"Solidarität ist wirksamstes Heilmittel gegen Populismus"
Verehrte Gäste, ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit heute Abend, am Vorabend des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Gründungsverträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft. Jedem möchte ich die Verbundenheit des Heiligen Stuhls mit Ihren jeweiligen Ländern und mit ganz Europa zum Ausdruck bringen, an dessen Geschick er durch Fügung der Vorsehung untrennbar gebunden ist.
Mein besonderer Dank gilt dem Ministerpräsidenten der Republik Italien Paolo Gentiloni für die ehrerbietigen Worte, die er im Namen aller gesprochen hat, wie auch für die Bemühungen Italiens in der Vorbereitung dieses Treffens. Zudem danke ich dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Antonio Tajani, der den Erwartungen der Völker der Europäischen Union bei diesem Anlass Ausdruck verliehen hat.
60 Jahre später nach Rom zurückzukehren darf nicht bloß eine Reise in die Erinnerungen sein, sondern ist vielmehr das Verlangen, das lebendige Gedächtnis jenes Ereignisses wiederzuentdecken, um dessen Bedeutung in der Gegenwart zu verstehen. Man muss sich in die damaligen Herausforderungen hineinversetzen, um sich denen von heute und von morgen stellen zu können. Die Bibel bietet uns mit ihren an Bezügen reichen Erzählungen eine wesentliche pädagogische Methode: Man kann die Zeit, in der wir leben, nicht ohne die Vergangenheit begreifen, die nicht als die Gesamtheit ferner Tatsachen zu verstehen ist, sondern als der Lebenssaft, der die Gegenwart durchströmt. Ohne dieses Bewusstsein verliert die Realität ihre Einheit, die Geschichte ihren logischen Faden, und die Menschheit geht des Sinnes ihrer eigenen Taten sowie der Richtung der eigenen Zukunft verlustig.
Der 25. März 1957 war ein Tag voller Erwartungen, voller Hoffnung, Begeisterung und Bangen, und nur ein aufgrund seiner Tragweite und historischer Konsequenzen außergewöhnliches Ereignis konnte ihn zu einem einzigartigen Tag in der Geschichte machen. Das Gedenken jenes Tages verbindet sich mit den Hoffnungen von heute und den Erwartungen der Völker Europas, die ein Nachdenken über die Gegenwart fordern, um mit neuem Schwung zuversichtlich den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Die Gründerväter und die Verantwortungsträger, die durch die Unterzeichnung der zwei Verträge jene politische, wirtschaftliche, kulturelle, aber vor allem menschliche Wirklichkeit ins Leben gerufen haben, die wir heute Europäische Union nennen, waren sich dessen wohl bewusst.
Andererseits ging es, wie der belgische Außenminister Spaak sagte, "gewiss um den materiellen Wohlstand unserer Völker, um die Ausweitung unserer Wirtschaft, um den sozialen Fortschritt, um völlig neue Industrie- und Handelsmöglichkeiten, aber vor allem [...] um eine Lebenshaltung nach menschlichem Maß, brüderlich und gerecht" [Ansprache von Paul-Henri Spaak anl. der Unterzeichnung der Römischen Verträge, 25.3.1957].
Nach den dunklen und blutigen Jahren des Zweiten Weltkrieges haben die Verantwortungsträger damals an die Möglichkeit einer besseren Zukunft geglaubt, "ihnen hat es nicht an Wagemut gefehlt und sie haben nicht zu spät gehandelt. Die Erinnerung an das vergangene Unheil und [...] an ihre Schuld scheint sie angeregt und ihnen den notwendigen Mut verliehen zu haben, um die alten Auseinandersetzungen zu vergessen [...] und in einer wahrhaft neuen Weise zu denken und zu handeln, um die größte [...] Veränderung [...] Europas zu verwirklichen" [ebd.].
Die Gründerväter erinnern uns daran, dass Europa nicht eine Summe von einzuhaltenden Regeln, nicht ein Handbuch von zu befolgenden Protokollen und Verfahrensweisen ist. Es ist ein Leben; eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendenten und unveräußerlichen Würde zu begreifen und nicht nur als eine Gesamtheit von zu verteidigenden Rechten oder einzufordernden Ansprüchen. Am Ursprung der Idee Europa steht "die Gestalt und die Verantwortlichkeit der menschlichen Person samt dem Ferment einer im Evangelium gegründeten Brüderlichkeit, [...] mit ihrem Willen zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, der von einer tausendjährigen Erfahrung geschärft wurde" [Ansprache von Alcide de Gasperi vor der Parlamentarischen Versammlung der EGKS, 21. April 1954]. Rom ist mit seiner Berufung zur Universalität [Spaak., ebd.] Symbol dieser Erfahrung und wurde deswegen als Ort für die Unterzeichnung der Verträge ausgewählt. Denn hier - wie der niederländische Außenminister Luns ins Gedächtnis rief - "wurden die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente unserer Kultur gelegt" [Ansprache von Joseph Luns anl. der Unterzeichnung der Röm. Verträge, 25.3.1957].
Von Anfang an war klar, dass das pulsierende Herz des politischen Projekts Europa nur der Mensch sein konnte. Zugleich bestand offenkundig das Risiko, dass die Verträge toter Buchstabe bleiben könnten. Diese mussten mit lebendigem Geist erfüllt werden. Und das erste Element europäischer Lebenskraft ist die Solidarität. "Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft", bekräftigte der luxemburgische Premierminister Bech, "wird nur dann leben und erfolgreich sein, wenn sie in ihrem Bestehen dem Geist europäischer Solidarität, der sie geschaffen hat, treu bleibt und wenn der gemeinsame Wille des entstehenden Europas mächtiger ist als die nationalen Willensbestrebungen" [Ansprache von Joseph Bech anl. Unterzeichnung der Röm. Verträge]. Dieser Geist ist angesichts der zentrifugalen Kräfte wie auch der Versuchung, die Gründungsideale der Union auf produktive, wirtschaftliche und finanzielle Erfordernisse zu reduzieren, heute höchst notwendig.
Aus der Solidarität entspringt die Fähigkeit, sich für die anderen zu öffnen. "Unsere Pläne sind nicht eigensüchtiger Natur", sagte der deutsche Kanzler Adenauer. "Ohne Zweifel beabsichtigen die Länder, die im Begriff sind, sich zu vereinen, [...] nicht, sich von der restlichen Welt zu isolieren und um sich herum unüberwindliche Schranken aufzurichten", pflichtete der französische Außenminister Pineau bei. In einer Welt, der das Drama der Mauern und Teilungen wohl vertraut war, war man sich der Bedeutung überaus bewusst, für ein geeintes und offenes Europa zu arbeiten, und man hatte den gemeinsamen Willen, sich für die Beseitigung jener unnatürlichen Schranke einzusetzen, die von der Ostsee bis zur Adria den Kontinent teilte. So viele Mühen hat man aufgewendet, um jene Mauer zu Fall zu bringen! Und doch ist heute die Erinnerung an die Mühen verloren gegangen. Ebenso ist das Bewusstsein des Dramas getrennter Familien, von Armut und Elend, die jene Teilung hervorrief, abhandengekommen. Dort, wo Generationen sich sehnlichst wünschten, die Symbole einer aufgezwungenen Feindschaft fallen zu sehen, diskutiert man heute, wie man die jetzigen "Gefahren" fernhalten kann: angefangen von dem langen Treck von Frauen, Männern und Kindern, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind und nur um die Möglichkeit einer Zukunft für sich und die ihnen nahestehenden Personen bitten.
In dem Erinnerungsvakuum, das unsere heutige Zeit kennzeichnet, vergisst man oft auch eine weitere große Errungenschaft, die Frucht der am 25. März 1957 sanktionierten Solidarität ist: die längste Friedensära der letzten Jahrhunderte. "Völker, die im Lauf der Zeit sich oftmals in gegensätzlichen Lagern befunden und sich gegenseitig bekämpft haben, [...] finden sich jetzt hingegen durch den Reichtum ihrer nationalen Besonderheiten geeint wieder" [Ansprache von Paul-Henri Spaak, 25.3.1957]. Der Friede wird immer durch die freie und bewusste Mitwirkung eines jeden begründet. Dennoch "[erscheint] heute für viele der Friede in gewisser Weise als ein selbstverständliches Gut" [Franziskus, Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatischen Korps, 9.1.2017], und so ist es einfach, ihn schließlich gar als überflüssig zu erachten. Der Friede ist hingegen ein kostbares und wesentliches Gut, da man ohne ihn nicht in der Lage ist, für jemanden eine Zukunft aufzubauen, und am Ende "in den Tag hineinlebt".
Das geeinte Europa entsteht in der Tat aus einem klaren, wohl definierten und sachgemäß durchdachten Projekt, auch wenn zunächst nur in einem Anfangsstadium. Jedes gute Projekt schaut auf die Zukunft, und die Zukunft sind die Jugendlichen, die dazu berufen sind, die Verheißungen der kommenden Zeit zu verwirklichen [Paul-Henri Spaak, 25.3.1957]. Den Gründervätern war demnach klar bewusst, Teil eines gemeinsamen Werkes zu sein, das nicht nur Staats-, sondern auch Zeitgrenzen überschritt, um die Generationen untereinander zu verbinden, die alle am Aufbau des gemeinsamen Hauses ebenbürtig beteiligt sind.
Verehrte Gäste, den Vätern Europas habe ich diesen ersten Teil meiner Ansprache gewidmet, damit wir uns von ihren Worten herausfordern lassen, von der Aktualität ihres Denkens, vom leidenschaftlichen Einsatz für das Gemeinwohl, der sie auszeichnete, von der Gewissheit, Teil eines Werkes zu sein, das größer ist als sie selbst, und von der Weite des Ideals, das sie beseelte. Ihr gemeinsamer Nenner war der Geist des Dienens. Damit verbunden war die politische Leidenschaft und das Bewusstsein, dass "am Ursprung der europäischen Kultur das Christentum steht" [Alcide de Gasperi, 21.4.1954], ohne das die westlichen Werte der Würde, Freiheit und Gerechtigkeit zumeist nicht verständlich erscheinen. "Auch in unserer Zeit", erklärte der heilige Johannes Paul II., "bleibt die Seele Europas geeint, weil es über seinen gemeinsamen Ursprung hinaus von den gleichen christlichen und humanen Werten lebt, wie beispielsweise der Würde der menschlichen Person, dem echten Gefühl für Gerechtigkeit und Freiheit, der Arbeitsamkeit, dem Unternehmungsgeist, der Liebe zur Familie, der Achtung vor dem Leben, der Toleranz, dem Wunsch zur Zusammenarbeit und zum Frieden, die seine charakteristischen Merkmale sind und es kennzeichnen" [Johannes Paul II., Europa-Feier, Santiago de Compostela, 9.11.1982]. In unserer multikulturellen Welt werden diese Werte weiterhin volles Heimatrecht finden, wenn sie ihre lebensnotwendige Verbindung mit der Wurzel, aus der sie hervorgegangenen sind, aufrecht zu erhalten wissen. In dieser fruchtbaren Verbindung liegt die Möglichkeit, authentisch laikale Gesellschaften aufzubauen, die frei von ideologischen Gegensätzen sind und in denen Fremde und Einheimische, Gläubige und Nichtgläubige gleichermaßen Platz finden.
In den letzten sechzig Jahren hat sich die Welt sehr verändert. Wenn die Gründerväter, die einen verheerenden Konflikt überlebt hatten, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft beseelt und von dem Willen bestimmt waren, diese zu verfolgen, indem sie das Aufkommen neuer Konflikte zu verhindern suchten, so wird unsere Zeit mehr von der Vorstellung der Krise beherrscht. Es gibt die Wirtschaftskrise, die das letzte Jahrzehnt gekennzeichnet hat, es gibt die Krise der Familie und von gefestigten gesellschaftlichen Formen, es gibt eine verbreitete "Krise der Institutionen" und die Flüchtlingskrise: viele Krisen, welche die Angst und die tiefe Verwirrung des heutigen Menschen verbergen, der nach einer neuen Hermeneutik für die Zukunft verlangt.
Dennoch hat der Begriff "Krise" an und für sich keine negative Bedeutung. Er zeigt nicht bloß einen schlimmen Augenblick an, der zu überwinden ist. Das Wort Krise hat seinen Ursprung im griechischen Verb "crino", das untersuchen, prüfen, entscheiden bedeutet. Unsere Zeit ist also eine Zeit der Entscheidung, die dazu einlädt, das Wesentliche zu prüfen und darauf aufzubauen: es ist somit eine Zeit von Herausforderungen und Möglichkeiten.
Welche ist also die Hermeneutik, der Interpretationsschlüssel, mit dem wir die Schwierigkeiten der Gegenwart lesen und Antworten für die Zukunft finden können? Die Erinnerung an das Denken der Väter wäre nämlich unfruchtbar, wenn sie nicht dazu diente, einen Weg aufzuzeigen, wenn sie nicht zu einem Ansporn für die Zukunft und einer Quelle der Hoffnung würde. Jedes Wesen, das den Sinn seines Weges verliert und dem dieser nach vorwärts gerichtete Blick abhandenkommt, erleidet zunächst eine Rückbildung und läuft auf lange Sicht Gefahr zu sterben. Was ist also die Hinterlassenschaft der Gründerväter? Welche Perspektiven zeigen sie uns auf, um uns den Herausforderungen zu stellen, die auf uns warten? Welche Hoffnung geben sie uns für das Europa von heute und morgen?
Die Antworten finden wir eben genau in den Pfeilern, auf denen sie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft errichten wollten und an die ich schon erinnert habe: die Zentralität des Menschen, eine tatkräftige Solidarität, die Offenheit für die Welt, das Verfolgen des Friedens und der Entwicklung, die Offenheit für die Zukunft. Es ist Aufgabe der Regierenden, die Straßen der Hoffnung zu erkennen, die konkreten Pfade ausfindig zu machen, damit die bisher vollbrachten bedeutenden Schritte sich nicht zerstreuen, sondern Unterpfand eines langen und fruchtbaren Weges werden.
Europa findet wieder Hoffnung, wenn der Mensch die Mitte und das Herz seiner Institutionen ist. Ich meine, dies muss das aufmerksame und vertrauensvolle Anhören der Anliegen miteinschließen, die sowohl von den Einzelnen vorgebracht werden als auch von der Gesellschaft und den Völkern, welche die Union bilden. Leider hat man oft den Eindruck, dass eine "affektive Kluft" zwischen den Bürgern und Institutionen Europas besteht, die häufig als fern wahrgenommen werden und unaufmerksam gegenüber den verschiedenen Sensibilitäten, welche die Gemeinschaft bestimmen. Der Zentralität des Menschen Geltung zu verschaffen bedeutet auch, den Familiengeist wiederzufinden, in dem jeder frei entsprechend den eigenen Fähigkeiten und Gaben seinen Beitrag zum gemeinsamen Haus leistet. Es ist angebracht, sich vor Augen zu halten, dass Europa eine Familie von Völkern [Vgl. Franziskus, Ansprache an das Europaparlament, Straßburg, 25.11.2014] ist und dass es - wie in jeder guten Familie - unterschiedliche Sensibilitäten gibt, aber alle in dem Maße wachsen können, wie sie geeint sind. Die Europäische Union entsteht als eine Einheit der Verschiedenheiten und Einheit in den Verschiedenheiten. Die Eigenheiten dürfen deshalb nicht erschrecken und man darf auch nicht denken, dass Einheit durch Uniformität bewahrt würde. Diese ist vielmehr die Harmonie einer Gemeinschaft. Die Gründerväter wählten gerade diesen Begriff als Angelpunkt für die Einrichtungen, die aus den Verträgen entstehen sollten, indem sie betonten, dass die Ressourcen und Talente jedes Einzelnen gemeinsam genutzt werden sollten. Heute muss die Europäische Union wieder den Sinn dafür entdecken, "Gemeinschaft" von Menschen und Völkern zu sein, die sich bewusst ist, dass "das Ganze [...] mehr [ist] als der Teil, und es [...] auch mehr [ist] als ihre einfache Summe [Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 235.] und dass man also "immer den Blick weiten [muss], um ein größeres Gut zu erkennen, das uns allen Nutzen bringt" [ebd.]. Die Gründerväter suchten jene Harmonie, in der das Ganze in jedem der Teile ist, und die Teile - jedes mit seiner eigenen Originalität - im Ganzen sind.
Europa findet wieder Hoffnung in der Solidarität, die auch das wirksamste Heilmittel gegen die modernen Formen des Populismus ist. Die Solidarität bringt das Bewusstsein mit sich, Teil eines einzigen Körpers zu sein, und schließt gleichzeitig die Fähigkeit eines jeden Gliedes mit ein, mit dem anderen und dem Ganzen zu "sympathisieren". Wenn einer leidet, leiden alle (vgl. 1 Kor 12,26). So betrauern auch wir heute zusammen mit dem Vereinigten Königreich die Opfer des Attentats in London vor zwei Tagen. Die Solidarität ist nicht ein guter Vorsatz: Sie ist gekennzeichnet durch konkrete Taten und Handlungen, die einem den Mitmenschen näher bringen unabhängig von seiner momentanen Lage. Die Formen von Populismus hingegen sind eben Blüten des Egoismus, der in einen engen und erdrückenden Kreis einschließt und nicht zulässt, die Enge der eigenen Gedanken zu überwinden und darüber hinaus zu sehen. Man muss wieder beginnen, europäisch zu denken, um die gegensätzliche Gefahr einer grauen Uniformität oder des Triumphs der Partikularismen abzuwehren. Eine solche Führungsrolle der Ideen ist Sache der Politik; diese soll vermeiden, Emotionen auszunutzen, um Zustimmung zu gewinnen, sondern vielmehr im Geist der Solidarität und Subsidiarität politische Handlungsweisen erarbeiten, welche die gesamte Union in einer harmonischen Entwicklung wachsen lassen. So mag, wer schneller zu laufen fähig ist, dem langsameren die Hand reichen, und wer mehr Mühe hat, sei bestrebt, den an der Spitze zu erreichen.
Europa findet wieder Hoffnung, wenn es sich nicht in die Angst falscher Sicherheiten einschließt. Im Gegenteil, seine Geschichte ist sehr von der Begegnung mit anderen Völkern und Kulturen bestimmt und seine Identität "ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität" [Franziskus, Ansprache anl. Verleihung des Karlspreises, 6.5.2016]. Es besteht in der Welt Interesse für das europäische Projekt. Es bestand vom ersten Tag an, wie die dicht gedrängte Menge auf dem Kapitolsplatz und die Glückwunschschreiben aus anderen Staaten zeigten. Noch mehr besteht es heute angefangen von den Ländern, die um Aufnahme in die Union bitten, wie auch von den Staaten, welche die Hilfeleistungen erhalten, die ihnen sehr großzügig angeboten werden, um die Folgen der Armut, der Krankheiten und der Kriege bekämpfen zu können. Die Öffnung für die Welt schließt die Fähigkeit des "Dialog[s] als Form der Begegnung" [Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 239.] auf allen Ebenen mit ein, von der Begegnung zwischen den Mitgliedsstaaten und zwischen den Institutionen und den Bürgern bis hin zur Begegnung mit den zahlreichen Immigranten, die an den Küsten der Union landen.
Man kann sich nicht darauf beschränken, die schwerwiegende Flüchtlingskrise dieser Jahre so zu bewältigen, als sei sie nur ein zahlenmäßiges, wirtschaftliches oder ein die Sicherheit betreffendes Problem. Die Migrationsproblematik stellt eine tiefere Frage, die vor allem kultureller Natur ist. Welche Kultur bietet Europa heute an? Die Angst, die man häufig wahrnimmt, findet nämlich ihren tieferen Grund im Verlust der Ideale. Ohne eine echte Perspektive der Ideen wird man am Ende von der Angst beherrscht, dass der andere uns aus den festen Gewohnheiten herausreißt, uns die erworbenen Annehmlichkeiten nimmt, auf gewisse Weise einen Lebensstil in Frage stellt, der allzu oft nur aus materiellem Wohlstand besteht. Der Reichtum Europas ist hingegen immer seine geistige Offenheit gewesen und die Fähigkeit, sich grundlegende Fragen über den Sinn des Daseins zu stellen. Der Offenheit für den Sinn des Ewigen entspricht zudem eine positive - wenn auch nicht spannungsfreie und fehlerlose - Öffnung gegenüber der Welt. Der erworbene Wohlstand scheint ihm hingegen die Flügel gestutzt und ihn dazu gebracht zu haben, den Blick zu senken. Europa hat ein ideelles und geistiges Erbe, das einzigartig ist auf der Welt. Dieses ist es wert, mit Leidenschaft und neuer Frische wieder aufgegriffen zu werden. Es stellt das beste Heilmittel gegen das Vakuum an Werten unserer Zeit dar, jenen fruchtbaren Boden für Extremismen aller Art. Diese Ideale haben Europa, jene "Halbinsel Asiens", die vom Ural bis zum Atlantik reicht, hervorgebracht.
Europa findet wieder Hoffnung, wenn es in die Entwicklung und den Frieden investiert. Die Entwicklung ist nicht durch eine Gesamtheit von Produktionstechniken gegeben. Sie betrifft den ganzen Menschen: die Würde durch seine Arbeit, angemessene Lebensbedingungen, die Möglichkeit des Zugangs zu Bildung und der notwendigen medizinischen Versorgung. "Die Entwicklung [ist] gleichbedeutend [...] mit Frieden" [Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 26.3.1967,], sagte Paul VI., da es keinen wahren Frieden gibt, wenn Menschen ausgegrenzt oder zu einem Leben im Elend gezwungen werden. Es gibt keinen Frieden, wo Arbeit oder die Aussicht auf einen menschenwürdigen Lohn fehlen. Es gibt keinen Frieden in den Peripherien unserer Städte, in denen Drogen und Gewalt grassieren.
Europa findet wieder Hoffnung, wenn es sich der Zukunft öffnet; wenn es sich den jungen Menschen öffnet und ihnen ernsthafte Perspektiven zur Bildung sowie reale Möglichkeiten zur Eingliederung in die Arbeitswelt bietet; wenn es in die Familie, die erste und grundlegende Zelle der Gesellschaft, investiert; wenn es das Gewissen und die Ideale seiner Bürger respektiert; wenn es die Möglichkeit garantiert, Kinder zu bekommen, ohne Angst haben zu müssen, nicht für ihren Unterhalt sorgen zu können; wenn es das Leben in seiner ganzen Unantastbarkeit schützt.
Verehrte Gäste, aufgrund der allgemein längeren Lebenserwartung sieht man sechzig Jahre heute als die Zeit der vollen Reife an. Ein entscheidendes Alter, in dem man nochmals gerufen ist, sich zu prüfen.
Auch die Europäische Union ist heute gerufen, sich zu prüfen sowie die unvermeidlichen Beschwerden, die mit den Jahren einhergehen, zu behandeln und neue Pfade zu finden, um den eigenen Weg fortzusetzen. Im Unterschied zu einem sechzigjährigen Menschen aber hat die Europäische Union nicht ein unausweichliches Altwerden vor sich, sondern die Möglichkeit einer neuen Jugend. Ihr Erfolg wird vom Willen abhängen, weiter zusammenzuarbeiten, und von der Lust, auf die Zukunft zu setzen. Es ist Ihre Aufgabe als Verantwortungsträger, den Weg zu einem "neuen europäischen Humanismus" [Franziskus, Ansprache anl. Verleihung des Karlspreises, 6.5.2016] auszumachen, der aus Idealen und konkreter Umsetzung besteht. Dies bedeutet, keine Angst davor zu haben, wirksame Entscheidungen zu übernehmen, die auf die realen Probleme der Menschen Antwort geben und der Erprobung durch die Zeit standhalten können.
Meinerseits kann ich nur versichern, dass der Heilige Stuhl und die Kirche ganz Europa nahe ist. An seinem Aufbau hat die Kirche stets mitgewirkt und wird immer mitwirken. Dazu bittet sie für Europa um den Segen des Herrn, damit er es beschütze und ihm Frieden und Fortschritt schenke. Ich mache mir deshalb die Worte zu eigen, die Joseph Bech auf dem Kapitol gesprochen hat: Ceterum censeo Europam esse aedificandam. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Europa es wert ist, aufgebaut zu werden.