Der Konter-Revolutionär: Philosoph Robert Spaemann wird 90
Lang ist der Weg, dunkel und steil. Wer alle 14 Kreuzwegstationen auf dem Waldweg abgehen und gar beten will, braucht einen guten Atem. Belohnt wird er mit einem prächtigen Blick von der auf einer Anhöhe thronenden Trappistenabtei Mariawald. Ihr Standort: die Eifel im äußersten Westen Deutschlands. Hierher verirrt man sich nicht, hierher kommt man bewusst. Weil man das strenge, von harter körperlicher und geistlicher Arbeit und vom Rhythmus der Liturgie gepulste Leben gezielt sucht. Weil man seinem Reiz vielleicht schon von Kindheit erlegen ist. So wie einer der wohl bekanntesten deutschen katholischen Intellektuellen und Philosophen der Gegenwart: Robert Spaemann. Am kommenden Freitag, 5. Mai, feiert er seinen 90. Geburtstag.
Nach einer jahrzehntelangen Gelehrtenkarriere an verschiedenen deutschen Universitäten - von Münster über Stuttgart, Heidelberg und München - und seiner Emeritierung 1992 hat er sich immer wieder in den Dienst der Abtei nehmen lassen. Warum? Wegen seiner Vorliebe für das monastische Leben, das er selbst früher einmal anstrebte, aber wohl auch, weil man hier oben in der Eifel zum vorkonziliaren "Alten Ritus" zurückgekehrt ist; eine Form, die er liebt und für deren Wiederzulassung 2007 er beim emeritierten Papst Benedikt XVI. heftig geworben hatte.
Doch was hat Spaemann sonst noch zu sagen? Was ist seine Botschaft? Und findet sie überhaupt noch einen Weg hinaus aus klösterlichem Gemäuer und hinein in die Foren der zivilen Öffentlichkeit? Wer ihm nach-denken möchte, muss sich auf seine Biografie einlassen: Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine klassische Gelehrten-Vita, bestimmt von Lektüre und Studium, aber auch geprägt von einer tiefen familiär gelebten Religiosität. So berichtet Spaemann etwa in dem autobiografischen Gesprächsband "Über Gott und die Welt" davon, dass er bereits als Dreijähriger "Wohlbehagen" empfand, als er "auf dem Schoß seiner Mutter liegend aufwacht beim Psalmodieren der Mönche, das ihn auch schon in den Schlaf gesungen hatte".
"Konterrevolutionär - ein Ehrentitel"
Nach dem Tod der Mutter wurde sein Vater Priester, früh keimte in ihm der Wunsch, Mönch zu werden. Die Benediktiner im nordrhein-westfälischen Kloster Gerleve hatten sein Herz erobert. Doch es kam anders, es kam die Philosophie - getragen von der stets brennenden Sehnsucht nach einer Heimat, die "uns allen in die Kindheit scheint, wo aber noch keiner war", wie er in Anlehnung an Ernst Bloch schreibt.
Aus dieser biografischen Melange heraus erwuchs auch seine durch und durch anti-faschistische und die Nazis rundheraus ablehnende Haltung schon als Schüler. Dem Eid auf Adolf Hitler entzog er sich durch simulierte Krankheit, und schon als Schüler galt er in den Augen seiner Mitschüler als "konterrevolutionär" im Sinne seiner Gegnerschaft zu den Nazis. "Es war für mich ein Ehrentitel: Ich war konterrevolutionär".
In gewissem Sinne sollte er dies ein Leben lang auch in anderen Fragen und Debatten bleiben. Denn nichts lag ihm ferner, als einem revolutionären Gestus zuzuarbeiten, der im Rausch des Umbruchs Traditionen und Grundüberzeugungen wegwischte. Seine Liebe gilt dem Bleibenden, wie er es etwa bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin findet. Aus ihnen schöpfend beharrt er bis heute auf einem Naturrechtsdenken.
Wissend um die damit einhergehenden erkenntnistheoretischen Probleme, hält er zumindest an den Basisbestimmungen fest, dass es ein solches Wesen geben müsse, denn "gäbe es kein von Natur aus Rechtes, so ließe sich über Fragen der Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten". Gott als Initialzündung dieses Rechtsbegriffs, als Schöpfergott, und Vernunft schließen sich bei Spaemann nicht aus - im Gegenteil. Vernunft rotiert auf der Stelle, wo sie nicht ihre eigene Begrenztheit, ihre Einbettung in den größeren, mit der Chiffre Gott versehenen Horizont erfährt.
Diskurs-Unbehagen
Entsprechendes Unbehagen empfindet er immer dort, wo die Menschheit vermeint, den Rockzipfel der Geschichte selbst fest in den Griff zu bekommen, mehr noch, sich selbst zum Maßstab der Geschichte zu machen. So blieb ihm die "68er"-Studentenbewegung, die er als Professor an der Universität Stuttgart miterlebte, ebenso fremd wie der in jener Zeit sich mit dem Namen Jürgen Habermas anbahnende philosophische Paradigmenwechsel: Suspekt blieb ihm etwa die Rede vom "herrschaftsfreien Diskurs", denn Diskurse, so seine Überzeugung, können nie jene Begründungstiefe erlangen, die reflektierte Erfahrungen, die Einsichten in naturrechtliche Gegebenheiten besitzen. Der Diskurs hat die Funktion des die vorgegebenen Gesetze und Normen prüfenden Instruments, "nicht aber die einer Norm kreierenden Instanz", so Spaemann.
Unangepasst auch sein Umgang mit dem Urdatum allen aufklärerischen Vernunftdenkens: der Französischen Revolution und ihrer Rezeption. Schon früh galt sein Interesse vor allem jenen Denkern, die die Geschichte der Revolution gegen den Strich zu bürsten versuchen - wie etwa die französischen Philosophen der Restauration, vor allem Vicomte de Bonald, über den er seine Doktorarbeit schrieb.
Die Idee der Volkssouveränität, der Ermächtigung des Volkes, das war für de Bonald der Sündenfall schlechthin, die Destruktion der im Symbol des Monarchen komprimierten Gegenwart Gottes. Ein Denken, dass die Präsenz Gottes aus dem Erdkreis verbannt, bedeutet aber auch Spaemann bis heute "eine Art Abdankung des Denkens" - gewiss ohne die politischen Implikationen mitzutragen, die das Denken de Bonalds zeitigte: etwa die Herausbildung der "Action Francaise", der Urform faschistischer Bewegungen.
"Wichtig ist, was immer ist"
Er war stets ein Wanderer zwischen den Welten. Vom katholischen Elternhaus aus machte er sich auf die Reise - von weit links und den Marxismus über die scholastischen Klassiker des Mittelalters, die Aufklärung bis hin ins gefährliche rechte Eck eines Carl Schmitt. Ihn haben stets die geistigen Gratwanderungen gereizt. Aber Spaemann wäre nicht einer der wohl bedeutendsten lebenden Philosophen, wenn man ihn eines leichtfertigen Vernunftdefaitismus oder gar restaurativer Leidenschaft für das Gottesgnadentum überführen könnte.
Nie ging es in einer Befassung mit den Denkern der Restauration um Wiederherstellung des Vergangenen, stets aber um die Bewahrung des Geschmacks für das Verlorene und den Rückgriff auf nicht Abgegoltenes, auf weiterhin Gültiges. "Mein Plädoyer für die Moderne wurzelt in der Verehrung des Untergehenden", schreibt er. Und an anderer Stelle: "Wichtig ist, was immer ist. Was immer ist heißt 'Gott'." Da blitzt es wieder auf: das katholische, das umfassend religiöse Moment in ihm.
Von Goethe stammt das Wort: "Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht einig". Dies trifft auch auf Spaemann zu. Bis heute. Seien es philosophische Debatten über die Lesart der Französischen Revolution und den Vernunftbegriff, seien es öffentlich geführte Debatten um die Atomkraft, die Verteidigung der Menschenwürde gegen einen alles zersetzenden Szientismus, die Debatte um die Rehabilitierung der Piusbruderschaft oder die Debatte über "Amoris laetitia" und die familienpastorale Kehrtwende von Papst Franziskus: kaum eine Debatte kam und kommt ohne eine - nicht selten kontroverse, auch irritierende - Wortmeldung Spaemanns aus. Bis heute.
Dabei hat er - auch das wohl eine monastische Qualität an ihm - nie versucht, ein philosophisches System, gar eine "Schule" zu entwickeln. Er war stets mehr Hörender als Redender, mehr Fragender denn Antwortender. Ein System, der große Entwurf war und ist ihm zuwider. Außerdem bewahrte er so zeitlebens eine flexible Unangepasstheit. Und so schlummert in seiner unaufgeregt katholischen Art stets auch Widerständigkeit und Unbeugsamkeit. "Ich hatte nie die Befürchtung, es könnte irgendetwas meine Orthodoxie beschädigen", bringt er es auf den Punkt. Es gehört wohl zur Ironie der (Geistes-)Geschichte, dass gerade diese so staubtrocken konservative Art ihn zu einem unangepassten Denker macht, dessen Denken und Schlussfolgerungen man nicht teilen muss, welches jedoch als Irritation einen eigenen Wert besitzt.
Faible für verfemte Disziplinen
Es sind die im heutigen philosophischen Diskurs geradezu als verfemt geltenden Disziplinen der Metaphysik, des Naturrechtsdenkens und der Teleologie - d.h. der Rekonstruktion einer das Sein durchwebenden Zielgerichtetheit -, die Spaemann immer einen Exoten bleiben ließen - die ihm aber auch mehrfach Einladungen nach Castel Gandolfo zu Gesprächen mit Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. eingebracht haben. Im übrigen in stets hochkarätiger Gesellschaft - so etwa nebst Kardinal Christoph Schönborn, aber auch nebst Emmanuel Levinas, Ernst-Wolfgang Böckenförde und anderen. Einen besonderen Konnex pflegt er in diesem Zusammenhang auch zum Wiener "Institut für die Wissenschaft vom Menschen", dem er als Beirat angehörte und das unter Johannes Paul II. wiederholt Seminare in Castel Gandolfo abhielt.
Ein Exot wie Spaemann zieht zugleich jedoch auch unselige Koalitionäre an. So steht Spaemann nicht zuletzt durch seine intensive Befassung mit Carl Schmitt, mit den Denkern der französischen Reaktion und durch seine persönliche Vorliebe für den Alten Ritus im Geruch, rechte Strömungen zu bedienen. Kein Zweifel, dass Spaemann dabei nicht selten vereinnahmt wird - er selbst tut nichts dazu, aber leider wohl auch zu wenig dagegen.
Quelle: kathpress