Botschaft zum Weltfriedenstag 1993
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1993
„WILLST DU DEN FRIEDEN, KOMM DEN ARMEN ENTGEGEN“
1. Welcher Mensch guten Willens strebt nicht nach Frieden? Der Friede wird heute weltweit als einer der höchsten Werte anerkannt, die es zu suchen und zu verteidigen gilt. Doch während das Gespenst eines Vernichtungskrieges zwischen entgegengesetzten ideologischen Blöcken verschwindet, überziehen immer wieder schwere lokale Konflikte verschiedene Regionen der Erde mit vernichtenden Flammen. Allen steht besonders die dramatische Lage in Bosnien-Herzegowina vor Augen, wo das Kriegsgeschehen weiterhin jeden Tag gerade unter der wehrlosen Zivilbevölkerung neue Opfer dahinrafft und ungeheure Sach- und Umweltschäden verursacht. Nichts, so scheint es, vermag sich der sinnlosen Gewalt der Waffen zu widersetzen: weder die vereinten Bemühungen um einen wirksamen Waffenstillstand, noch der humanitäre Einsatz der internationalen Organisationen, noch das Flehen um Frieden, das einmütig aus den von blutigen Kämpfen heimgesuchten Ländern emporsteigt. Die irrige Logik des Krieges gewinnt leider immer wieder Oberhand über die wiederholten und maßgebenden Friedensaufforderungen.
Außerdem macht sich in der Welt eine andere ernste Bedrohung für den Frieden immer besorgniserregender breit: Viele Menschen, ja ganze Völkerschaften leben heute in äußerster Armut. Der Unterschied zwischen Reichen und Armen ist auch in den wirtschaftlich hochentwickelten Nationen augenfälliger geworden. Es handelt sich um ein Problem, das sich dem Gewissen der Menschheit aufdrängt, da eine große Zahl von Menschen in Verhältnissen lebt, die ihre angeborene Würde verletzen und infolgedessen den wahren und harmonischen Fortschritt der Weltgemeinschaft gefährden.
Diese Wirklichkeit macht sich in zahlreichen Ländern der Welt in ihrer ganzen Schwere bemerkbar: in Europa ebenso wie in Afrika, Asien und Amerika. In verschiedenen Regionen müssen es Gläubige und Menschen guten Willens mit sehr vielen sozialen und ökonomischen Herausforderungen aufnehmen. Armut und Elend, soziale Unterschiede und bisweilen gesetzlich gebilligte Ungerechtigkeiten, Bruderkriege und repressive Regimes appellieren an das Gewissen ganzer Völkerschaften überall auf der Welt.
Die vor kurzem, im Oktober, in Santo Domingo abgehaltene Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe betrachtete aufmerksam die Lage in Lateinamerika und forderte, während sie den Christen wieder mit großer Dringlichkeit die Aufgabe der Neuevangelisierung ans Herz legte, die Gläubigen und alle, die die Gerechtigkeit und das Gute lieben, in besorgtem Ton auf, der Sache des Menschen zu dienen, ohne aber auch nur eine seiner innersten Bedürfnisse zu vernachlässigen. Die Bischöfe erinnerten an den großen Auftrag, der die Anstrengungen aller vereinen soll: Verteidigung der Würde der menschlichen Person, Einsatz für eine gerechte Güterverteilung, harmonische und solidarische Förderung einer Gesellschaft, in der sich ein jeder angenommen und geliebt fühlt. Das sind, wie man wohl sieht, die unabdingbaren Voraussetzungen für den Aufbau des wahren Friedens.
Denn wenn wir von „Frieden“ reden, soll damit viel mehr gesagt sein als nur die Abwesenheit von Kriegen; es heißt, Voraussetzungen zu fordern für die wahre Achtung der Würde und Rechte jedes Menschen, so daß ihm seine volle Verwirklichung ermöglicht wird. Die Ausbeutung der Armen, die besorgniserregenden Elendszonen, die sozialen Mißverhältnisse bilden ebenfalls Hürden und Hindernisse bei der Verwirklichung stabiler Bedingungen für einen echten Frieden.
Armut und Frieden: Zu Beginn des neuen Jahres möchte ich alle zu einer gemeinsamen Betrachtung einladen über die vielfältigen Zusammenhänge, die zwischen diesen beiden Gegebenheiten bestehen.
Im besonderen möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Bedrohung lenken, die dem Frieden aus der Armut erwächst, vor allem, wenn diese zum Elend wird. Millionen von Kindern, Frauen und Männern leiden täglich unter Hunger, Unsicherheit und dem Dahinvegetieren am Rande der Gesellschaft. Solche Situationen stellen eine schwere Verletzung der menschlichen Würde dar und tragen zur sozialen Instabilität bei.
Die unmenschliche Wahl des Krieges
2. Gegenwärtig haben wir es noch mit einer weiteren Situation zu tun, die Quelle von Armut und Elend ist: sie rührt vom Krieg zwischen Nationen und von Konflikten innerhalb ein und desselben Landes her. Angesichts der tragischen Geschehnisse, die vor allem aus ethnischen Gründen mehrere Gegenden der Welt blutig heimgesucht haben und noch heimsuchen, sei an das erinnert, was ich in der Botschaft zum Weltfriedenstag des Jahres 1981 gesagt habe, deren Thema lautete: „Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit!“. Ich betonte damals, daß die unerläßliche Voraussetzung für den Aufbau eines wahren Friedens die Achtung der Freiheit und der Rechte der anderen Menschen und der Gemeinschaft sei. Mein damaliger Aufruf bewahrt also seine ganze Aktualität: „Die Achtung der Freiheit der Völker und Nationen ist ein wesentlicher Bestandteil des Friedens. Es sind immer wieder Kriege ausgebrochen, und ganze Völker und Kulturen sind der Zerstörung anheimgefallen, weil die Souveränität eines Volkes oder einer Nation nicht geachtet worden ist. Alle Kontinente sind Zeugen und Opfer mörderischer Bruderkriege und Kämpfe gewesen, die durch den Versuch einer Nation, die Autonomie einer anderen zu beschränken, hervorgerufen wurden“ (Nr. 8).
Und ich fügte noch hinzu: „Ohne den Willen, die Freiheit jedes Volkes, jeder Nation oder Kultur zu achten, und ohne einen diesbezüglichen weltweiten Konsens wird es schwierig sein, die Voraussetzungen für den Frieden zu schaffen... Dies verlangt von jeder Nation und ihren Regierungen den bewußten und öffentlichen Verzicht auf Ansprüche und Ziele, die die anderen Nationen beeinträchtigen, das heißt den Verzicht auf die Billigung jeglicher Doktrin nationaler oder kultureller Vorherrschaft“ (ebd. Nr. 9).
Man kann sich leicht vorstellen, welche Folgen eine solche Verpflichtung auch für die Wirtschaftsbeziehungen der Staaten untereinander hat. Jede Versuchung, wirtschaftliche Vorherrschaft über andere Nationen zurückzuweisen, bedeutet, auf überwiegend vom Kriterium des Gewinns inspirierte Politik zu verzichten, um sich stattdessen von dem der Solidarität gegenüber anderen, insbesondere den Armen, leiten zu lassen.
Armut als Konfliktquelle
3. Die Zahl der Menschen, die heute in Verhältnissen äußerster Armut leben, ist sehr groß. Ich denke unter anderem an die dramatische Lage in einigen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern. Breite Gruppen, oft ganze Bevölkerungsgürtel befinden sich in ihren eigenen Ländern am Rand des zivilen Lebens: darunter eine zunehmende Zahl von Kindern, die, um überleben zu können, außer auf sich selbst auf keinen anderen zählen können. Eine solche Situation ist nicht nur eine Beleidigung für die Menschenwürde, sondern stellt auch eine unzweifelhafte Bedrohung für den Frieden dar. Welche politische Organisation und welches Wirtschaftssystem ein Staat auch immer aufweisen mag, er bleibt in sich brüchig und instabil, wenn er nicht seinen schwächsten Mitgliedern ständig seine Aufmerksamkeit zuwendet und alles nur Mögliche unternimmt, um wenigstens die Befriedigung ihrer wichtigsten Bedürfnisse sicherzustellen.
Das den ärmsten Ländern zustehende Recht auf Entwicklung erlegt den entwickelten Ländern die klare Pflicht auf, sich für Hilfe an jene einzusetzen. Das II. Vatikanische Konzil drückt sich diesbezüglich so aus: „Allen [Menschen] steht das Recht zu, einen für sich selbst und ihre Familien ausreichenden Anteil an den Erdengütern zu haben“. Es ist „Pflicht, die Armen zu unterstützen, und zwar nicht nur vom Überfluß“ (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 69). Darin kommt mit aller Klarheit die Mahnung der Kirche, das treue Echo der Stimme Christi, zum Ausdruck: Die Güter der Erde sind für die ganze Menschheitsfamilie bestimmt und können nicht dem exklusiven Nutzen einiger weniger vorbehalten sein (vgl. Enzyklika Centesimus annus, Nr. 31 u. 37).
Im Interesse des Menschen ist es daher dringend notwendig, an den ökonomischen Mechanismen jene notwendigen Zusätze anzubringen, die eine gerechtere und angemessenere Güterverteilung garantieren können. Dazu genügt aber das Funktionieren des Marktes allein nicht; die Gesellschaft muß ihre Verantwortung übernehmen (vgl. Centesimus annus, Nr. 48), indem sie die oft schon beträchtlichen Anstrengungen vermehrt, um die Ursachen der Armut mit ihren tragischen Folgen zu beseitigen. Kein Land kann es in einem solchen Vorhaben auf sich allein gestellt weit bringen. Darum ist es notwendig zusammenzuarbeiten, und das mit einer Solidarität, wie sie eine immer stärker durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt erfordert. Wenn man zuläßt, daß Situationen extremer Armut fortbestehen, legt man die Voraussetzungen für Formen sozialen Zusammenlebens, die zunehmend der Bedrohung durch Gewalt und Konflikte ausgesetzt sind.
Jeder einzelne Mensch und jede soziale Gruppe hat das Recht, daß sie die Möglichkeit erhalten, für die persönlichen und die Bedürfnisse der Familie zu sorgen und am Leben und am Fortschritt der Gemeinschaft, zu der sie gehören, teilzuhaben. Wird dieses Recht nicht anerkannt, kann es leicht geschehen, daß die Betroffenen, da sie sich als Opfer einer Struktur fühlen, die sie nicht annimmt, hart reagieren. Das gilt besonders für die Jugendlichen, die, oft ohne angemessene Ausbildung und ohne Zugang zu Arbeitsplätzen, in hohem Maße der Gefahr des Abgedrängtwerdens an den Rand der Gesellschaft und dem Risiko der Ausbeutung ausgesetzt sind. Alle wissen um das Problem der Arbeitslosigkeit, besonders der Jugend, in der ganzen Welt mit der daraus folgenden Verarmung einer immer größeren Anzahl einzelner Menschen und ganzer Familien. Die Arbeitslosigkeit ist allerdings häufig das tragische Ergebnis der Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastrukturen in einem von Krieg oder internen Konflikten heimgesuchten Land.
Ich möchte hier kurz einige besonders beunruhigende Probleme ins Gedächtnis rufen, die die Armen bedrücken und folglich den Frieden bedrohen. Da ist zunächst das Problem der Auslandsschulden, das trotz der von der internationalen Gemeinschaft, von den Regierungen und den Finanzinstituten zu ihrer Verringerung unternommenen Anstrengungen für einige Länder und in ihnen für die ärmeren Schichten weiterhin eine unerträgliche Last darstellt. Sind es etwa nicht die ärmsten Kreise der genannten Länder, die nicht selten die Hauptlast der Rückzahlung tragen müssen? Eine solche Unrechtslage kann wachsende Ressentiments, Gefühle der Frustration, ja der Verzweiflung aufkommen lassen. In vielen Fällen teilen die Regierungen selbst das verbreitete Mißbehagen ihres Volkes, was sich auf ihre Beziehungen zu den anderen Staaten auswirkt. Vielleicht ist der Augenblick gekommen, dem Problem der Verschuldung dieser Länder im Ausland die ihm gebührende Priorität einzuräumen und es nochmals zu prüfen. Man wird überlegen müssen, ob eine Gesamtrückzahlung dieser Schulden oder nur eine Teilrückzahlung ins Auge zu fassen ist und welche Bedingungen mit dieser Rückzahlungsverpflichtung verbunden werden. Dabei muß man nach endgültigen Lösungen suchen, die geeignet sind, die drückenden sozialen Folgen der Entschuldungsprogramme voll aufzufangen. Außerdem wird man sich mit den Ursachen der Verschuldung befassen und die Gewährung weiterer Hilfen an die Übernahme der konkreten Verpflichtung seitens der Regierungen knüpfen müssen, übermäßige oder unnütze Ausgaben zu reduzieren - dabei ist im besonderen an die Rüstungsausgaben gedacht - und zu garantieren, daß die Subventionen tatsächlich den bedürftigen Bevölkerungsschichten zugute kommen.
Ein zweites brennendes Problem ist das Drogenproblem: Die Beziehung der Droge zur Gewalt und zum Verbrechen ist allen schmerzlich und tragisch bekannt. Ebenso bekannt ist auch, daß in manchen Weltgegenden unter dem Druck der Drogenhändler gerade die ärmsten Volksgruppen sich auf den Anbau von Pflanzen für die Herstellung von Rauschgiften einlassen. Die ihnen versprochenen hohen Einkünfte - die übrigens nur einen sehr kleinen Teil der aus solchen Kulturen stammenden Gewinne ausmachen - stellen eine Versuchung dar, der alle jene kaum zu widerstehen vermögen, die aus den traditionellen Anbauformen ein Einkommen beziehen, das eindeutig zum Leben nicht ausreicht. Das erste, was getan werden muß, um den Bauern bei der Bewältigung dieser Situation zu helfen, besteht deshalb darin, ihnen die zur Überwindung ihrer Armut geeigneten Mittel zur Verfügung zu stellen.
Ein weiteres Problem entsteht aus der von ernsten Wirtschaftsschwierigkeiten hervorgerufenen Lage in einigen Ländern. Sie begünstigen massive Auswanderungswellen in Richtung wohlhabenderer Länder, in denen dann im Gegenzug Spannungen entstehen, die das Sozialgefüge erschüttern. Um derartigen Reaktionen fremdenfeindlicher Gewalt entgegenzutreten, hilft es nicht so sehr, provisorische Notstandsmaßnahmen zu ergreifen, als vielmehr auf die Ursachen dadurch einzuwirken, daß mit Hilfe neuer Solidaritätsformen zwischen den Nationen der Fortschritt und die Entwicklung in den Herkunftsländern der Auswandererströme gefördert werden.
Eine heimtückische, aber reale Bedrohung für den Frieden ist also das Elend: Da es die Würde des Menschen zerstört, stellt es einen ernsten Anschlag auf den Wert des Lebens dar und trifft zuinnerst die friedliche Entwicklung der Gesellschaft.
Armut als Ergebnis des Konflikts
4. In den letzten Jahren haben wir auf fast allen Kontinenten lokale Kriege und innere Konflikte von grausamer Heftigkeit erlebt. Die Volks-, Stammes- und Rassengewalt hat Menschenleben vernichtet, sie hat Gemeinschaften gespalten, die in der Vergangenheit friedlich zusammenlebten, und hat Trauer und Haßgefühle gesät. Denn die Gewaltanwendung verschärft die bestehenden Spannungen und erzeugt neue. Mit Krieg läßt sich nichts lösen; ja, vom Krieg wird alles ernsthaft gefährdet. Früchte dieser Geißel sind das Leid und der Tod unzähliger Menschen, das Zerbröckeln menschlicher Beziehungen und der unwiederbringliche Verlust unermeßlicher Kunst- und Naturschätze. Der Krieg verschlimmert die Leiden der Armen, ja, durch die Zerstörung von Unterhaltsmitteln, Häusern und Eigentum und durch die Schädigung des eigentlichen Gefüges der Lebensumwelt bringt er neue Arme hervor. Die Jugendlichen sehen ihre Zukunftshoffnungen zerbrechen und werden als Opfer allzu oft zu unverantwortlichen Protagonisten von Konflikten. Die Frauen, die Kinder, die Alten, die Kranken und die Verwundeten sind gezwungen zu fliehen und befinden sich in der Lage von Flüchtlingen, die nichts besitzen außer dem, was sie bei sich haben. Wehrlos und schutzlos suchen sie Unterschlupf in anderen Ländern oder Regionen, die oft genauso arm und unruhig sind wie ihre eigenen.
Auch wenn ich anerkenne, daß die internationalen und humanitären Organisationen viel tun, um dem tragischen Geschick der Opfer der Gewalt entgegenzukommen, empfinde ich es als meine Pflicht, alle Menschen guten Willens aufzufordern, die Anstrengungen zu verstärken. In manchen Fällen hängt nämlich das Schicksal der Flüchtlinge einzig und allein von der Hochherzigkeit der Bevölkerung ab, die sie aufnimmt, einer Bevölkerung, die genauso arm, wenn nicht gar noch ärmer ist als sie selbst. Nur durch die Anteilnahme und die Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft werden zufriedenstellende Lösungen gefunden werden können. Nach den vielen nutzlosen Gemetzeln und Verheerungen ist es wohl von grundlegender Bedeutung, ein für allemal zu erkennen, daß der Krieg niemals dem Wohl der menschlichen Gemeinschaft dient, daß Gewalt zerstört und niemals aufbaut, daß die von ihr verursachten Wunden lange bluten und daß schließlich durch die Konflikte die bereits triste Lage der Armen noch verschlimmert und neue Armutsformen genährt werden. Vor den Augen der öffentlichen Weltmeinung läuft das trostlose Schauspiel des von den Kriegen verursachten Elends ab. Die erschütternden Bilder, die auch jüngst wieder von den Massenmedien verbreitet wurden, mögen wenigstens eine wirksame Ermahnung an alle - Einzelpersonen, Gesellschaften, Staaten - sein und einen jeden darauf hinweisen, daß das Geld nicht für Krieg noch für Zerstörung und Tötung verwendet werden soll, sondern dafür, die Würde des Menschen zu verteidigen, sein Leben zu verbessern und eine wirklich offene, freie und solidarische Gesellschaft aufzubauen.
Geist der Armut als Quelle des Friedens
5. In den Industrieländern werden die Menschen heute von der hemmungslosen Jagd nach dem Besitz materieller Güter beherrscht. Die Konsumgesellschaft läßt den Unterschied, der Reiche und Arme trennt, noch stärker hervortreten, und die krampfhafte Suche nach Wohlstand birgt die Gefahr in sich, blind zu machen gegenüber den Bedürfnissen der anderen. Um das soziale, kulturelle, geistliche und auch wirtschaftliche Wohlergehen jedes Mitgliedes der Gesellschaft zu fördern, ist es daher unerläßlich, den unmäßigen Konsum irdischer Güter einzudämmen und den Drang nach künstlichen Bedürfnissen zu unterdrücken. Mäßigung und Einfachheit müssen zu den Kriterien unseres täglichen Lebens werden. Die Gütermenge, die von einem Bruchteil der Weltbevölkerung konsumiert wird, ruft eine übermäßige Nachfrage in bezug auf die verfügbaren Ressourcen hervor. Die Verringerung der Nachfrage stellt somit einen ersten Schritt dar, um die Armut zu lindern, sofern sie Hand in Hand mit wirksamen Anstrengungen für die Sicherstellung einer gerechten Verteilung der Reichtümer dieser Welt geht.
Das Evangelium fordert in diesem Zusammenhang die Gläubigen auf, nicht Güter dieser vergänglichen Welt anzuhäufen: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel“ (Mt 6, 19-20). Das ist eine Pflicht, die der christlichen Berufung ebenso eigen ist wie jene, für die Überwindung der Armut zu arbeiten; und es ist auch ein sehr wirksames Mittel, um in diesem Vorhaben erfolgreich zu sein.
Die evangelische Armut unterscheidet sich ganz wesentlich von der ökonomischen und sozialen Armut. Während diese mitleidslose und häufig dramatische Merkmale aufweist, da sie als Gewalt erfahren wird, wird die evangelische Armut vom Menschen, der auf diese Weise der Mahnung Christi entsprechen möchte, freiwillig gewählt: „Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet“ (Lk 14, 33).
Diese evangelische Armut erweist sich als Friedensquelle, weil der Mensch durch sie eine rechte Beziehung zu Gott, zu den anderen und zur Schöpfung herzustellen vermag. Das Leben dessen, der sich diese Sichtweise zu eigen macht, wird so zum Zeugnis für die absolute Abhängigkeit der Menschheit von Gott, der alle Geschöpfe liebt, und die materiellen Güter werden als das erkannt, was sie sind: ein Geschenk Gottes zum Wohl aller.
Die evangelische Armut ist eine Realität, die diejenigen, die sie annehmen, verändert. Sie können dem Leid der Armen gegenüber nicht gleichgültig bleiben; ja, sie fühlen sich dazu gedrängt, mit Gott aktiv die vorrangige Liebe für sie zu teilen (vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr. 42). Diese Armen nach dem Evangelium sind bereit, ihren Besitz und sich selbst zu opfern, damit andere leben können. Ihr einziger Wunsch ist es, dadurch, daß sie den anderen das Geschenk des Friedens Jesu anbieten, mit allen in Frieden zu leben, (vgl. Joh 14, 27).
Der göttliche Meister hat uns mit seinem Leben und seinen Worten die anspruchsvollen Wesensmerkmale dieser Armut gelehrt, die auf die wahre Freiheit vorbereitet. „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave“ (Phil 2, 6-7). Er wurde in Armut geboren; als neugeborenes Kind war er gezwungen, mit seiner Familie ins Exil zu gehen, um der Grausamkeit des Herodes zu entfliehen; er lebte wie einer, der „keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8, 20). Er wurde verleumdet als Fresser und Säufer, Freund der Zöllner und Sünder (vgl. Mt 11, 19) und erlitt den Tod, der für Verbrecher vorgesehen war. Er pries die Armen selig und verhieß ihnen das Reich Gottes (vgl. Lk 6, 20). Er erinnerte die Reichen daran, daß der trügerische Reichtum das Wort Gottes erstickt (vgl. Mt 13, 22) und daß es für sie schwer ist, ins Reich Gottes zu gelangen (vgl. Mk 10,25).
Das Beispiel Christi ist nicht weniger als sein Wort für die Christen Richtlinie. Wir wissen, daß wir alle ohne Unterschied am Tag des Jüngsten Gerichts nach unserer konkreten Liebe zu den Brüdern beurteilt und gerichtet werden. Ja, viele werden an jenem Tag entdecken, daß sie in der konkret geübten Liebe tatsächlich Christus begegnet sind, auch wenn sie ihn vorher nicht ausdrücklich kennengelernt haben (vgl. Mt 25, 35-37).
„Willst du den Frieden, komm den Armen entgegen!“. Mögen die Reichen und Armen miteinander teilen, was sie besitzen, und einander als Brüder und Schwestern, als Kinder eines einzigen Gottes anerkennen können, der alle liebt, der das Wohl aller will, der allen das Geschenk des Friedens bietet!
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1992.