Botschaft zum Weltfriedenstag 1991
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1991
„WENN DU DEN FRIEDEN WILLST, ACHTE DAS GEWISSEN JEDES MENSCHEN“
Die vielen Völker, die die eine Menschheitsfamilie bilden, suchen heute immer häufiger die tatsächliche Anerkennung und den Rechtsschutz der Gewissensfreiheit, die für die Freiheit jedes Menschen wesentlich ist. Den verschiedenen Aspekten dieser für den Frieden in der Welt grundlegenden Freiheit habe ich bereits zwei Botschaften zum Weltfriedenstag gewidmet.
Für das Jahr 1988 habe ich zur gemeinsamen Besinnung über die Religionsfreiheit eingeladen. Die Gewähr des Rechts, öffentlich und in allen Bereichen des staatlichen Lebens seine religiösen Überzeugungen auszusprechen, stellt ein unerläßliches Element des friedlichen Zusammenlebens unter den Menschen dar. „Der Friede - schrieb ich zu jenem Anlaß - ist mit seinen Fundamenten tief in der Freiheit und in der Offenheit der Gewissen für die Wahrheit verankert“.1 Im darauffolgenden Jahr führte ich diese Betrachtung weiter, indem ich einige Gedanken über die unbedingt notwendige Achtung der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten vorlegte, „eine der heikelsten Fragen in der gegenwärtigen Gesellschaft..., weil sie sowohl die Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens im Innern eines jeden Landes als auch das Leben der internationalen Gemeinschaft betrifft“.2 Dieses Jahr möchte ich spezifische Betrachtungen anstellen über die Bedeutung der Achtung des Gewissens eines jeden Menschen als unerläßliches Fundament für den Frieden in der Welt.
I. Gewissensfreiheit und Friede
Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben in der Tat dem Bedürfnis, konkrete Schritte zu unternehmen, um die volle Achtung der Gewissensfreiheit sowohl auf gesetzlicher Ebene wie in den menschlichen Beziehungen zu gewährleisten, eine neue Dringlichkeit verliehen. Diese raschen Veränderungen bezeugen mit aller Klarheit, daß die Person nicht wie eine Art Gegenstand behandelt werden kann, gelenkt ausschließlich von Kräften, über die sie keine Kontrolle hat. Im Gegenteil, trotz ihrer Hinfälligkeit entbehrt sie als Person nicht der Fähigkeit, aus freien Stücken das Gute zu suchen und kennenzulernen, das Böse zu erkennen und zurückzuweisen, sich für die Wahrheit zu entscheiden und sich dem Irrtum zu widersetzen. Denn als Gott den Menschen schuf, hat er ihm ein Gesetz ins Herz geschrieben, das jeder entdecken kann (vgl. Röm 2,15), und das Gewissen ist eben die Fähigkeit, gemäß diesem Gesetz zu unterscheiden und zu handeln. Ihm zu gehorchen ist eben die Würde des Menschen.3
Keine menschliche Autorität hat das Recht, in das Gewissen eines Menschen einzugreifen. Dieses ist auch gegenüber der Gesellschaft Zeuge für die Transzendenz des Menschen und als solches unantastbar. Es ist jedoch nicht ein über die Wahrheit und den Irrtum gestelltes Absolutes; ja, seine innerste Natur schließt die Beziehung zur objektiven, allgemeinen und für alle gleichen Wahrheit ein, die alle suchen können und sollen. In dieser Beziehung zur objektiven Wahrheit findet die Gewissensfreiheit ihre Rechtfertigung als notwendige Vorbedingung für die Suche nach der dem Menschen gemäßen Wahrheit, zu der alle verpflichtet sind, und für die Zustimmung zu ihr, sobald sie entsprechend erkannt wurde. Das schließt seinerseits ein, daß alle das Gewissen jedes Einzelnen achten müssen und nicht versuchen dürfen, irgendjemandem die eigene „Wahrheit“ aufzudrängen, trotz des unverkürzt bestehenden Rechts, sich zu ihr zu bekennen, ohne freilich deshalb den Andersdenkenden zu verachten. Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch. Einem Menschen die volle Gewissensfreiheit, insbesondere die Freiheit zum Suchen nach der Wahrheit, zu verweigern oder der Versuch, ihm eine besondere Weise des Wahrheitsverständnisses aufzudrängen, läuft seinem innersten Recht zuwider. Es bewirkt auch eine Verschärfung der Abneigungen und Spannungen, die zu schwierigen und feindseligen Beziehungen oder sogar zu einem offenen Konflikt im Innern der Gesellschaft zu führen drohen. Es ist also die Gewissensebene, wo sich das Problem, einen echten und dauerhaften Frieden zu gewährleisten, stellt und man sich wirksamer mit diesem Problem auseinandersetzen kann.
II. Die absolute Wahrheit ist nur in Gott zu finden
Die Gewähr für die Existenz der objektiven Wahrheit liegt in Gott, der absoluten Wahrheit, und die Suche nach der Wahrheit ist auf der objektiven Ebene identisch mit der Suche nach Gott. Das sollte genügen, die innige Beziehung zwischen Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit zu beweisen. Andererseits erklärt sich so, warum die systematische Leugnung Gottes und die Errichtung eines Regimes, dessen konstitutives Element diese Leugnung Gottes ist, der Gewissensfreiheit wie auch der Religionsfreiheit diametral entgegengesetzt sind. Wer hingegen die Beziehung zwischen der letzten Wahrheit und Gott selbst anerkennt, wird auch den Nichtglaubenden nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht des Suchens nach der Wahrheit zuerkennen, das sie dann zur Entdeckung des göttlichen Geheimnisses und dessen demütiger Annahme führen kann.
III. Gewissensbildung
Jeder Mensch hat die ernste Pflicht, sein Gewissen zu bilden, und zwar im Licht der objektiven Wahrheit, deren Kenntnis niemandem verweigert wird und von niemandem verhindert werden kann. Für sich selbst das Recht, nach dem Gewissen zu handeln, zu fordern und in Anspruch zu nehmen, ohne gleichzeitig die Pflicht anzuerkennen, sich um die Bildung des eigenen Gewissens nach der Wahrheit und dem Gesetz zu bemühen, das von Gott selber unseren Herzen eingeschrieben worden ist, besagt in Wirklichkeit, daß man nur seine eigenen begrenzten Gesichtspunkte fördern und durchsetzen will. Das ist weit davon entfernt, ein wirksamer Beitrag zu der schwierigen Aufgäbe zu sein, den Frieden in der Welt aufzubauen. Im Gegensatz dazu wird die Wahrheit leidenschaftlich gesucht, befolgt und zum Besten der eigenen Fähigkeiten gelebt. Dieses aufrichtige Suchen nach der Wahrheit führt nicht nur zur Achtung gegenüber dem Suchen der anderen, sondern auch zu dem Verlangen, gemeinsam zu suchen.
Bei der wichtigen Aufgabe der Gewissensbildung kommt der Familie eine vorrangige Rolle zu. Es ist die ernste Pflicht der Eltern, ihren Kindern vom frühesten Alter an zu helfen, die Wahrheit zu suchen und nach ihr zu leben, das Gute zu suchen und es zu fördern.
Grundlegend für die Gewissensbildung ist ferner die Schule, wo das Kind und der Jugendliche mit einer größeren Welt, die häufig ganz anders als das Familienmilieu ist, in Berührung kommen. Tatsächlich ist die Erziehung niemals moralisch indifferent, auch wenn sie ihre sittliche und religiöse „Neutralität“ zu verkünden versucht. Die Art und Weise, wie die Kinder und Jugendlichen geformt und erzogen werden, spiegelt notwendigerweise manche Werte wider, die Einfluß darauf haben, wie sie zum Verstehen der anderen und der ganzen Gesellschaft geführt werden. In Übereinstimmung mit der Natur und der Würde der menschlichen Person und mit dem Gesetz Gottes muß den Jugendlichen daher während ihrer Schulzeit dabei geholfen werden, die Wahrheit zu erkennen und zu suchen, die Forderungen und Grenzen der wahren Freiheit anzunehmen und das entsprechende Recht der anderen zu achten.
Die Bildung des Gewissens ist gefährdet, wenn eine gründliche religiöse Erziehung fehlt. Wie kann ein junger Mensch die Forderungen der Menschenwürde voll begreifen, ohne auf die Quelle eben dieser Würde, den Schöpfer des Menschen, Bezug zu nehmen? In diesem Zusammenhang ist die Rolle der Familie, der katholischen Kirche, der christlichen Gemeinschaften und der anderen religiösen Einrichtungen vorrangig, und der Staat muß in Übereinstimmung mit den Gesetzen und den internationalen Erklärungen4 ihre Rechte auf diesem Gebiet sicherstellen und unterstützen. Die Familie und die religiösen Gemeinschaften müssen ihrerseits ihren Einsatz für den Menschen und seine objektiven Werte immer mehr bekräftigen und vertiefen.
Unter den vielen anderen Einrichtungen und Organen, die bei der Gewissensbildung eine besondere Rolle entfalten, sind auch die sozialen Kommunikationsmittel zu erwähnen. In unserer modernen, von rascher Kommunikation gekennzeichneten Welt können die Massenmedien eine äußerst wichtige, ja wesentliche Rolle bei der Förderung der Suche nach der Wahrheit entfalten, indem sie vermeiden, nur die begrenzten Interessen dieser oder jener Person, dieser oder jener Gruppe oder Ideologie vorzulegen. Diese Medien bilden für eine immer größere Anzahl von Menschen oft die einzige Informationsquelle. Wie verantwortungsvoll also muß von ihnen im Dienst an der Wahrheit Gebrauch gemacht werden!
IV. Die Intoleranz,: eine ernste Bedrohung für den Frieden
Eine ernste Bedrohung für den Frieden stellt die Intoleranz dar, die sich in der Ablehnung der Gewissensfreiheit äußert. Aus den Ereignissen der Geschichte haben wir in schmerzlicher Weise erfahren, zu welchen Ausschreitungen Intoleranz führen kann.
Die Intoleranz kann jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens erfassen und sich in der Ausgrenzung oder Unterdrückung der Personen und Minderheiten äußern, die hinsichtlich ihrer gültigen Lebensweisen ihrem Gewissen folgen. Im öffentlichen Leben läßt die Intoleranz keinen Raum für die Pluralität politischer oder sozialer Entscheidungen und nötigt so allen eine einförmige Ansicht von der staatlichen und kulturellen Organisation auf.
Was die religiöse Intoleranz angeht, so kann man nicht leugnen, daß es trotz der feststehenden Lehre der katholischen Kirche, wonach niemand zum Glauben gezwungen werden darf,5 im Laufe der Jahrhunderte zu nicht wenigen Schwierigkeiten und sogar Konflikten zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen gekommen ist.6 Das II. Vatikanische Konzil hat das formell zugegeben, als es erklärte, daß „bisweilen im Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt - im Wechsel der menschlichen Geschichte - eine Weise des Handelns vorgekommen ist, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war“.7
Auch heute bleibt noch viel zu tun, um die religiöse Intoleranz zu überwinden, die in verschiedenen Teilen der Welt aufs engste mit der Unterdrückung der Minderheiten verbunden ist. Wir sind leider Zeugen von Versuchen, anderen entweder direkt, mit Hilfe einer Proselytenmacherei, die sich der Mittel tatsächlicher Nötigung bedient, oder durch die Verweigerung gewisser gesellschaftlicher oder politischer Rechte eine bestimmte religiöse Idee aufzuzwingen. Besonders heikel sind die Situationen, wo eine eigentlich religiöse Bestimmung Gesetz des Staates wird oder werden soll, ohne daß dabei der Unterscheidung zwischen den Kompetenzen der Religion und jenen der politischen Gesellschaft gebührend Rechnung getragen wird. Die Gleichsetzung von religiösem und staatlichem Gesetz kann die Religionsfreiheit in der Tat unterdrücken und sogar andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder verweigern. In diesem Zusammenhang möchte ich wiederholen, was ich in der Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 gesagt habe: „Auch im Falle, daß ein Staat einer bestimmten Religion eine besondere Rechtsstellung zuspricht, ist es seine Pflicht, das Recht auf Gewissensfreiheit aller Bürger gesetzlich anzuerkennen und wirksam zu achten, wie auch der Ausländer, die dort der Arbeit wegen oder aus anderen Gründen, wenn auch nur zeitweise, wohnen“.8 Das gilt auch für die bürgerlichen und politischen Rechte der Minderheiten und für jene Situationen, wo ein erbitterter Laizismus im Namen der Achtung des Gewissens den Gläubigen de facto das Recht verwehrt, ihrem Glauben öffentlich Ausdruck zu verleihen. Die Intoleranz kann auch das Ergebnis eines gewissen Fundamentalismus sein, der eine wiederkehrende Versuchung darstellt. Er kann leicht zu schwerwiegenden Gesetzwidrigkeiten führen, wie zur radikalen Unterdrückung jeder öffentlichen Äußerung von Andersartigkeit oder sogar überhaupt zur Verwehrung, sich frei zu äußern. Auch der Fundamentalismus kann zur Ausschließung des anderen vom gesellschaftlichen Leben oder, auf religiösem Gebiet, zu Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel der „Bekehrung“ führen. Wie sehr einem auch die Wahrheit der eigenen Religion am Herzen liegen mag, so gibt das doch niemandem, weder Einzelnen noch Gruppen, das Recht zu dem Versuch, die Gewissensfreiheit all jener, die andere religiöse Überzeugungen haben, zu unterdrücken oder sie dadurch zum Verrat an ihrem Gewissen zu verleiten, daß man ihnen im Falle, daß sie ihre Religion wechseln, bestimmte soziale Privilegien und Rechte anbietet bzw. verweigert. In anderen Fällen geht man so weit, Menschen sogar unter Anwendung strenger Strafmaßnahmen zu verwehren, sich frei für eine andere Religion als die, der sie im Augenblick angehören, zu entscheiden. Derartige Bezeigungen von Intoleranz fördern klarerweise nicht den Frieden in der Welt.
Um die Auswirkungen der Intoleranz zu beseitigen, genügt es nicht, die ethnischen und religiösen Minderheiten zu „schützen“, wodurch man sie nämlich zu einer Klasse von „Minderbürgern“ oder Individuen macht, die unter Vormundschaft des Staates stehen. Das könnte auf eine Form von Diskriminierung hinauslaufen, die die Entwicklung einer harmonischen und friedvollen Gesellschaft behindert, ja verhindert. Vielmehr wird das unauslöschliche Recht, seinem Gewissen zu folgen und seinen Glauben allein oder in Gemeinschaft zu bekennen und zu praktizieren - immer unter der Voraussetzung, daß dabei die Forderungen der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden - anerkannt und garantiert.
Paradoxerweise kann es vorkommen, daß diejenigen, die zuvor Opfer verschiedener Formen von Intoleranz gewesen sind, Gefahr laufen, ihrerseits neue Situationen von Intoleranz zu schaffen. Das Ende jahrzehntelanger Unterdrückung in einigen Teilen der Welt, während welcher das Gewissen des einzelnen nicht geachtet und das, was dem Menschen am kostbarsten war, unterdrückt wurde, darf nicht zum Anlaß für neue Formen von Intoleranz werden, so schwer auch die Versöhnung mit dem früheren Unterdrücker sein mag.
Die Gewissensfreiheit ist, richtig verstanden, auf Grund ihrer Natur immer der Wahrheit verschrieben. Darum führt sie nicht zu Intoleranz, sondern zu Toleranz und Versöhnung. Diese Toleranz ist nicht eine passive Tugend, denn sie hat ihren Ursprung in der tätigen Liebe und trachtet, sich zu wandeln und zu einem positiven engagierten Einsatz zu werden, um Freiheit und Frieden für alle sicherzustellen.
V. Die Religionsfreiheit: eine Kraft für den Frieden
Die Bedeutung der Religionsfreiheit veranlaßt mich, nachdrücklich zu betonen, daß das Recht auf Religionsfreiheit nicht bloß eines unter den anderen Menschenrechten ist; „ja, dieses Recht ist das grundlegendste, weil die Würde jedes Menschen ihre erste Quelle in seiner Wesensbeziehung zu Gott, dem Schöpfer und Vater, hat, nach dessen Bild und Gleichnis er geschaffen ist; weil er mit Vernunft und freiem Willen begabt ist“.9 „Die Religionsfreiheit ist als unauslöschliche Forderung aus der Würde jedes Menschen der Grundstein des Gebäudes der Menschenrechte“10 und deshalb der tiefgründigste Ausdruck der Gewissensfreiheit.
Man kann nicht übersehen, daß das Recht auf Religionsfreiheit die Identität der menschlichen Person selbst berührt. Einer der bezeichnendsten Aspekte, die die heutige Welt charakterisieren, ist die Rolle der Religion beim Erwachen der Völker und bei der Suche nach der Freiheit. In vielen Fällen hat es der religiöse Glaube vermocht, die Identität ganzer Völker unversehrt zu bewahren und sogar zu stärken. In den Nationen, wo die Religion behindert oder sogar verfolgt wurde durch den Versuch, sie unter die überwundenen Erscheinungen der Vergangenheit zu verbannen, hat sie sich erneut als mächtige Befreiungskraft erwiesen.
Der religiöse Glaube ist den Völkern und den einzelnen Menschen so wichtig, daß sie, zu seiner Bewahrung in vielen Fällen zu jedwedem Opfer bereit sind. In der Tat birgt jeder Versuch, einem Menschen das, was ihm am teuersten ist, vorzuenthalten oder es zu unterdrücken, die Gefahr in sich, schließlich zu offener oder verborgener Auflehnung zu führen.
VI. Die Notwendigkeit einer gerechten Gesetzesordnung
Trotz der verschiedenen Erklärungen auf nationalem und internationalem Gebiet, die das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit verkünden, gibt es noch immer zu viele Versuche religiöser Unterdrückung. Ohne eine begleitende Rechtsgarantie durch geeignete Instrumente ist es solchen Erklärungen allzu oft beschieden, toter Buchstabe zu bleiben. Daher sind die neuerlichen Anstrengungen zu schätzen, die unternommen werden, um der bestehenden Gesetzesregelung11 durch die Schaffung neuer, wirksamer und zur Festigung der Religionsfreiheit geeigneter Mittel mehr Kraft zu verleihen. Dieser volle gesetzliche Schutz muß wirklich jeden religiösen Zwang als ernstes Hindernis für den Frieden ausschließen. Im Gegenteil, „diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem Gewissen zu handeln“.12
Der gegenwärtige geschichtliche Augenblick macht die Stärkung der Rechtsmittel dringlich, die geeignet sind, die Gewissensfreiheit auch im politischen und sozialen Bereich zu fördern. Die stufenweise und stetige Entwicklung einer international anerkannten Gesetzesregelung wird in diesem Zusammenhang eine der sichersten Grundlagen für den Frieden und für den Fortschritt der Menschheitsfamilie bilden können. Gleichzeitig kommt es wesentlich darauf an, daß parallele Anstrengungen auf nationaler und auch regionaler Ebene unternommen werden, um sicherzustellen, daß alle Menschen, wo immer sie wohnen, durch international anerkannte gesetzliche Normen geschützt sind.
Der Staat ist verpflichtet, die grundlegende Gewissensfreiheit nicht nur anzuerkennen, sondern sie zu fördern, immer jedoch im Lichte des natürlichen Sittengesetzes und der Notwendigkeiten des Gemeinwohls sowie unter Achtung der Würde eines jeden Menschen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die Gewissensfreiheit nicht das Recht zu einer unterschiedslosen Anwendung des Einspruchs aus Gewissensgründen gibt. Wenn eine beanspruchte Freiheit zu Freizügigkeit im Sinne eines Freibriefes oder zum Vorwand wird, die Rechte anderer einzuschränken, hat der Staat die Pflicht, die unveräußerlichen Rechte seiner Bürger gegen derartige Mißbräuche auch gesetzlich zu schützen.
An alle, die öffentliche Verantwortung tragen - seien es Staatsoberhäupter oder Regierungschefs, Gesetzgeber, Beamte und andere - möchte ich einen besonderen und dringenden Appell richten, daß sie mit allen notwendigen Mitteln die wahre Gewissensfreiheit all derer, die in ihrem Jurisdiktionsbereich wohnen, sicherstellen und dabei den Rechten der Minderheiten besondere Aufmerksamkeit schenken. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, es dient auch dazu, die Entwicklung einer friedlichen und harmonischen Gesellschaft zu fördern. Schließlich scheint es beinahe überflüssig, noch einmal zu beteuern, daß die Staaten die strenge moralische und gesetzliche Pflicht haben, die von ihnen unterzeichneten internationalen Übereinkommen einzuhalten.
VII. Eine pluralistische Gesellschaft und Welt
Das Bestehen anerkannter internationaler Normen schließt nicht aus, daß es bestimmte Staats- oder Regierungsformen geben kann, die einer spezifischen soziokulturellen Realität entsprechen. Diese Staatsformen müssen jedoch jedem Bürger volle Gewissensfreiheit gewähren und dürfen keinesfalls einen Vorwand für die Verweigerung oder Beschränkung der allgemein anerkannten Rechte darstellen. Das trifft um so mehr zu, wenn man bedenkt, daß in unserer heutigen Welt selten die gesamte Bevölkerung eines Landes ein und derselben religiösen Überzeugung oder ein und demselben Volksstamm bzw. ein und derselben Kultur angehört. Die Massenwanderungen und Bevölkerungsbewegungen führen in verschiedenen Teilen der Welt zu einer multinationalen und multireligiösen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang gewinnt die Achtung des Gewissens aller eine neue Dringlichkeit und stellt neue Herausforderungen an alle Bereiche und Strukturen der Gesellschaft sowie an die Gesetzgeber und die Regierenden.
Wie sollen in einem Land die verschiedenen Traditionen, Gepflogenheiten, Lebensweisen und religiösen Pflichten respektiert werden, während gleichzeitig die eigene Kultur unversehrt erhalten bleiben soll? Wie soll eine gesellschaftlich führende Kultur die neuen Elemente annehmen und integrieren, ohne die eigene Identität zu verlieren und unliebsame Gegensätze zu erzeugen? Die Antwort auf diese schwierigen Fragen ist in einer sorgfältigen Erziehung zur Achtung des Gewissens des anderen zu finden, die sich Mittel bedient wie der Kenntnis anderer Kulturen und Religionen und dem ausgewogenen Verständnis für die bestehenden Verschiedenheiten. Welches bessere Mittel der Einheit in der Vielfalt könnte es geben als das Bemühen aller bei dem gemeinsamen Suchen nach Frieden und bei der gemeinsamen Bejahung der Freiheit, die das Gewissen eines jeden erleuchtet und aufwertet? Für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben ist auch zu wünschen, daß die verschiedenen Kulturen einander achten und sich gegenseitig bereichern. Ein echtes Bemühen um Inkulturation dient auch dem Verständnis zwischen den Religionen.
Im Bereich dieses Verständnisses zwischen den Religionen ist in den letzten Jahren viel geschehen, um eine aktive Zusammenarbeit bei den gemeinsamen Aufgaben zu fördern, die sie der Menschheit gegenüber auf die vielen Werte gründen, die die großen Religionen gemeinsam haben. Zu dieser Zusammenarbeit, wo immer sie möglich ist, möchte ich ebenso ermutigen wie zu den offiziellen Gesprächen, die zwischen den Vertretern der großen religiösen Gruppen im Gange sind. Der Heilige Stuhl hat dafür ein Organ - den Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog, dessen besondere Zielsetzung es ist, den Dialog und die Zusammenarbeit mit den anderen Religionen zu fördern, immer freilich in absoluter Treue zur katholischen Identität und unter voller Achtung der Identität der anderen.
Sowohl die Zusammenarbeit wie der interreligiöse Dialog stellen, wenn sie voll Zuversicht, Achtung und Aufrichtigkeit erfolgen, einen Beitrag zum Frieden dar. „Der Mensch muß seinen Geist und sein Gewissen entwickeln, das häufig dem Menschen von heute fehlt. Die Vernachlässigung der Werte und die Identitätskrise, die unsere Welt durchziehen, zwingen uns zu ihrer Überwindung und zu erneutem Suchen und Fragen. Das innere Licht, das in unserem Gewissen geboren wird, erlaubt, der Entwicklung einen Sinn zu geben, sie auf das Wohl des Menschen hin zu orientieren, jedes Menschen und aller Menschen, gemäß dem Plan Gottes“.13 Dieses gemeinsame Suchen im Lichte des Gesetzes des Gewissens und der Gebote der eigenen Religion wird dadurch, daß es uns auch mit den Ursachen der gegenwärtigen sozialen Ungerechtigkeiten und der Kriege konfrontiert, einen soliden Grund für die Zusammenarbeit bei der Suche nach den notwendigen Lösungen legen.
Die katholische Kirche hat sich gern dafür eingesetzt, jede Form aufrichtiger Zusammenarbeit im Hinblick auf die Friedensförderung zu unterstützen. Sie wird weiterhin ihren besonderen Beitrag zu dieser Zusammenarbeit vor allem dadurch leisten, daß sie die Gewissen ihrer Mitglieder zum Offensein für die anderen, zur Achtung des anderen, zur Toleranz, die nicht zu trennen ist von der Suche nach der Wahrheit, und zur Solidarität erzieht.14
VIII. Das Gewissen und der Christ
Die Jünger Jesu Christi, die gehalten sind, bei der Suche nach der Wahrheit ihrem Gewissen zu folgen, wissen, daß man nicht allein auf das eigene moralische Unterscheidungsvermögen vertrauen darf. Die Offenbarung erleuchtet ihr Gewissen und läßt sie das große Geschenk Gottes an den Menschen erkennen: die Freiheit.15 Gott hat nicht nur dem Herzen eines jeden, in jene „verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott“,16 das natürliche Gesetz eingeschrieben, sondern er hat ihm sein eigenes Gesetz in der Heiligen Schrift geoffenbart. In ihr finden wir die Aufforderung oder, besser, das Gebot, Gott zu lieben und dieses sein Gesetz zu befolgen.
Er hat uns seinen Willen zu erkennen gegeben. Er hat uns seine Gebote geoffenbart, indem er uns „das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück“ vor Augen stellte, und er ruft uns auf, „das Leben zu wählen ..., indem wir den Herrn, unseren Gott, lieben, auf seine Stimme hören und uns an ihm festhalten; denn er ist unser Leben, er ist die Länge unseres Lebens ,..“.17 In der Fülle seiner Liebe achtet er die freie Wahl des Menschen hinsichtlich der höchsten Werte, nach denen dieser auf der Suche ist, und auf diese Weise offenbart er seine volle Achtung für das kostbare Geschenk der Freiheit des Gewissens. Seine Gesetze selbst, die vollkommener Ausdruck seines Willens und seiner absoluten Unversöhnlichkeit gegenüber dem moralisch Bösen sind und mit denen er eben der Suche nach dem Endziel Richtung geben will, sind dafür Zeugen, weil sie dem Gebrauch der Freiheit dienen und ihn nicht schon im voraus behindern wollen.
Aber es genügte Gott nicht, seine große Liebe für die Schöpfung und für den Menschen kundzutun. Er „hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat ... Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, daß seine Taten in Gott vollbracht sind“.18 Der Sohn hat nicht gezögert, sich als die Wahrheit zu verkünden19 und uns zu versichern, daß diese Wahrheit uns befreien wird.20 Bei der Suche nach der Wahrheit wendet sich der Christ der göttlichen Offenbarung zu, die in Christus in ihrer ganzen Fülle gegenwärtig ist. Christus hat der Kirche den Sendungsauftrag erteilt, diese Wahrheit zu verkündigen, und die ganze Kirche hat die Pflicht, ihr treu zu sein. Meine schwere Aufgabe als Nachfolger des Petrus besteht eben darin, diese beständige Treue dadurch sicherzustellen, daß ich meine Brüder und Schwestern in ihrem Glauben stärke.21
Mehr als jeder andere muß sich der Christ verpflichtet fühlen, sein Gewissen nach der Wahrheit zu bilden. Wie demütig und gewissenhaft muß er angesichts der Herrlichkeit des unentgeltlichen Geschenkes der Offenbarung Gottes in Christus auf die Stimme des Gewissens hören! Wie sehr muß er seinem begrenzten Licht mißtrauen, wie schnell muß er beim Lernen sein, wie zurückhaltend beim Verurteilen! Eine der zu allen Zeiten wiederkehrenden Versuchungen, auch unter Christen, besteht darin, sich zur Norm der Wahrheit zu erheben. In einer vom Individualismus geprägten Zeit kann diese Versuchung verschiedenartige Ausdrucksformen finden. Merkmal dessen, der in der Wahrheit ist, ist demütig zu lieben. So lehrt das göttliche Wort: Die Wahrheit wird in der Liebe aufgebaut.22
Durch dieselbe Wahrheit, die wir bekennen, sind wir daher dazu aufgerufen, die Einheit und nicht die Spaltung, die Versöhnung und nicht den Haß oder die Intoleranz zu fördern. Der unentgeltliche Zugang zur Wahrheit überträgt uns die kostbare Verantwortung, nur jene Wahrheit zu verkünden, die zur Freiheit und zum Frieden für alle führt: die in Jesus Christus Fleisch gewordene Wahrheit.
Am Ende dieser Botschaft lade ich alle ein, weiter nachzudenken über die Notwendigkeit der Achtung des Gewissens eines jeden im eigenen Bereich und im Lichte der eigenen besonderen Verantwortlichkeiten. In jedem Bereich des sozialen, kulturellen und politischen Lebens findet die Achtung der, immer der Wahrheit verpflichteten, Gewissensfreiheit verschiedene, wichtige und unmittelbare Anwendungen. Wenn wir unter Achtung des Gewissens der anderen miteinander die Wahrheit suchen, werden wir auf den Wegen der Freiheit weitergehen können, die nach Gottes Plan in den Frieden einmünden.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1990.
Anmerkungen
1 Botschaft zum Weltfriedenstag 1988, Einführung (O.R. dt., 18.12. 87, S. 1).
2 Botschaft zum Weltfriedenstag 1989, Nr. 3 (O.R. dt., 22.12.88, S. 1).
3 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 16.
4 Vgl. u.a. zur Anerkennung dieses Rechts in jüngster Zeit die Erklärung der Vereinten Nationen von 1981 über die Beseitigung aller auf die Religion oder die Überzeugung gestützten Formen von Intoleranz und Diskriminierung, Art. 1.
5 Vgl. u.a. II. VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, Nr. 12.
6 Vgl. u.a. II. VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, Nr. 3.
7 Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, Nr. 12.
8 Nr. l (O.R. dt., 18.12.87, S. 9).
9 Ansprache an die Teilnehmer des 5. Internationalen Juridischen Kolloquiums der Päpstlichen Lateran-Universität, 10. März 1984, Nr. 5 (DAS, 1984, S. 1057).
10 Vgl. Botschaft zum Weltfriedenstag 1988, Einführung (O.R. dt., 18.12.87, S. 1).
11 Vgl. u.a. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 18; Schlußakte von Helsinki l, a) VII; Vereinbarung über die Rechte des Kindes, Art. 14. 12 II. VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, Nr. 2.
13 JOHANNES PAUL II., Ansprache bei der Begegnung mit der muslimischen Jugend, Casablanca, 20. August 1985, Nr. 9 (AAS78 (1986) 101-102).
14 Vgl. JOHANNES PAUL II., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps, 11. Januar 1986, Nr. 12 (O.R. dt., 31.1.86, S. 11).
15 Vgl. Sir 17, 6.
16 II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. 16.
17 Dtn 30, 15-20.
18 Joh 3, 16. 20.
19 Vgl. ibid. 14, 6.
20 Vgl. ibid. 8, 32.
21 Vgl. Lk 22, 32.
22 Vgl. Eph 4, 15.