EU politisch und sozial stärken
Der renommierte deutsche Sozialethiker Friedhelm Hengsbach wirbt für ein Mehr an Zusammenhalt und Solidarität innerhalb der Europäischen Union. Im Moment sei das Gegenteil zu spüren: Die Kluft zwischen Arm und Reich und Nord und Süd werde innerhalb der Einzelstaaten und der Gemeinschaft immer größer, warnt Hengsbach in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag".
Zu spüren sei das etwa bei den Einkommen. "Innerhalb der einzelnen Länder wird das Einkommen immer mehr ungleich verteilt", so Hengsbach. Der Abstand zwischen den oberen zehn Prozent und den unteren zehn Prozent, den Gruppen der abhängig Beschäftigten oder der nicht mehr im Erwerbsleben Stehenden, werde immer größer.
Wachsen sieht der Jesuit auch die Kluft zwischen den wirtschaftlich leistungsfähigen Nationen wie Deutschland oder Österreich gegenüber den Südländern, also Portugal, Spanien und Griechenland. "Die Armut nimmt in diesen Ländern zu, die Jugendarbeitslosigkeit wächst. Wir sehen hier eine Veränderung im Vergleich zu der Zeit, als Europa noch ein Verbund von Ländern war, in denen Ungleichheiten zwischen den Regionen sowie den benachteiligten und den besser finanziell ausgestatteten Ländern angenähert werden sollte."
Wenn heute Rettungsschirme für finanziell in Not geratene Länder aufgebaut werden, dann als Almosen. Das greife allerdings zu kurz, hätten diese Länder doch ein Recht darauf, "dass sie gleichsam diesen Ausgleich bekommen". Realität sei aber: "Wenn Rettungsschirme aufgebaut werden, dann setzen sie mit den Krediten, die sie beispielsweise Griechenland geben, gleichzeitig die Bevölkerung und die Region massiv unter Druck." Da sei Solidarität eigentlich "gar nicht mehr vorhanden", so Hengsbach.
Gegentrend im Süden zu spüren
Ein Gegentrend sei laut dem Sozialethiker zur Zeit in den Ländern des Südens und in Frankreich zu spüren, weg von einem Europa, "das auf Sparen und schwarze Nullen sowie auf eine entsprechend strenge Haushaltsdisziplin programmiert ist". "Die Franzosen mit ihrem neugewählten Staatspräsident Emmanuel Macron sind wieder stärker darauf bedacht, ein Europa des Wachstums, der Arbeitsplätze, des sozialen Ausgleichs zu schaffen. Im Gegensatz zu einem Europa, in dem man sich an die einfachen Verträge hält, die keine Sozialunion vorsehen."
Nach Ansicht des Jesuiten krankt die EU auch an einem Demokratiedefizit und den Kompetenzstreitigkeiten zwischen den EU-Organisationen. "Die Union benötige eine klare Verteilung der Kompetenzen und Teilung der drei Gewalten." Im Mittelpunkt solle dabei ein duales parlamentarisches System stehen, das aus dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten bestehen. "Diese müssen nach unterschiedlicher Reichweite und Zuständigkeit an der Gesetzgebung beteiligt sein. Eine eigene Länderkammer soll die Interessen der Mitgliedsländer repräsentieren. Als zweite Gewalt muss es eine Regierung geben und die Funktionsweise des jetzigen Europäischen Gerichtshofes soll auf die neue Situation angepasst werden."
Zur Zukunft Europas hat der "Sonntag" zudem österreichische EU-Parlamentarier aller Parteien befragt. Dabei plädiert Othmar Karas (ÖVP) für eine Bündelung der Kräfte Europas, um die Globalisierung mitgestalten zu können. Evelyn Rgener (SPÖ) wirbt für ein stabiles soziales Fundament für Europa und mehr Zusammenarbeit, um den Herausforderungen - Jugendarbeitslosigkeit oder die Flüchtlingsbewegungen - bewältigen zu können. Die EU-Vize-Parlamentspräsidentin Ulrike Lunacek (Grüne) tritt für eine engere Zusammenarbeit der Einzelstaaten ein, denn "die Herausforderungen sind zu groß für Kleinstaaten". Angelika Mlinar von den NEOS plädiert für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine Asyl- und eine davon getrennte einheitliche Migrationspolitik und eine Wirtschaftsgemeinschaft. Vor einem "demokratischen Monster, das zu mehr und mehr Zentralismus als Selbstzweck tendiert", warnt demgegenüber Harald Vilimsky von der FPÖ.