jahr darauf gab es 2010 mit dem breiten Bekanntwerden von Missbrauchsfällen an einem einzigen Tag 17 - und insgesamt einige hundert, erinnerte sich Wancata. Heute seien die Fälle wieder deutlich zurückgegangen. Das mittlerweile elf Fachleute umfassendes Team der Wiener Ombudsstelle sei vorrangig mit Übergriffen von vor zehn oder 20 Jahren befasst. Verdachtsfälle mit jetzt noch Minderjährigen seien die Ausnahme. Daraus abzuleiten, dass Missbrauch im kirchlichen Rahmen ein Thema der Vergangenheit sei, ist laut Wancata nicht berechtigt: Viele Opfer seien erst nach vielen Jahren in der Lage, Erlittenes anzusprechen.
"Die Wahrheit wird euch frei machen"
Der Psychiater informierte die rund 100 kirchlichen Mitarbeiter von Einrichtungen wie Bischofskonferenz, Katholischer Jungschar, Frauenbewegung und Sozialakademie, von den Theologischen Kursen und der Koordinierungsstelle für internationale Entwicklung und Mission über die Grundzüge der im Vorjahr neu überarbeitet aufgelegten, für alle Diözesen und Ordensgemeinschaften geltende Rahmenordnung ("Die Wahrheit wird euch frei machen. Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt"). Sie umfasst im Blick auf sexuelle Übergriffe bei Abhängigkeitsverhältnissen sowohl Instruktionen für die Prävention und angemessenes Verhalten gegenüber Anvertrauten als auch für das Vorgehen bei Missbrauchsverdacht mit dem Ziel einer raschen und effizienten Hilfe für das Opfer.
Zuständig für die Täter ist - wie Wancata hinwies - eine diözesane Kommission, die Verdachtsfälle zu klären sucht, in vielen Fällen die Polizei involviert und Konsequenzen zieht. Anzeigen würden fast ausschließlich Priester betreffen, erfolgten aber stets im Einvernehmen mit dem Opfer - ausgenommen, es bestehe akute Gefahr für mögliche weitere Opfer. Von den 720 bei der Wiener Ombudsstelle gemeldeten Verdachtsfälle der Hauptkrisenjahre 2010/11 seien nur vier Prozent strafrechtsrelevant gewesen, viel öfter jedoch habe es Anzeigen gegeben - weil man kirchlicherseits "auf Nummer sicher gehen" wollte, wie Wancata berichtete.
Oft, aber nicht nur pädophile Neigungen
Die erfassten Fälle haben nach den Erfahrungen des Mediziners nicht ausschließlich mit Pädophilie zu tun - immer jedoch mit Abhängigkeit. Auch wenn die Täter (90 Prozent) und die Opfer (70 Prozent) überwiegend männlich seien, habe das Thema Missbrauch nichts mit Homosexualität zu tun - "das sind zwei paar Schuhe", wie Wancata sagte. Auch Pädophile hätten sich ihre Neigung nicht ausgesucht, trügen aber dafür Verantwortung, diese in den Griff zu bekommen. Die Ursachen für Missbrauch seien vielfältig, oft spiele aber ein selbst erlittener Übergriff eine Rolle. Den Kirchenangestellten schärfte Wancata ein, nicht selbst "Detektiv spielen" zu wollen, wenn sie Verdacht schöpfen, sondern die gratis, anonym und professionell angebotene Hilfe bei den diözesanen Ombudsstellen - die durchwegs mit kirchenunabhängigen Fachleuten bestückt sind - in Anspruch zu nehmen.
Der sensible Umgang mit Missbrauch "ist ein Thema und bleibt ein Thema", hielt Peter Schipka, Generalsekretär der Österreichischen Bischofskonferenz, abschließend fest. Missbrauch bedeute für jedes Opfer eine Verletzung dessen Menschenwürde mit oft lebenslangen Folgen. Nach dem Missbrauchsskandal und einem "besonders dunklen Kapitel" der jüngeren Kirchengeschichte habe die Bischofskonferenz die Vatikan-Vorgabe, Leitlinien zum Thema zu erarbeiten, rasch umgesetzt. Der Text der Rahmenordnung ist auf www.ombudsstellen.at abrufbar.
Quelle: kathpress