"Sündenfixiertheit hat das Christentum viel gekostet"
Für eine christliche Theologie und ein Menschenbild, das jedem Würde zuspricht statt auf Schuld pocht, hat sich die Tübinger Theologin Johanna Rahner bei der Österreichischen Pastoraltagung ("Like Jesus", 12. bis 14. Jänner) ausgesprochen. "Die Sündenfixiertheit des Erlösungsgedankens hat das Christentum viel gekostet", bedauerte sie in ihrem Vortrag am Donnerstagabend im Salzburger Bildungszentrum St. Virgil und fügte die kritische rhetorische Frage hinzu: "Muss man den Menschen das Leben erst mies machen, um von Heil und Erlösung sprechen zu können?"
Die systematische Theologin mit dem Nachnamen, der für theologische Qualität spricht - auch der Konzilstheologe Karl (1904-1984) und sein Bruder Hugo hießen Rahner - plädierte für die Glaubensüberzeugung "Gott ist Mensch geworden" als entscheidende Heilsmetapher. Eine Theologie der Inkarnation beruhe auf der Wahrheit, "dass sich das Göttliche im Menschlichen zeigt, dass dieses Leben hier und jetzt eine göttliche Würde hat" und bedeute Freude am "Menschseindürfen". Rahner erinnerte an den Philosophen Hans Blumenberg, den Sibylle Lewitscharoff in ihrem Roman "Blumenberg" als vom Transzendenten berührten Denker darstellt: Auch er habe betont, dass der christliche Inkarnationsgedanke "eine unendliche Bestärkung der menschlichen Selbstachtung" sei.
Dem heutigen Zeitgeist liege ein "Weihnachtschristentum" näher als eine im Mittelalter plausible "Versöhnungsmathematik", in der die menschliche Schuld mit dem Blut Christi aufgerechnet wird, wie Rahner sagte. Dabei stehe kein Schmerzensmann mehr am Pfahl, um sich zu opfern, sondern es heiße: "Uns ist ein Kind geboren", als Ausdruck der biblisch fundierten Gewissheit, dass mit Gott immer ein Neubeginn möglich ist.
Wie fremd heutigem Denken eine schuldbetonende Anthropologie geworden ist, illustrierte die Theologin mit einem Satz von Kurt Tucholsky (1890-1935), den sie als Titel ihres Referates wählte: "In mir ist nichts, was erlöst werden muss; ich fühle die culpa (Schuld, Anm.) nicht", hatte Tucholsky schon vor Jahrzehnten stellvertretend für viele Zeitgenossen formuliert. Dem müsse sich auch die theologische Rede von Jesus Christus als dem "Heiland" und "Erlöser der ganzen Welt" stellen. Wichtig dabei sei, dass Gottes Zuwendung in Jesus nicht nur für die Christgläubigen gelte, "sondern für alle Menschen, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt" - wie bereits das Zweite Vatikanische Konzil formuliert habe.
Glaubenstaten wichtiger als Glaubenssätze
Im Interview mit der Kooperationsredaktion österreichischer Kirchenzeitungen zur Pastoraltagung erteilte die Tübinger Dogmatikerin jedweder "Grenzziehung zwischen 'gehört dazu' und 'gehört nicht dazu'" ein Absage. Die Botschaft von Weihnachten richte sich an alle: "Gottes Menschwerdung traut dem Menschen selbst etwas zu, und zwar jedem!" Die Kirche trägt laut Rahner Verantwortung dafür, diese Botschaft auch spürbar zu machen. Und es greife zu kurz, das Christentum als Festhalten an Glaubenssätzen zu definieren. Der Glaubensbegriff des Konzils sei ein anderer: "Das erste Kriterium, an dem man das Christentum festmachen kann, sind doch Taten, welche die Sätze des Glaubens erfahrbar machen."
Vor diesem Hintergrund äußerte Rahner auch Vorbehalte gegen die verbreitete These, dass die Christen in der westlichen Welt immer weniger werden: "Ist der Gottesdienstbesuch ein geeigneter Maßstab, um das festzustellen? Solche formalen Kriterien machen mich skeptisch." Denn damit sei noch lange nicht gesagt, "dass das, was das Christentum ausmacht, nicht auch 'außerhalb' zu finden ist oder in anderer Form wieder auftaucht". Sie denke da zum Beispiel an christliche Werte, die sich rund um das Flüchtlingsthema oder bei der Spendenbereitschaft zeigen.
Und Christen bildeten immer wieder auch Allianzen mit Kräften, die im Sinn des Evangeliums wirken: Die Haltung von Bundeskanzlerin Merkel zu den Flüchtlingen wurde nach der Beobachtung von Johanna Rahner vor allem von Christinnen und Christen unterstützt. "Wer freilich die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen andere Menschen auf den Lippen trägt, vertritt keine echten christlichen Werte", merkte Rahner an. Dies sei "eher ein kulturelles Versatzstück und eigentlich so unchristlich, dass es mir graut".
Quelle: kathpress