Botschaft zum Weltfriedenstag 1988
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1988
„RELIGIONSFREIHEIT, BEDINGUNG FÜR FRIEDLICHES ZUSAMMENLEBEN“
Am ersten Tag des Jahres freue ich mich, einer nunmehr bereits zwanzigjährigen Initiative treu zu bleiben und mich wieder an die Verantwortlichen der Nationen und der internationalen Organisationen und an alle Brüder und Schwestern in der Welt wenden zu können, denen die Sache des Friedens am Herzen liegt. Davon bin ich tief überzeugt, daß ein gemeinsames Nachdenken über den unschätzbaren Wert des Friedens in gewisser Weise bereits bedeutet, damit zu beginnen, ihn zu schaffen. Das Thema, das ich dieses Jahr unserer gemeinsamen Aufmerksamkeit empfehlen möchte - Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben -, ergibt sich aus einer dreifachen Überlegung.
Zunächst ist die Religionsfreiheit als unauslöschliche Forderung aus der Würde jedes Menschen der Grundstein des Gebäudes der Menschenrechte und darum ein unersetzlicher Faktor für das Wohl der Personen und der ganzen Gesellschaft wie auch für die personale Verwirklichung eines jeden. Daraus folgt, daß die Freiheit der einzelnen und der Gemeinschaften, die eigene Religion zu bekennen und auszuüben, ein wesentliches Element des friedlichen Zusammenlebens der Menschen darstellt. Der Friede, der auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen geschaffen und gefestigt werden will, ist mit seinen Fundamenten tief in der Freiheit und in der Offenheit der Gewissen für die Wahrheit verankert. Der Sache des Friedens schaden also, und zwar in schwerwiegender Weise, alle offenen oder versteckten Formen einer Verletzung der Religionsfreiheit ebenso wie jene Übergriffe, welche die anderen Grundrechte der Person beeinträchtigen. Vierzig Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren wir im Dezember des kommenden Jahres gedenken werden, müssen wir feststellen, daß Millionen von Personen in verschiedenen Teilen der Welt immer noch wegen ihrer religiösen Überzeugung leiden; sie sind Opfer von einschränkenden und unterdrückenden Gesetzgebungen, manchmal sogar von offenen Verfolgungen, meistens jedoch von einer hinterhältigen Praxis der Diskrimination der Gläubigen und ihrer Gemeinschaften. Diese Zustände, für sich allein schon untragbar, stellen auch eine negative Belastung für den Frieden dar.
Schließlich möchte ich das Gebetstreffen vom 27. Oktober 1986 in Assisi in Erinnerung rufen und die dort gemachte Erfahrung auswerten. Diese große Begegnung von Brüdern, die im Gebet um den Frieden vereint waren, ist ein Zeichen für die Welt gewesen. Ohne synkretistische Vermengung oder Anpassung haben Vertreter der hauptsächlichen Religionsgemeinschaften der ganzen Welt gemeinsam ihrer Überzeugung Ausdruck geben wollen, daß der Friede ein Geschenk des Himmels ist; sie wollten ihre Verpflichtung, diesen Frieden zu erbitten, ihn anzunehmen und fruchtbar zu machen, in konkreten Entscheidungen für Achtung, Solidarität und Brüderlichkeit, tatkräftig bekunden.
1. Würde und Freiheit der menschlichen Person
Der Friede ist nicht nur das Fehlen von Streit und Krieg, sondern die „Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst der menschlichen Gesellschaft eingestiftet hat“ (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 78). Sie ist das Werk der Gerechtigkeit und fordert darum die Achtung vor den Rechten wie auch die Erfüllung der eigenen Pflichten eines jeden Menschen. Es besteht eine innere Verbindung zwischen den Forderungen der Gerechtigkeit, der Wahrheit und des Friedens (vgl. Enzyklika Pacem in Terris, 35).
Dieser vom Schöpfer gewollten Ordnung entsprechend ist die Gesellschaft dazu aufgerufen, sich für den Dienst am Menschen und am Gemeinwohl einzurichten und zu wirken. Die tragenden Elemente dieser Ordnung können von der Vernunft entdeckt und in der geschichtlichen Erfahrung erkannt werden; und die heutige Entwicklung der Sozialwissenschaften hat das Bewußtsein, daß die Menschheit hiervon hat, noch bereichert, trotz aller ideologischen Entstellungen und Konflikte, welche dieses Wissen zuweilen zu verdunkeln scheinen.
Während die katholische Kirche ihre Sendung, das allein von Christus kommende Heil (vgl. Apg 4, 12) zu verkünden, in Treue erfüllen will, wendet sie sich darum ohne Unterschied an jeden Menschen und lädt ihn ein, die Gesetze der Naturordnung anzuerkennen, die das Zusammenleben der Menschen lenken und die Bedingungen des Friedens bestimmen.
Fundament und Ziel der sozialen Ordnung ist die menschliche Person als Subjekt unveräußerlicher Rechte, die sie nicht von außen empfängt, sondern die aus ihrer Natur selbst entspringen: Nichts und niemand können sie zerstören, kein äußerer Zwang kann sie aus löschen, weil sie ihre Wurzel im tiefsten Wesen des Menschen haben. Entsprechend erschöpft sich die menschliche Person nicht in ihren gesellschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Bedingungen; denn es ist dem Menschen, der eine Geistseele besitzt, zu eigen, einem Ziel zuzustreben, das die wechselnden Bedingungen seiner Existenz übersteigt. Keine menschliche Macht darf sich der Verwirklichung des Menschen als Person entgegenstellen.
Aus dem ersten und grundlegenden Prinzip der sozialen Ordnung, der Ausrichtung der Gesellschaft auf die Person, leitet sich die Forderung ab, daß sich jede Gesellschaft so gestalten soll, daß sie es dem Menschen ermöglicht und ihm sogar dabei hilft, seine Berufung in voller Freiheit zu verwirklichen. Freiheit ist die vorzüglichste Auszeichnung des Menschen. Angefangen von ihren innersten Entscheidungen muß jede Person sich in einem Akt bewußter Selbstbestimmung, vom eigenen Gewissen beseelt, ausdrücken können. Ohne Freiheit sind die menschlichen Akte leer und wertlos.
Die Freiheit, mit der der Mensch vom Schöpfer ausgestattet ist, ist die ihm fortwährend gegebene Fähigkeit, mit dem Verstand die Wahrheit zu suchen und mit dem Herzen dem Guten anzuhangen, zu dem er von Natur aus hinstrebt, ohne irgendeiner Art von Druck, Zwang oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Es gehört zur Personwürde, dem moralischen Anspruch des eigenen Gewissens bei der Suche nach der Wahrheit entsprechen zu können. Und weil die Wahrheit - wie das II. Vatikanische Konzil unterstrichen hat - „auf eine Weise gesucht werden muß, die der Würde der menschlichen Person und ihrer Sozialnatur eigen ist“ (Erklärung über die Religionsfreiheit, 3), „erhebt sie nicht anders Anspruch als kraft der Wahrheit selbst“ (ebd., 1).
Damit die Freiheit des Menschen bei der Suche nach der Wahrheit und bei dem hiermit verbundenen Bekenntnis seiner religiösen Überzeugungen vor jeglichem Zwang durch einzelne, durch gesellschaftliche Gruppen oder irgendwelche andere menschliche Gewalt geschützt sei, muß sie in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft eindeutig garantiert werden, das heißt, vom bürgerlichen Gesetz als unveräußerliches subjektives Recht anerkannt und festgesetzt werden (vgl. ebd., 2). Ganz gewiß bedeuten Gewissens- und Religionsfreiheit nicht eine Relativierung der objektiven Wahrheit, die zu suchen jeder Mensch moralisch verpflichtet ist; sie sind in einer geregelten Gesellschaft lediglich die institutionelle Übersetzung jener Ordnung, in der es Gottes Wille ist, daß seine Geschöpfe sein ewiges Bundesangebot als freie und verantwortliche Personen erkennen, annehmen und leben können.
Insofern das bürgerliche und soziale Recht auf Religionsfreiheit den innersten Bereich des Geistes berührt, erweist es sich als Bezugspunkt und in gewisser Weise als Maßstab der anderen Grundrechte. Es geht ja darum, den empfindlichsten Bereich der Autonomie der Person zu achten und ihr Raum zu geben, damit sie sowohl in ihren privaten Entscheidungen als auch im gesellschaftlichen Leben nach dem Spruch ihres Gewissens handeln kann. Der Staat kann nicht eine direkte oder indirekte Kompetenz über die religiösen Überzeugungen der Personen beanspruchen. Er kann sich nicht das Recht anmaßen, das Bekenntnis und die öffentliche Ausübung der Religion einer Person oder Gemeinschaft aufzuerlegen oder zu unterbinden. In diesem Bereich ist es Pflicht der zivilen Autoritäten sicherzustellen, daß die Rechte der einzelnen und der Gemeinschaften in gleicher Weise geachtet werden, und zugleich eine gerechte öffentliche Ordnung zu wahren. Auch im Falle, daß ein Staat einer bestimmten Religion eine besondere Rechtsstellung zuspricht, ist es seine Pflicht, das Recht auf Gewissensfreiheit aller Bürger gesetzlich anzuerkennen und wirksam zu achten, wie auch der Ausländer, die dort der Arbeit wegen oder aus anderen Gründen, wenn auch nur zeitweise, wohnen. Keinesfalls darf sich der staatliche Apparat an die Stelle des Gewissens der Bürger setzen noch den religiösen Gemeinschaften den Lebensraum entziehen oder deren Platz einnehmen. Die rechte gesellschaftliche Ordnung fordert, daß alle - einzeln oder in Gemeinschaft - die eigene religiöse Überzeugung in Achtung vor den anderen bekennen können.
Als ich mich am 1. September 1980 an die Staatsoberhäupter wandte, die die „Schlußakte von Helsinki“ unterzeichnet haben, wollte ich unter anderem betonen, daß die authentische Religionsfreiheit fordert, daß auch die Rechte, die sich aus der sozialen und öffentlichen Dimension des Glaubensbekenntnisses und der Zugehörigkeit zu einer entfalteten religiösen Gemeinschaft herleiten, garantiert werden.
Hierzu habe ich in einer Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß „gerade die Achtung vor der Personwürde zu fordern scheine, daß auch die Institutionen, die von ihrem Wesen her dem religiösen Leben dienen, mitbeteiligt werden, wenn der gerechte Umfang der Ausübung von Religionsfreiheit im Blick auf nationale Gesetze oder internationale Konventionen erörtert oder beschlossen wird“ (vgl. Insegnamenti di Giovanni Paolo II: 1979, Bd. II, 2, S. 538).
2. Ein gemeinsames Erbe
Man muß anerkennen, daß die Prinzipien, von denen gerade die Rede gewesen ist, heute gemeinsames Erbe des größten Teils der zivilen Rechtsordnungen wie auch der Organisation der internationalen Gemeinschaft sind. Letztere hat hierzu entsprechende normative Dokumente erlassen. Sie sind inzwischen Bestandteil der Kultur unserer Zeit, wie es die immer ernsthaftere und eingehendere Erörterung zeigt, die besonders in diesen Jahren in Versammlungen und Kongressen von Wissenschaftlern und Experten über jeden konkreten Aspekt der Religionsfreiheit herangereift ist. Trotzdem geschieht es häufig, daß das Recht auf Religionsfreiheit nicht richtig verstanden und genügend geachtet wird.
Da gibt es vor allem mehr oder weniger zufällige Formen spontaner Intoleranz, Frucht mitunter von Unwissenheit und Anmaßung, die Personen und Gemeinschaften verletzen, indem sie Polemiken, Spannungen und Auseinandersetzungen verursachen und dadurch den Frieden und einen solidarischen Einsatz für das Gemeinwohl beeinträchtigen.
In verschiedenen Ländern beschränken oder annullieren gesetzliche Vorschriften und administrative Praktiken im konkreten Handeln die Rechte, welche die Konstitutionen den einzelnen Gläubigen und religiösen Gruppen formell zuerkennen. Schließlich gibt es auch heute noch Gesetzgebungen und Regelungen, die das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht berücksichtigen oder für dieses völlig unbegründete Einschränkungen vorsehen, ganz zu schweigen von den Fällen wirklich diskriminierender Maßnahmen und mitunter offener Verfolgung.
Vor allem in den letzten Jahren sind verschiedene öffentliche und private, nationale und internationale Vereinigungen entstanden, um diejenigen zu verteidigen, die in vielen Teilen der Welt wegen ihrer religiösen Überzeugungen Opfer von Situationen sind, die unrechtmäßig und beschämend für die ganze Menschheit sind. Auf verdienstvolle Weise verschaffen diese gegenüber der öffentlichen Meinung den Klagen und den Protesten der Brüder und Schwestern Gehör, die dafür oft selbst keine Stimme mehr besitzen.
Für ihren Teil hört die katholische Kirche nicht auf, denen, die wegen ihres Glaubens Diskriminierungen und Verfolgungen erdulden, ihre Solidarität zu bekunden, indem sie sich beständig, mit Geduld und Ausdauer dafür einsetzt, daß diese Situationen überwunden werden. Dazu sucht der Heilige Stuhl seinen spezifischen Beitrag in den internationalen Versammlungen zu leisten, in denen der Schutz der Menschenrechte und der Friede erörtert werden. Auf der gleichen Linie liegt der konkrete Einsatz, den der Heilige Stuhl und seine Vertreter im Kontakt mit den politisch Verantwortlichen in aller Welt unternehmen und der notwendigerweise diskreter, aber nicht weniger intensiv ist.
3. Die Religionsfreiheit und der Friede
Es kann keinem entgehen, daß die religiöse Dimension, die im Gewissen des Menschen ihre Wurzel hat, eine besondere Bedeutung für das Thema das Friedens besitzt und daß jeder Versuch, ihre freie Bekundung zu verhindern oder einzuengen, unweigerlich und mit schwerwiegenden Nachteilen auf die Möglichkeit des Menschen zurückwirkt, mit seinesgleichen friedlich zusammenzuleben.
Eine erste Überlegung drängt sich auf. Wie ich in dem schon erwähnten Brief an die Staatsoberhäupter, die die „Schlußakte von Helsinki“ unterzeichneten, geschrieben habe, stützt die Religionsfreiheit, insofern sie die innerste Sphäre des Geistes berührt, die anderen Freiheiten und ist gleichsam deren Seinsgrund. Obgleich das Bekenntnis einer Religion zuallererst in inneren Akten des Geistes besteht, bezieht es den gesamten Erfahrungsbereich des menschlichen Lebens ein und somit auch alle seine Ausdrucksformen.
Ferner trägt die Religionsfreiheit auf entscheidende Weise zur Formung von wahrhaft freien Bürgern bei, insofern sie gestattet, die Wahrheit über den Menschen und die Welt zu suchen und sich zu ihr zu bekennen und so in jedem Menschen ein volles Bewußtsein von seiner Würde und eine motiviertere Übernahme seiner eigenen Verantwortlichkeiten fördert. Ein ehrliches Verhältnis zur Wahrheit ist wesentliche Voraussetzung für authentische Freiheit (vgl. Enzyklika Redemptor hominis, 12). In diesem Sinne kann man gewiß sagen, daß die Religionsfreiheit ein Faktor von großer Bedeutung ist, um das sittlich kohärente Verhalten eines Volkes zu stärken. Die bürgerliche Gesellschaft kann sich auf die Gläubigen verlassen, da sie sich wegen ihrer tiefen Überzeugungen nicht nur nicht von Ideologien und totalitären Strömungen leicht vereinnahmen lassen, sondern sich auch darum bemühen, im Einklang mit ihren Grundanliegen zu handeln, die auf all das ausgerichtet sind, was wahr und gerecht ist, eine unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Friedens (vgl. Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 8).
Aber mehr noch. Der religiöse Glaube, der den Menschen veranlaßt, sein Menschsein auf neue Weise zu verstehen, führt ihn dazu, sich in aufrichtiger persönlicher Hingabe ganz auf die Seite der anderen Menschen zu stellen (vgl. Enzyklika Dominum et vivificantem, 59). Er bringt die Menschen zusammen und eint sie, er macht sie zu Brüdern, er läßt sie aufmerksamer, verantwortungsbewußter und eifriger in ihrem Einsatz für das Gemeinwohl werden. Es handelt sich nicht nur darum, sich bereiter zur Mitarbeit mit den anderen zu fühlen, weil man in den eigenen Rechten bestärkt und beschützt ist, sondern eher darum, aus den unerschöpflichen Quellen des rechten Gewissens höhere Beweggründe zu gewinnen, um sich für die Schaffung einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft einzusetzen.
Im Innern eines jeden Staates - oder besser gesagt, im Innern eines jeden Volkes - wird diese Notwendigkeit einer solidarischen Mitverantwortung heute besonders stark empfunden. Doch, so fragte sich schon mein verehrter Vorgänger Papst Paul VI., wie kann ein Staat volles Vertrauen und volle Mitarbeit fordern, wenn er sich - in der Weise eines „negativen Konfessionalismus“ - als atheistisch bekennt und, während er erklärt, in einem gewissen Umfang die persönlichen Glaubensüberzeugungen zu achten, in Wirklichkeit gegen den Glauben eines Teils seiner Bürger Stellung bezieht? (vgl. Ansprache an das Diplomatische Korps, 14. Januar 1978). Man sollte sich stattdessen darum bemühen, daß die Konfrontation zwischen der religiösen und der agnostischen oder atheistischen Weltanschauung, die eines der „Zeichen der Zeit“ unserer Epoche ist, redliche und achtbare menschliche Dimensionen bewahrt, ohne den Grundrechten des Gewissens jedes Mannes und jeder Frau auf der Erde zu schaden (vgl. Ansprache von Johannes Paul II. vor den Vereinten Nationen, 2. Oktober 1979, Nr. 20).
Wir erleben heute - jenseits der noch andauernden Situationen von Krieg und Ungerechtigkeit - eine Entwicklung zu einer fortschreitenden Einheit der Völker und Nationen auf verschiedenen Ebenen in Politik, Wirtschaft, Kultur usw. Dieser Dynamik, die anscheinend nicht aufzuhalten ist, doch immer wieder schweren Hindernissen begegnet, verleiht die religiöse Überzeugung einen tiefreichenden Impuls von nicht geringer Bedeutung. Indem sie nämlich verbietet, für die Beilegung von Konflikten auf Methoden der Gewalt zurückzugreifen, und zu Brüderlichkeit und Liebe erzieht, trägt sie dazu bei, Verständigung und Versöhnung zu fördern, und kann sie neue sittliche Energien für die Lösung von Fragen vermitteln, denen gegenüber die Menschheit heute schwach und ohnmächtig erscheint.
4. Die Verantwortung des religiösen Menschen
Den Pflichten des Staates hinsichtlich der Ausübung des Rechtes auf Religionsfreiheit entsprechen bestimmte schwere Verantwortlichkeiten der Männer und Frauen, sei es im persönlichen religiösen Bekenntnis, sei es in der Organisation und im Leben der jeweiligen Gemeinschaften.
An erster Stelle sind die Verantwortlichen der religiösen Konfessionen gehalten, ihre Lehre darzulegen, ohne sich von persönlichen, politischen und sozialen Interessen beeinflussen zu lassen, und auch in einer Art und Weise, die den Erfordernissen des Zusammenlebens entspricht und die Freiheit eines jeden achtet. Entsprechend müßten alle Mitglieder der verschiedenen Religionen - einzeln und als Gemeinschaft - auf jeden Fall ihre Überzeugung bekunden und ihren Kult und jede andere ihnen eigene Aktivität gestalten in Achtung vor den Rechten der anderen, die nicht jener Religion angehören oder gar keinen Glauben bekennen.
Gerade im Bereich des Friedens, jener tiefsten Sehnsucht der Menschheit, kann jede religiöse Gemeinschaft und jeder einzelne Gläubige die Echtheit des eigenen Bemühens um Solidarität mit den Brüdern ermessen. Wie vielleicht niemals zuvor in der Vergangenheit schaut die Welt heute, was den Frieden anbelangt, mit einer besonderen Erwartung auf die Religionen.
Man kann im übrigen mit Freude feststellen, daß sich bei den Verantwortlichen der religiösen Bekenntnisse wie bei den einfachen Gläubigen ein immer wacheres Augenmerk, ein immer lebendigeres Verlangen findet, für den Frieden zu wirken. Diese guten Vorsätze verdienen ermutigt und in geeigneter Weise miteinander verbunden zu werden, um sie immer wirksamer zu machen. Um dies zu erreichen, muß man bis zur Wurzel vordringen.
Genau das ist im vergangenen Jahr geschehen: Die Verantwortlichen der wichtigsten Weltreligionen sind meinem brüderlichen Aufruf gefolgt und zusammengekommen, um miteinander - jeder freilich in Treue zu seiner eigenen religiösen Überzeugung - ihre gemeinsame Verpflichtung bei der Errichtung des Friedens zu bekräftigen. Von Assisi aus gesehen handelt es sich in der Tat um eine verbindliche und verpflichtende Gabe, um ein Geschenk, daß es zu pflegen und zur Reife zu bringen gilt: in gegenseitiger Annahme und Achtung, im Verzicht auf ideologische Drohung und Gewalt, in der Förderung von Institutionen und Regeln für Übereinkunft und Zusammenarbeit unter den Völkern und Nationen, vor allem aber in der Erziehung zu einem Frieden, der auf einer weit höheren Ebene zu sehen ist als nur in der gewiß notwendigen und erwünschten Reform der Strukturen, zu einem Frieden also, der die Umkehr der Herzen voraussetzt.
5. Die Verpflichtung der Jünger Christi
Mit Freude erkennen wir an, daß unter den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dieser Prozeß bereits glücklich begonnen ist. Ich möchte wünschen, daß er einen neuen Impuls empfängt und sich zu einer noch breiteren Beteiligung aller religiösen Menschen der Welt an der großen Herausforderung des Friedens ausweitet.
Als Hirte der universalen Kirche würde ich meinen Auftrag verraten, wenn ich meine Stimme nicht für die Beachtung des unveräußerlichen Rechtes des Evangeliums erhöbe, „allen Geschöpfen“ (Mk 16, 15) verkündet zu werden, und nicht daran erinnerte, daß Gott die staatliche Gemeinschaft auf den Dienst an der menschlichen Person hingeordnet hat, der die Freiheit zusteht, nach der Wahrheit zu suchen und an ihr festzuhalten. Der Einsatz für Wahrheit und Freiheit, für Gerechtigkeit und Frieden kennzeichnet die Jünger des Herrn. Wir tragen ja in unserem Herzen die aus der Offenbarung stammende Gewißheit, daß Gott, der Vater, durch den gekreuzigten Sohn, der „unser Friede ist“ (Eph 2, 14), uns zu einem neuen Volk gemacht hat, das als Lebensbedingung die Freiheit von Kindern Gottes und als Verfassung das Gebot der Bruderliebe hat.
Als Volk des Neuen Bundes wissen wir, daß unsere Freiheit ihren höchsten Ausdruck in der vollen Annahme des göttlichen Rufes zum Heil findet, und bekennen mit dem Apostel Johannes: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat - und die sich im menschgewordenen Sohn gezeigt hat - erkannt und gläubig angenommen“ (l Joh 4, 16). Aus diesem freien und befreienden Akt des Glaubens entspringen eine neue Sicht der Welt, eine neue Art der Begegnung mit den Brüdern, eine neue Weise, in der Gesellschaft wie ein Sauerteig zu leben. Es ist das „neue Gebot“ (Joh 13, 34), das uns der Herr gegeben hat; es ist „sein Friede“ (Joh 14, 27) - nicht jener stets unvollkommene der Welt -, den Er uns hinterlassen hat.
Ich weiß gut, daß diese gewaltige Aufgabe unsere armen Kräfte übersteigt. Bei wie vielen Spaltungen und Verständnislosigkeiten tragen wir Christen unseren Anteil an Verantwortung, und wie viel gilt es in unserem eigenen Herzen, im Innern der Familien und der Gemeinschaften unter dem Zeichen der Versöhnung und der brüderlichen Liebe noch zu tun! Auch müssen wir erkennen, daß die Bedingungen der Welt diese Aufgabe nicht erleichtern. Die Versuchung zu Gewalt ist immer in der Nähe. Egoismus, Materialismus und Stolz machen den Menschen immer weniger frei und die Gesellschaft immer weniger offen für die Forderungen der Brüderlichkeit. Wir dürfen uns aber nicht entmutigen lassen: Jesus, unser Herr und Meister, ist bei uns alle Tage bis zum Ende der Welt (vgl. Mt 28, 20).
Meine Gedanken wenden sich in besonders mitfühlender Weise an die Brüder und Schwestern, denen die Freiheit genommen ist, ihren christlichen Glauben zu bekennen; an die vielen, die um Christi Namen willen verfolgt werden; an jene, die seinetwegen verstoßen und erniedrigt werden. Zutiefst wünsche ich, daß diese Brüder und Schwestern unsere geistige Nähe, unsere Solidarität und die Stärkung durch unser Gebet erfahren mögen. Wir wissen, daß ihr Opfer, wenn es mit demjenigen Christi vereint wird, Früchte wahren Friedens hervorbringt.
Brüder und Schwestern im Glauben, der Einsatz für den Frieden stellt ein Zeugnis dar, das uns heute in den Augen der Welt glaubwürdig macht, vor allem in den Augen der Generationen, die heranwachsen. Die große Herausforderung an den Menschen von heute, der Einsatz seiner wahren Freiheit, ist in der Seligpreisung des Evangeliums enthalten: „Selig, die Frieden stiften“ (Mt 5, 9).
Die Welt braucht den Frieden, die Welt ersehnt den Frieden brennend. Beten wir darum, daß allen, Männern und Frauen, Religionsfreiheit gewährt werde, damit sie diesen Frieden leben können.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1987