"Aufgedrängte Katholizität geht langsam zu Ende"
Die katholische Kirche steht derzeit in einer "epochalen Wende" weg von einer "aufgedrängten Katholizität" und hin zu einem frei gewählten Christentum: Das hat der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner im "Kleine Zeitung"-Interview (Donnerstag) unterstrichen. Die Entwicklung der vergangenen 40 Jahre zeige deutlich, "dass die aufgedrängte Katholizität in unserem Land langsam zu Ende geht". Religion sei kein "Schicksal" mehr - eine Entwicklung, die er begrüße, "weil man nicht glauben kann, wenn es nicht aus der Freiheit der Liebe kommt", so Zulehner.
Zugleich sehe er jedoch, dass die Kirchen sich "relativ schwer" damit tun, "diese Transformation aus dem verordneten Christentum in ein frei gewähltes zu meistern". Religion werde heute von vielen Menschen für ihren täglichen Lebensvollzug nicht mehr als notwendig erachtet. In dieser Situation müssten die Kirchen den Menschen klar machen, dass Religion "für den Menschen selber gut ist, dass sie einen riesigen Horizont für sein Leben aufmacht" - wenn dies nicht gelinge, werde die Zahl der Christen weiter schrumpfen, zeigte sich der Theologe überzeugt.
Vor diesem Hintergrund müssten auch stark durch Brauchtum aufgeladene christliche Feste wie etwa das Fronleichnamsfest neu gedeutet bzw. inhaltlich aufgeladen werden. War dies ursprünglich ein Fest "antiprotestantischer Machtdemonstration", so müsste es heute transformiert werden in ein "Fest der universellen Inklusion", wo es darum geht, die Verwandlung der Welt von einer "Welt der Gewalt in eine Welt der Liebe" zu feiern. So könne auch "tiefere Bedeutung" dieses Festes neu entdeckt werden, nämlich die Sorge Gottes um die Menschen am Rande: "Das Grundgesetz des menschlichen Miteinanders heißt: Kümmere dich vor allem um den, der Schwächer ist, beug dich nieder zu ihm, verausgab dich für ihn", erinnerte Zulehner. Dies sei die Grundbotschaft jeder Eucharistiefeier und somit auch die Grundbotschaft von Fronleichnam.
Aus dieser Grundhaltung heraus, die er auch bei Papst Franziskus erkenne, sei die Kirche gerufen, "innenpolitisch Kante" zu zeigen - etwa in Fragen von Asyl und Flüchtlingshilfe: "Da steht die Kirche wie ein Einser, auch wenn die Politiker noch so sehr wackeln." Er respektiere zwar eine auch unter Katholiken anzutreffende ablehnende Haltung Flüchtlingen gegenüber, auch sei es nicht statthaft, diesen ablehnenden Stimmen gegenüber "die moralische Keule" zu schwingen - er selbst komme aber nicht umhin, "im Evangelium zu lesen, dass es beim Gericht, bei der Evaluierung meines Lebens, heißen wird: Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen".
Gewiss lasse sich etwa in der Flüchtlingsfrage aus dem Evangelium keine unmittelbare politische Handlungsanweisung ablesen, so Zulehner, jedoch stelle das Evangelium einen universalen Anspruch: "Wenn es wirklich stimmt, dass es nur einen Gott gibt, dann ist jeder Mensch einer von uns. Wenn der fünfjährige Aylan Kurdi in der Ägäis ertrinkt, dann ist das, wie wenn ein Mitglied meiner Familie ertrinken würde, weil wir eine Menschheitsfamilie Gottes sind." Damit stehe die christliche Botschaft ein für eine "Kultur der universellen Solidarität": "Wir Gottesanhänger können uns nicht verabschieden von der Sorge für andere."
Quelle: kathpress