"Man muss Ratzinger gegen seine Liebhaber verteidigen"
War der viel besungene "Panzerkardinal" Joseph Ratzinger tatsächlich ein "theologischer Hardliner"? Und ist sein Pontifikat als wegweisend oder doch eher als Übergangspontifikat einzuordnen? Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück plädiert für einen differenzierten Blick: Im Pontifikat Benedikts XVI. habe es durchaus Fehler gegeben, theologisch müsse man Joseph Ratzinger aber verteidigen - und zwar nicht nur gegen seine Kritiker, sondern auch "gegen manche seiner Liebhaber", so Tück im "Kathpress"-Interview. Die oft übersehene Bereitschaft Ratzingers etwa, nach Allianzen auch mit Atheisten und Agnostikern zu suchen, sei "viel zukunftsträchtiger als das papageientheologische Nachsprechen von Formeln wie der Kritik an einer 'Diktatur des Relativismus'", sagt der Wiener Dogmatiker. Tück äußerte sich gegenüber "Kathpress" aus Anlass des 90. Geburtstags von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. am Ostersonntag, 16. April. Den Theologen verbindet mit Ratzinger u.a. die katholische Zeitschrift "Communio", deren Schriftleitung Tück innehat und die 1972 u.a. von Joseph Ratzinger mitbegründet wurde. Katholisch.at dokumentiert im Folgenden den Wortlaut des Interviews:
Herr Prof. Tück, Benedikt XVI. wird in diesen Tagen 90. Was schätzen Sie am Theologen Joseph Ratzinger besonders?
Im Panorama der Gegenwartstheologie fällt Ratzinger bis heute durch seinen klaren Stil auf. Sein Versuch, die Quellen der Schrift, der Liturgie und vor allem der Patristik in die Selbstverständigung des Glaubens einzubeziehen und dabei zugleich die komplexen Fragen der Gegenwart konstruktiv-kritisch aufzunehmen, ist vorbildlich. Wie vielleicht sonst nur Johann Baptist Metz ist Ratzinger ein Meister in der Kunst des theologischen Essays mit dem Mut zur pointierten Formulierung. Das macht seine Schriften bis heute lesenswert. Aber auch inhaltlich hat mich der Versuch beeindruckt, die Sinngehalte des Glaubens gegenüber den Gebildeten unter den Verächtern der Religion herauszuarbeiten. Anders als theologische Stimmen, die die Ferne und Abwesenheit Gottes betonen und den anstößigen Wahrheitsanspruch des Christentums in eine Grauzone des Vagen zurücknehmen, hat Ratzinger wiederholt an die provozierende Konkretheit des christlichen Gottesglaubens erinnert. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist keine weltjenseitige Monade, er hat in der Geschichte gehandelt und in Jesus Christus sein Antlitz gezeigt.
Welche "großen Themen" machen Sie theologisch bei Ratzinger/Benedikt aus?
Weniger beachtet und dennoch von großer Bedeutung sind für Ratzinger bibelhermeneutische Fragen gewesen: Er zählt unter den systematischen Theologen der Gegenwart zu denjenigen, die sich am meisten um Fragen der Schriftauslegung bemüht haben. Schon früh hat er die Aporie einer enggeführten historisch-kritischen Exegese beim Namen genannt: sie lässt Gestalt und Botschaft Jesu in der Vergangenheit stehen und entfaltet im Blick auf den Glauben keine orientierende Kraft. Ein weiteres Programmwort ist die "Synthese von Glaube und Vernunft", die dem Christentum von den biblischen Zeugnissen, aber auch durch die altkirchliche Theologie eingeschrieben ist. Wenn der Glaube sich gegenüber den Rückfragen der Vernunft taub stellt, zieht er sich in Sondergruppensprachspiele zurück und wird fundamentalismusanfällig. Andererseits droht die moderne Vernunft, die das Orientierungswissen der Glaubensüberlieferung von vornherein ausklammert, zu entgleisen, wie etwa neuere Entwicklungen in der Biotechnik zeigen. Ob Joseph Ratzinger beim Ringen um die Synthese die Gesprächsangebote der neuzeitlichen Philosophie immer hinreichend beachtet hat, kann man indes rückfragen.
Wie steht es um die Deutung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Joseph Ratzinger ja auch stets wichtig war?
In der Tat hat sich Ratzinger, der selbst als junger Theologe als Berater von Kardinal Frings am Konzil mitgewirkt hat, immer wieder programmatisch zu Fragen der Konzilshermeneutik geäußert. Dabei ging es ihm um die Frage, wie die Dokumente des Konzils angesichts des Streits der Interpretationen angemessen zu lesen seien. In seiner Weihnachtsansprache von 2005 hat Benedikt Lesarten zurückgewiesen, die zwischen der vor- und der nachkonziliaren Kirche eine Zäsur setzen und das Konzil als einen Bruch mit der Tradition deuten. Dabei berühren sich die Extreme, denn die These vom Bruch wird von der traditionalistischen Piusbruderschaft ebenso vertreten wie von manchen Akteuren im progressiven Spektrum der Theologie, die unter Berufung auf den Geist des Konzils über den Buchstaben der Texte hinausgehen wollen. Gegen solche Lesarten der Diskontinuität hat Ratzinger nicht einfach, wie manche Kritiker ihm unterstellt haben, eine Lesart der Kontinuität gesetzt, sondern eine "Hermeneutik der Reform". Damit ist angezeigt: Es gibt in der Geschichte nur ein Subjekt Kirche, das sich kontinuierlich durchhält, sich aber zugleich im Blick auf aktuelle Herausforderungen der Zeit immer neu durch diskontinuierliche Fortschreibungen reformieren muss. Ressourcement und Aggiornamento gehen so zusammen. Die katholische Kirche bleibt, was sie ist, gerade dadurch, dass sie sich unter Rückbesinnung auf die Quellen je neu wandelt und erneuert. Eine solche Hermeneutik der Reform ist Ratzingers Gesprächsangebot an die Piusbruderschaft, die die lebendige Tradition der Kirche auf ein schmales Segment reduziert: Die Öffnung in der Ökumene, in der Haltung gegenüber dem Judentum und anderen Religionen sind Ausdruck katholischer Weite, sie führen nicht zu einer Selbstrelativierung der Kirche. Daher ist die traditionalistische These vom Traditionsbruch durch das Konzil falsch.
Damit wären drei große theologische Themen benannt: Die Vermittlung von Schrift und Tradition, die Verbindung von Glaube und Vernunft und das Konzil. Wie steht es um die großen Schlagworte der letzten Jahre, die man mit Benedikt in Verbindung bringt - etwa die "Diktatur des Relativismus"?
In der Tat überlagern diese schillernden Schlagworte in der medialen Rezeption ein wenig die eigentlichen Anliegen Benedikts. Wie ist es dazu gekommen? Nun, als Dekan des Kardinals-Kollegiums hat Joseph Ratzinger nach dem Tod von Johannes Paul II. eine viel beachtete Predigt gehalten und dabei etwas holzschnittartig folgende Stichworte als Signaturen der Zeit benannt: Diktatur des Relativismus, Indifferentismus, Relativismus, Hedonismus und Konsumismus. Dagegen brachte er positiv gleichsam als theologische Therapie das Motiv der Christus-Freundschaft ein. Doch sein Gesamtwerk zeichnet eine weitaus größere Sensibilität auch für die Suchbewegungen der Moderne aus. In der "Einführung des Christentums" (1968) macht er deutlich, dass die Zweifel des Ungläubigen auch das Selbstverständnis des Gläubigen berühren und beim Weltgebetstreffen von Assisi 2011 hat er über die Vertreter anderer Religionen hinaus gezielt Atheisten und Agnostiker eingeladen. Die Einsicht, dass die unglaubwürdige Bezeugung des Glaubens das Phänomen des Nichtglaubens befördert, hat diese Einladung motiviert. Agnostiker können Gläubigen blinde Flecken spiegeln und so zu einer authentischeren Bezeugung des Glaubens wichtige Anstöße geben. Überdies lassen sich Allianzen für eine humane Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bilden. Diese nachdenklichen und differenzierten Brückenschläge scheinen mir zukunftsfähiger zu sein als das - zugespitzt gesagt - papageientheologische Nachsprechen von Formeln wie der 'Diktatur des Relativismus'. Da muss man Ratzinger gegen manche seiner Liebhaber verteidigen...
Sie haben die philosophische Achse Rom-Athen angesprochen, also die Tatsache, dass Ratzinger/Benedikt die hellenistische Philosophie stets als eine notwendige Form philosophischer Inkulturation des Christentums verstanden hat. Wo bleibt da - um im Sprachspiel zu bleiben - Jerusalem und das jüdische Erbe?
Die Konstellation Athen-Jerusalem ist für Ratzinger zentral und die Kritik der neuen politischen Theologie, die Sie ansprechen, er habe das jüdische Denkangebot nicht hinreichend aufgenommen, erscheint mir nicht ganz gerechtfertigt. Gerade in den Jesus-Büchern versucht Benedikt, die alttestamentlichen Referenzstellen der Christologie durchgängig einzuholen. Auch darf der historisch einzigartige Dialog mit Rabbi Jacob Neusner über die Bergpredigt nicht unterschlagen werden. Außerdem wäre kritisch rückzufragen, ob sich die Traditionsstränge so säuberlich in hellenistische und biblische trennen lassen, wie das von manchen Kritikern unterstellt wird. Die Septuaginta, die Übersetzung der Biblia Hebraica ins Griechische, zeigt die Verzahnung ebenso wie die Weisheitsschriften im Alten Testament - und die Evangelien sind bekanntlich auch in griechischer Sprache verfasst.
Sehen Sie eigentlich die Gefahr, dass es den theologischen Schriften Ratzingers ähnlich ergehen wird wie etwa jenen Karl Rahners - jeder spricht davon, aber keiner liest sie mehr...?
Nein, das wird so kaum der Fall sein - denn zwischen Rahner und Ratzinger gibt es eine große Differenz: Rahner hat sich stark an der neuscholastischen Schultheologie abgearbeitet und die anthropologische Wende in die Theologie eingeführt. Dabei hat er stark transzendentaltheologisch argumentiert und auf die Einbeziehung von biblischen, liturgischen oder patristische Quellen weithin verzichtet. Damit ist ein gewisser Abstraktionsgrad verbunden, der die Rezeption seiner Schriften heute erschwert. Ratzinger hingegen hat keinen Ansatz ausgebildet, er argumentiert konkret, nah an der Bibel und den Kirchenvätern, aber auch in Tuchfühlung mit aktuellen Fragestellungen. Das ist ein Vorgehen, das seine Theologie mit den Anwälten des Ressourcement wie H. de Lubac und J. Daniélou verbindet: der Versuch, die orientierende Kraft der Quellen direkt im Blick auf Zeitfragen der Gegenwart deutlich zu machen. Man kann das methodisch bemängeln, aber die Resonanz spricht doch auch für sich. Eine gewisse Leerstelle bei Ratzinger sehe ich allenfalls in seiner Zurückhaltung gegenüber der Philosophie der Moderne.
Sie haben die Jesus-Bücher angesprochen. Diese erfreuen sich ja heute einer großen Leserschaft und gelten fast schon wie das theologische Vermächtnis Joseph Ratzingers...
Die Bücher sind in der Tat lesenswerte Meditationen zu Gestalt und Botschaft Jesu Christi, die Erinnerung und Erzählung eng aneinander binden. Aber die Jesus-Bücher sind vom literarischen Genuss her weder ein exegetischer Kommentar noch eine dogmatische Christologie. Das muss man, glaube ich, deutlich herausstreichen. Es geht Benedikt darin um eine neue, durchaus moderne Form der "Mysterien des Lebens Jesu", die von Geburt und Taufe über die Verkündigung bis hin zu Tod, Auferstehung und Himmelfahrt reichen. Letztlich geht es darum, die Gestalt Jesu nicht in der Vergangenheit einzuschließen, sondern für die Gegenwart zu öffnen und die Leser zu einer Freundschaft mit Christus einzuladen. Das heißt: Benedikt will den dramatischen Riss zwischen der historisch-kritischen Forschung und dem kirchlichen Christus-Glauben überwinden und heilen.
Das Pontifikat Benedikts XVI. wurde ja gerne als "Übergangspontifikat" bezeichnet. Trifft das zu?
Das ist einseitig gedacht. Gewiss, es gab gravierende Probleme, aber die meisten davon haben sich bereits unter Johannes Paul II. angebahnt - etwa die Missbrauchsproblematik. Es gab natürlich Pannen - man denke an die Aussöhnung mit der Piusbruderschaft. Mit der Aufhebung der Exkommunikation war mitnichten eine volle Rehabilitierung verbunden, wie das in den Medien weithin kommuniziert wurde. Die Bischöfe und Priester der Piusbruderschaft sind bis heute suspendiert, die angezielte "volle Gemeinschaft" mit der katholischen Kirche erlangen sie erst, wenn die Lehrdifferenzen ausgeräumt sind. Aber solche Differenzierungen sind mit der "Causa Williamson" untergegangen, bei der die kurialen Behörden schlichtweg versagt haben. Auch die "Vatileaks"-Affäre und die Irritationen im Zusammenhang der Wiederzulassung der tridentinischen Messe wären hier zu nennen. Ich halte aber z.B. die Enzykliken Benedikts für bedeutende Dokumente, die sicher auch in 20 oder 30 Jahren noch gelesen werden. Sie heben sich vom eher selbstreferenziellen Stil der Enzykliken Johannes Pauls II. ab, indem sie auch Autoren wie Descartes, Kant und Nietzsche in die theologische Selbstverständigung mit einbeziehen.
In "Spe salvi", der Enzyklika über die Hoffnung, findet sich ein beachtenswertes Lehrstück über die wechselseitige Lernbereitschaft von Glauben und moderner Vernunft: Die Kritik am christlichen Heilsegoismus und an kirchlichen Strategien der Jenseitsvertröstung durch Karl Marx muss - so schreibt Benedikt darin - konstruktiv aufgenommen werden. Nur so könne die gesellschaftsverändernde Kraft des Glaubens überzeugend vertreten werden. Umgekehrt überdehne die moderne Vernunft ihre Möglichkeiten, wenn sie im Zuge des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts das Reich Gottes ohne Gott installieren wolle. Das sind Einsichten und Gedanken, die ihre Gültigkeit nicht verlieren.
Blicken wir auf das Verhältnis von Franziskus und Benedikt. Die innerkirchliche Lagerbildung, die spätestens seit "Amoris laetitia" bzw. den Reaktionen darauf deutlich sichtbar wird, scheint Benedikt und Franziskus ja geradezu zu zwei Polen zu stilisieren, um die sich die beiden unversöhnlichen Lager gruppieren...
Diese Gefahr besteht tatsächlich, und sicher hätte Benedikt die Öffnung im pastoralen Umgang mit wiederverheiratet Geschieden so nicht verfügt, so sehr sich beide Päpste einig sind, in einer "Kultur des Provisorischen" für die Ehe als verbindliche Lebensform zu werben. Dennoch glaube ich, dass die Lagerbildung den tatsächlichen theologischen Profilen der beiden Päpste nicht gerecht wird. Ich teile die These des Bruchs zwischen den beiden Pontifikaten nicht. Benedikt war der gelehrte Theologe auf der cathedra Petri, der um die Konsistenz und Kohärenz des Glaubens bemüht war; Franziskus ist der Seelsorger, der an die Peripherien geht, um das Evangeliums zu bezeugen. Benedikt selbst hat in einem lesenswerten "Communio"-Interview unterstrichen, dass er das Leitwort des Pontifikats von Franziskus - das Wort "Barmherzigkeit" - für theologisch zentral hält. Bei allem Unterschied im Stil teilen Benedikt und Franziskus die gleiche theologische Grundoption - es wäre daher eine theologiepolitische Instrumentalisierung, wenn man Benedikt gegen Franziskus in Anschlag bringt.
Ganz direkt gefragt: Fehlt (Ihnen) Benedikt als Papst?
Es ist Franziskus hoch anzurechnen, dass er es geschafft hat, die Dauerbrennpunkt-Themen aus der Öffentlichkeit gebracht zu haben. Das war eine dringend notwendige - auch innerkirchliche - Befreiung, die auch seinem menschenzugewandten und gewinnenden Stil zu verdanken ist. Aber ich muss auch eingestehen, dass die mediale Dauerpräsenz von Franziskus etwa in Form seiner Interviews Überhangprobleme produziert. Anders gesagt: Franziskus verfügt über einen erfrischenden Stil im Zugehen auf Menschen, die Permanenz seiner Interviews hingegen führt zu einer Aufmerksamkeitseinbuße und wohl auch Autoritätsverlust pontifikalen Sprechens. Vielleicht ist ja die anhaltende, wenn auch im wahrsten Sinne hintergründige Präsenz Benedikts im Vatikan eine Mahnung zu größerer Bedachtsamkeit im Umgang mit Worten. Eine Art heilsamer Kontrapunkt.
Das Interview führte Henning Klingen
Erschienen in: Kathpress-"Info-Dienst" vom 14. April 2017