EU vor größten Herausforderungen seit Jahrzehnten
Die Europäische Union steht heute zweifelsohne vor den größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte. Das hat der Apostolische Nuntius Erzbischof Peter Stephan Zurbriggen am Donnerstag in seiner Rede beim Neujahrsempfang von Bundespräsident Alexander Van der Bellen für das Diplomatische Corps in der Wiener Hofburg betont. Als zentrale Herausforderungen nannte der Doyen des Diplomatischen Corps das geringe Wirtschaftswachstum im globalen Vergleich, die weiterhin ungelöste Flüchtlings-Thematik zusammen mit bewaffneten Konflikten an Europas Grenzen oder das EU-Austritts-Votum der Briten.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten seien gefordert, Antworten auf diese drängenden Fragen zu finden und zu liefern, mahnte Zurbriggen. Andererseits müssten aber auch die Bürgerinnen und Bürger Europas ihre weitverbreitete EU-Skepsis überwinden.
Viele hätten Angst, dass ihre Identität verloren gehen könnte durch die Einreise von Menschen anderer Kulturen, Traditionen und Religionen, so der Nuntius: "In unserer multipolaren Welt, in der es so viele Machtzentren und Interessensgruppen gibt, muss die Verschiedenheit nicht zu einer Ursache von Konflikten, Zusammenstößen und Trennungen werden, sondern zu einer Quelle gegenseitiger Bereicherung." Er verstehe die Geschichte der Menschheit als "Geschichte des fruchtbaren Austausches von Kulturen", betonte Zurbriggen.
Der Erzbischof rief dazu auf, "gegenseitiges Vertrauen herzustellen, Brücken zu bauen, damit der Friede sowie die solidarischen Beziehungen zwischen den Ländern und Völkern gefestigt werden, und so das Gemeinwohl, die Achtung des Lebens und die religiöse Freiheit gewährleisten".
Nuntius Zurbriggen erinnerte zugleich an die Botschaft von Papst Franziskus zum Weltfriedenstag 2017. Darin lade dieser alle Menschen guten Willens zur Gewaltfreiheit als "Stil einer Politik für den Frieden" ein. Gewaltfreiheit müsse die zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen wie auch internationalen Beziehungen durchziehen, "um so einen gerechten und dauerhaften Frieden aufzubauen". In diesem Sinn appelliere der Papst auch für die Abrüstung sowie für das Verbot und die Abschaffung der Atomwaffen, so Zurbriggen.
In Anwesenheit von Aussenminister Sebastian Kurz kam der Nuntius darauf zu sprechen, dass Österreich in diesem Jahr den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne hat. Das sei eine "einmalige Chance, Konflikte und offene Fragen in Europa mit Mut, Beharrlichkeit und politischem Geschick und Fingerspitzengefühl anzugehen". Er erhoffe sich jedenfalls, soweit möglich, "nachhaltige und akzeptable Lösungen, die dem Gemeinwohl dienen".
Wien sei sei Jahrzehnten eine "Drehscheibe internationaler Politik", so der Doyen des Diplomatischen Corps unter Verweis auf einige zentrale Aktivitäten im vergangenen Jahr; beispielsweise den "Implementation Day", mit dem der Weg für die Aufhebung der internationalen Wirtschaftssanktionen gegen den Iran freigemacht wurde, die Syriengespräche oder eine Konferenz zum Kampf gegen den Menschenhandel.
"Beispiellos schwieriges Jahr"
Auch Bundespräsident Van der Bellen sprach von einem "beispiellos schwierigen Jahr" für die EU. Der Blick zurück zeige aber auch, dass die EU trotz multipler Krisen "in allen Bereichen in enorm kurzer Zeit entschlossen reagiert hat und wirksame Instrumente geschaffen und Maßnahmen ergriffen hat". Der Präsident sprach etwa die Erarbeitung eines Aktionsplan im Bereich Migrationspolitik an, oder die in Angriff genommene Reform eines gemeinsamen europäischen Asylsystems.
Große Sorge bereiten dem Präsidenten die Entwicklungen in der Ostukraine. Österreich stehe auf dem Standpunkt, "dass eine Lösung zahlreicher internationaler und regionaler Probleme nur gemeinsam mit Russland möglich ist". Deshalb sei man an guten Beziehungen mit der Russischen Föderation sehr interessiert. "Das darf uns nicht daran hindern festzustellen, dass durch die illegale Annexion der Krim Völkerrecht verletzt wurde und die Einstellung der Unterstützung der bewaffneten Formationen in der Ostukraine zu fordern." Zugleich erinnere Österreich aber auch die Ukraine daran, ihre Verpflichtungen im Rahmen der Minsker Abkommen zu erfüllen.
Mit Spannung blicke er in die USA, so Van der Bellen. Angesichts der zahlreichen Krisen und Konflikte weltweit hoffe er sehr, "dass die US-Außenpolitik auch in Zukunft vom Wunsch nach enger Zusammenarbeit, auch im multilateralen Rahmen, und von gegenseitigem Respekt geprägt sein wird".
Enttäuscht zeigte sich Van der Bellen über die Entwicklung im Syrien-Krieg. Im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle über Aleppo sei deutlich geworden, dass die Konfliktparteien trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse nach wie vor an eine militärische Lösung des Bürgerkriegs glauben. Er sei aber überzeugt, so der Bundespräsident, "dass es eine solche nicht geben kann".
Zum israelisch-palästinensischen Konflikt bekräftigte Van der Bellen, dass sich Österreich und die EU auch weiterhin mit allen Kräften für die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung einsetzen würden.
Zur Türkei meinte der Präsident, dass diese ein "wichtiger Partner für Europa" bleibe, sei es in den Bereichen Wirtschaft, Migration, Sicherheit oder regionalen Fragen. Eine auf demokratischen Prinzipien basierte Türkei sei für Europa essentiell, nicht zuletzt um die Stabilität in der Region zu gewährleisten. Van der Bellen wörtlich: "Wir haben den Putschversuch unmissverständlich verurteilt und erkennen den Kampf der Türkei gegen den Terrorismus an. Willkürliche Säuberungsaktionen und Beschränkung der Pressefreiheit sind aus unserer Sicht allerdings inakzeptabel." Österreich sei daher sehr beunruhigt über die dramatischen Entwicklungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Terrorismusbekämpfung und der Kampf gegen den gewalttätigen Extremismus würden weit über rein polizeiliche Maßnahmen hinausgehen, unterstrich Van der Bellen. Hier sei ein umfassender Ansatz vonnöten, "der die gesamte Gesellschaft miteinbezieht, indem Werte vermittelt werden, die der Radikalisierung den Nährboden entziehen".
Er wolle hinzufügen, "dass ein demokratischer Rechtsstaat nur dann schwach wird, wenn er sich durch Terror dazu hinreißen lässt, seine eigenen Grundsätze der vermeintlichen Bekämpfung des Terrorismus zu opfern, denn nur dann hätten die Terroristen einen Sieg errungen".
Abschließend wies der neue Bundespräsident darauf hin, dass in Österreich 2016 rund 42.000 Personen um Asyl angesucht hätten. Österreich komme jedenfalls auch weiterhin seiner humanitären Verantwortung nach. Die in der Geschichte Österreichs immer wieder unter Beweis gestellte Grundhaltung, Menschen in Not zu helfen, sei jedoch im Zusammenhang mit der Gewährung von Asyl auf Dauer nur möglich, "wenn gleichzeitig die Ursachen für Migration energisch bekämpft werden und Belastungen, die durch eine menschenrechtskonforme Handhabung des Asylrechtes entstehen, gerecht und fair verteilt werden".
Quelle: kathpress