Botschaft zum Weltfriedenstag 1986
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1986
„DER FRIEDE, WERT OHNE GRENZEN NORD-SÜD, OST-WEST: EIN EINZIGER FRIEDE“
1. Friede als universaler Wert
Zum Beginn des neuen Jahres erneuere ich unter dem Antrieb Christi, des Friedensfürsten, die Verpflichtung auf die Sache des Friedens, zu der sich der Papst und die ganze katholische Kirche bekennen. Zugleich richte ich an jeden einzelnen und an alle Völker der Erde meinen aufrichtigen Gruß und beste Wünsche: Friede sei mit euch allen! Friede sei in allen Herzen! Friede ist ein so wichtiger Wert, daß er immer wieder neu verkündet und stets gefördert werden muß. Es gibt kein menschliches Wesen, dem Friede nicht zum Vorteil gereicht. Es gibt kein menschliches Herz, das nicht erleichtert ist, wenn Friede herrscht. Alle Nationen der Welt können ihre miteinander verbundene Zukunft nur dann verwirklichen, wenn sie gemeinsam den Frieden als universalen Wort fördern.
Zu diesem 19. Weltfriedenstag im Internationalen Jahr des Friedens, das die Vereinten Nationen verkündet haben, biete ich jedermann als Botschaft der Hoffnung meine tiefe Überzeugung an: „Friede ist ein Wert ohne Grenzen“. Er ist ein Wert, der Antwort gibt auf die Hoffnungen und Sehnsüchte aller Menschen und Nationen, von jung und alt, von allen Männern und Frauen guten Willens. Das ist meine Botschaft an jeden einzelnen, insbesondere aber an die Lenker der Welt.
Die Frage des Friedens als eines universalen Wertes muß mit äußerster intellektueller Redlichkeit, mit ehrlichem Herzen und wachem Verantwortungsbewußtsein für sich selbst und für die Völker der Erde angegangen werden. Ich möchte die Verantwortlichen für politische Entscheidungen, welche die Beziehungen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West betreffen, bitten, sich davon überzeugen zu lassen, daß es NUR EINEN FRIEDEN geben kann. Alle, die über die Zukunft dieser Welt entscheiden, ungeachtet ihrer politischen Einstellung, ihres ökonomischen Systems oder ihres religiösen Bekenntnisses, sind aufgefordert, zur Errichtung eines einzigen gemeinsamen Friedens beizutragen auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit und der Würde und Rechte jeder menschlichen Person. Diese Aufgabe erfordert eine tiefe Offenheit für die ganze Menschheit und die Überzeugung, daß alle Nationen der Welt aufeinander bezogen sind. Diese gegenseitige Beziehung drückt sich in einer Abhängigkeit aus, die sich als höchst vorteilhaft oder auch als tief zerstörerisch erweisen kann. Darum bilden weltweite Solidarität und Zusammenarbeit ethische Forderungen, die sich an das Gewissen der einzelnen wie auch an die Verantwortung aller Nationen richten. In diesem Kontext ethischer Forderungen möchte ich mich zum l. Januar 1986 an die ganze Welt wenden und den universalen Wert des Friedens verkünden.
2. Bedrohungen des Friedens
Wenn wir diese Sicht vom Frieden am Beginn eines neuen Jahres vorlegen, sind wir uns zutiefst bewußt, daß der Friede gegenwärtig noch ein Wert ist, der auf sehr schwachen Fundamenten ruht. Auf den ersten Blick scheint unser Ziel, Frieden zu einer absoluten Verpflichtung zu machen, utopisch zu sein, weil unsere Welt im Bereich von einander entgegenstehenden politischen, ideologischen und ökonomischen Gruppen allzu deutlich ein übertriebenes Eigeninteresse zeigt. Im Griff solcher Systeme werden führende Persönlichkeiten und Gruppen dazu verleitet, ihre Sonderinteressen und ihre ehrgeizigen Ziele im Bereich von Macht, Fortschritt und Wohlstand zu verfolgen, ohne hinreichend auf die Notwendigkeit und Pflicht internationaler Solidarität und Zusammenarbeit zugunsten des Gemeinwohls aller Völker der Menschheitsfamilie zu achten.
In dieser Situation bilden sich dauerhafte Blöcke, die Völker, Gruppen und einzelne spalten und in einen Gegensatz zueinander bringen und so den Frieden anfällig machen und schwere Hindernisse für den Fortschritt errichten. Positionen verhärten sich dann, und der übertriebene Wunsch, den eigenen Vorteil zu wahren oder den erlangten Anteil zu vergrößern, wird oft zur allesbeherrschenden Handlungsmaxime. Das führt zur Ausbeutung der anderen, und die Spirale entwickelt sich auf eine Polarisierung hin, die sich von den Früchten des Eigeninteresses und des wachsenden Mißtrauens gegenüber anderen nährt. In einer solchen Lage leiden gerade der Kleine und der Schwache, der Arme und der ohne Stimme am meisten. Das kann unmittelbar zutreffen, wenn ein armes und relativ wehrloses Volk gewaltsam in Abhängigkeit gehalten wird. Das kann auch indirekt geschehen, wenn wirtschaftliche Macht dazu mißbraucht wird, um Völkern ihren rechtmäßigen Anteil zu verweigern und sie in sozialer und wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten, wodurch Unzufriedenheit und Gewalt erzeugt werden. Beispiele hierfür gibt es heute leider allzu viele.
Die gespenstische Wirklichkeit atomarer Waffen, die ihren Ursprung gerade in diesem Gegensatz von Ost und West hat, bleibt das dramatischste und deutlichste Beispiel hierfür. Kernwaffen sind so stark in ihrer Zerstörungspotenz, und atomare Strategien sind so umfassend in ihren Planzielen, daß die Vorstellungskraft der Leute oft von Angst gelähmt ist. Diese Angst ist nicht unbegründet. Der einzige Weg, um eine Antwort auf solche berechtigte Angst vor den Folgen atomarer Zerstörung zu geben, ist der Fortschritt in den Verhandlungen zur Verringerung von Kernwaffen und zur beidseitigen Vereinbarung von Maßnahmen, welche die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges vermindern. Ich möchte die Atommächte noch einmal bitten, ihre sehr große moralische und politische Verantwortung in diesem Bereich zu bedenken. Es handelt sich hier um eine Verpflichtung, die einige Staaten auch rechtlich durch internationale Verträge übernommen haben; für alle aber ist es eine Verpflichtung auf Grund einer grundsätzlichen Mitverantwortung für Frieden und Entwicklung.
Aber die Drohung mit Kernwaffen ist nicht die einzige Weise, wie Konflikte fortdauern und sich vertiefen. Der wachsende Handel mit Waffen - konventioneller, aber höchst entwickelter Art - führt zu schlimmen Folgen. Während die Großmächte den direkten Konflikt vermieden haben, sind ihre Rivalitäten oft in anderen Teilen der Welt ausgetragen worden. Lokale Probleme und regionale Gegensätze werden dadurch vertieft und verlängert, daß reichere Länder Waffen dorthin liefern und die örtlichen Konflikte mit Ideologien von Mächten beladen werden, die regionale Vorteile suchen, indem sie die Lage der Armen und Wehrlosen ausnutzen.
Bewaffnete Konflikte sind nicht die einzige Weise, wie die Armen einen ungerechten Anteil an den Lasten der heutigen Welt tragen. Die Entwicklungsländer stoßen auch dann noch auf ungeheure Herausforderungen, wenn sie von einer solchen Geißel verschont sind. In ihren vielfältigen Dimensionen bleibt Unterentwicklung selbst eine noch stets wachsende Bedrohung für den Weltfrieden.
Tatsächlich besteht ja zwischen den Ländern des „Nord-Blocks“ und denen des „Süd-Blocks“ ein tiefer sozialer und wirtschaftlicher Graben, der reich von arm trennt. Die Statistiken der letzten Jahre weisen in einigen wenigen Ländern Zeichen der Besserung auf, ebenso aber auch die offensichtliche Verbreiterung des Grabens in allzu vielen anderen Ländern. Hinzu kommt die unvorhersehbare und schwankende finanzielle Situation mit ihrer direkten Auswirkung für hochverschuldete Länder, die darum ringen, eine gewisse positive Entwicklung zu nehmen.
Bei dieser Lage ist der Friede als universaler Wert in großer Gefahr. Auch wenn dort, wo Ungerechtigkeit herrscht, im Augenblick kein eigentlicher bewaffneter Konflikt besteht, so ist diese doch in der Tat Ursache und möglicher Ausgangspunkt für Konflikte. Jedenfalls kann es keinen Frieden im vollen Sinne seines Wertes zusammen mit Ungerechtigkeit geben. Friede kann nicht auf das bloße Fehlen von Konflikten eingeschränkt werden; er bedeutet vielmehr die ausgeglichene Ruhe einer vollentfalteten Ordnung. Er geht verloren durch soziale und wirtschaftliche Ausbeutung von Seiten spezieller Interessengruppen, die überstaatlich arbeiten oder als Eliten innerhalb von Entwicklungsländern wirken. Der Friede geht verloren durch soziale Spaltungen, die zwischen Staaten oder innerhalb der Staaten die Reichen in einen Gegensatz zu den Armen bringen. Er geht verloren, wenn Gewaltanwendung bittere Früchte von Haß und Spaltung hervorbringt. Er geht verloren, wenn wirtschaftliche Ausbeutung und innere Spannungen im sozialen Gefüge das Volk wehrlos und enttäuscht werden lassen, eine leichte Beute für die zerstörerischen Mächte der Gewalt.
Der Friede ist in seinem Wert ständig bedroht durch verdeckte Interessen, durch unterschiedliche und entgegengesetzte Auslegungen und sogar durch schlaue Ausnutzung im Dienst von Ideologien und politischen Systemen, deren letztes Ziel die Macht ist.
3. Überwindung der gegenwärtigen Situation
Es gibt Stimmen, die behaupten, diese Situation sei naturgegeben und unvermeidlich. Die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und zwischen den Staaten, so sagt man, seien von ständigen Konflikten bestimmt. Diese theoretische und politische Auffassung formt dann ein Gesellschaftsmodell und ein System internationaler Beziehungen, die von Konkurrenz und Gegensatz beherrscht werden, wobei der Stärkste siegt. Ein Friede, der aus einer solchen Auffassung geboren wird, kann nur eine Art von Kompromiß sein, eingegeben vom Prinzip der Realpolitik, und als Kompromiß sucht ein solcher Friede nicht so sehr die Spannungen durch Gerechtigkeit und Ausgleich wirklich zu lösen, als vielmehr mit den Differenzen und Konflikten lediglich so fertig zu werden, daß man ein gewisses Gleichgewicht erreicht, das alles unangetastet läßt, was den Interessen der vorherrschenden Seite entspricht. Es ist klar, daß ein „Friede“, der auf sozialen Ungerechtigkeiten und ideologischen Konflikten errichtet wird, niemals ein wahrer Friede für die Welt werden kann. Ein solcher „Friede“ kann nicht die wesentlichen Ursachen der Spannungen in der Welt bewältigen oder der Welt jene Einsichten und Werte vermitteln, welche die durch die Pole Nord-Süd und Ost-West dargestellten Spaltungen überwinden könnten.
Denjenigen, die meinen, Blöcke seien unvermeidlich, antworten wir, daß es möglich, ja sogar notwendig ist, neue Arten von Gesellschaft und internationaler Beziehungen aufzubauen, die Gerechtigkeit und Frieden auf festen und allgemein anerkannten Grundlagen sichern werden. In der Tat, ein gesunder Realismus zeigt, daß solche neuen Gesellschaftsformen nicht einfachhin von oben herab oder von außen auferlegt oder allein durch irgendwelche technische Methoden erreicht werden können. Das kommt daher, weil die tiefsten Wurzeln von Widerstreit und Spannung, die den Frieden verletzen und die Entwicklung hemmen, im Herzen des Menschen gesucht werden müssen. Vor allem das Herz und die Einstellung der Menschen müssen sich ändern, und das erfordert eine Erneuerung, eine Bekehrung der einzelnen Personen.
Wenn wir die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre untersuchen, können wir nicht nur tiefe Verwundungen, sondern auch Zeichen einer festen Entschlossenheit bei vielen unserer Zeitgenossen und bei ganzen Völkern beobachten, die gegenwärtigen Hindernisse zu überwinden, um ein neues internationales Ordnungssystem ins Leben zu rufen. Das ist der Weg, den die Menschheit einschlagen muß, wenn sie in eine Periode von universalem Frieden und umfassender Entwicklung gelangen soll.
4. Der Weg der Solidarität und des Dialogs
Jegliches neue internationale Ordnungssystem, das fähig sein will, das Blockdenken und die gegensätzlichen Kräfte zu überwinden, muß sich auf die persönliche Entschlossenheit eines jeden stützen, die grundlegenden und vorrangigen Bedürfnisse der Menschen zum ersten Gebot internationaler Politik zu machen. Heutzutage haben unzählige Menschen in allen Teilen der Welt ein lebendiges Gespür für ihre grundsätzliche Gleichheit, ihre menschliche Würde und ihre unveräußerlichen Rechte erworben. Zugleich wächst das Bewußtsein dafür, daß es in der Menschheit eine tiefe Gemeinsamkeit der Interessen, der Berufung und Bestimmung gibt und daß alle Völker in der Vielfalt und dem Reichtum ihrer unterschiedlichen nationalen Eigenarten berufen sind, eine einzige Familie zu bilden. Hinzu kommt die Erkenntnis, daß die Vorräte dieser Erde nicht unbegrenzt, die Bedürfnisse aber unendlich groß sind. Anstatt darum diese Vorräte zu vergeuden oder für Waffen tödlicher Zerstörung zu verwenden, müssen sie vor allem dazu gebraucht werden, die vorrangigen und grundlegenden Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.
Ebenso ist es wichtig festzustellen, daß das Bewußtsein dafür wächst, daß Aussöhnung, Gerechtigkeit und Friede zwischen einzelnen und zwischen Nationen - angesichts der Entwicklungsstufe, die die Menschheit erreicht hat, und der äußerst schweren Bedrohungen, die über ihrer Zukunft liegen - nicht bloß ein ehrenwerter Appell für einige Idealisten ist, sondern eine Bedingung für das Überleben des Lebens selbst. Folglich ist heute die Errichtung einer auf Gerechtigkeit und Frieden gründenden Ordnung lebensnotwendig, und zwar als eine klare sittliche Forderung, die für alle Völker und Regierungsformen, unabhängig von Ideologien und Gesellschaftssystemen, gilt. Die Notwendigkeit, mit und über dem besonderen Gemeinwohl einer Nation das Gemeinwohl der ganzen Staatenfamilie mitzuberücksichtigen, ist ganz gewiß eine ethische und rechtliche Pflicht. Der rechte Weg zu einer Weltgemeinschaft, in der Gerechtigkeit und Friede ohne Grenzen unter allen Völkern und auf allen Kontinenten herrschen werden, ist der Weg der Solidarität, des Dialogs und der universalen Brüderlichkeit. Das ist der einzig mögliche Weg. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen und Systeme müssen von den Werten der Solidarität und des Dialogs geprägt sein; diese wiederum erfordern eine institutionelle Stütze in Form von speziellen Organen der Weltgemeinschaft, die auf das Gemeinwohl aller Völker achten.
Eines ist deutlich: Um wirklich eine Weltgemeinschaft dieser Art zu erreichen, müssen geistige Einstellungen und politische Ansichten, die durch Machtgelüste und Ideologien, durch die Verteidigung der eigenen Privilegien und Besitzstände vergiftet sind, aufgegeben werden; an ihre Stelle muß die Bereitschaft für Austausch und Zusammenarbeit mit allen im Geiste gegenseitigen Vertrauens treten.
Diese Forderung, die Einheit der Menschheitsfamilie ernstzunehmen, wirkt sich sehr konkret für unser Leben und unseren Einsatz für den Frieden aus. Das bedeutet vor allem, daß wir jene Art zu denken ablehnen, die spaltet und ausnutzt. Es bedeutet, daß wir uns einer neuen Solidarität verpflichten, der Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie. Es bedeutet, die Nord-Süd-Spannungen in den Blick zu nehmen und sie durch eine neue Beziehung, durch soziale Solidarität mit allen, zu ersetzen. Diese soziale Solidarität nimmt den heute bestehenden Graben ehrlich zur Kenntnis, findet sich aber nicht damit ab, in einer Art von ökonomischem Determinismus. Sie erkennt an, wie komplex das Problem ist, das man allzu lange sich selbst überlassen hat, das aber immer noch gelöst werden kann durch Männer und Frauen, die sich brüderlich solidarisch wissen mit jedem anderen auf dieser Erde. Es ist wahr, daß es Änderungen bei den Modellen wirtschaftlichen Wachstums in allen Teilen der Welt, nicht nur in den ärmsten, gegeben hat. Aber der Mensch, der den Frieden als einen universalen Wert ansieht, möchte diese Gelegenheit nutzen, um die Unterschiede zwischen Nord und Süd zu verringern, und jene Beziehungen fördern, welche diese näher zueinander bringen. Ich denke dabei an die Preise für Grundstoffe, an den Bedarf für technisches Fachwissen, an die Fortbildung der Arbeitskräfte, an die mögliche Produktivität von Millionen von Arbeitslosen, an die Schulden armer Nationen sowie an einen besseren und verantwortungsbewußteren Einsatz von Geldmitteln in den Entwicklungsländern. Ich denke ferner an so viele Faktoren, die einzeln Spannungen hervorgerufen und in ihrer Bündelung die Nord-Süd- Beziehungen polarisiert haben. AH das kann und muß geändert werden.
Wenn soziale Gerechtigkeit das Mittel ist, um zu einem Frieden für alle Völker zu gelangen, dann bedeutet dies, daß wir den Frieden betrachten als eine unteilbare Frucht von gerechten und aufrichtigen Beziehungen auf jeder Ebene des menschlichen Lebens auf dieser Erde - sozial, wirtschaftlich, kulturell und ethisch. Diese Bekehrung zu einer Haltung sozialer Solidarität dient auch dazu, die Mängel im gegenwärtigen Ost-West-Verhältnis zu beleuchten. In meiner Botschaft an die II. Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung habe ich viele der Elemente untersucht, die notwendig sind, um das Verhältnis zwischen den zwei größten Machtblöcken von Ost und West zu verbessern. Alle jene Wege, die ich damals und auch danach noch empfohlen habe, stützen sich auf die Solidarität der Menschheitsfamilie, die gemeinsam auf dem Weg des Dialogs voranschreitet. Der Dialog kann viele Türen öffnen, die sich auf Grund der Spannungen geschlossen haben, welche die Ost-West-Beziehungen gekennzeichnet haben. Der Dialog ist ein Weg, auf dem die Menschen sich gegenseitig besser kennenlernen und dabei die guten Hoffnungen und friedlichen Anliegen entdecken, die allzu oft in ihren Herzen verborgen bleiben. Echter Dialog geht über Ideologien hinaus; die Menschen begegnen sich dabei in der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens. Dialog baut vorgefaßte Meinungen und künstliche Barrieren ab. Dialog bringt die Menschen in Kontakt miteinander als Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie, mit allem Reichtum ihrer verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Erfahrungen. Eine Bekehrung des Herzens verpflichtet die Menschen, eine allumfassende Brüderlichkeit zu fördern; Dialog hilft, dieses Ziel zu erreichen.
Heutzutage ist ein solcher Dialog notwendiger denn je. Sich selbst überlassen, werden Waffen und Waffensysteme, militärische Strategien und Allianzen zu Instrumenten der Einschüchterung, gegenseitiger Beschuldigung und entsprechender Angst, wie sie heute so viele Menschen befällt. Der Dialog wertet diese politischen Instrumente in ihrer Beziehung zum menschlichen Leben. Ich denke dabei vor allem an die verschiedenen Gesprächsrunden in Genf, die durch Verhandlungen versuchen, die Rüstungen zu verringern und zu begrenzen. Dann gibt es aber auch die verschiedenen offiziellen Gespräche, die im Zusammenhang des multilateralen Prozesses geführt werden, der mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki begonnen hat, ein Prozeß, der nächstes Jahr in Wien überprüft und fortgesetzt werden wird. Was den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd betrifft, kann man an die wichtige Rolle denken, die bestimmten Körperschaften wie der UNCTAD anvertraut ist, und auch an die Vereinbarungen von Lome, in denen sich die Europäische Gemeinschaft verpflichtet hat. Ich denke auch an die Arten von Dialog und Austausch, zu denen es kommt, wenn Grenzen geöffnet werden und die Menschen frei reisen können. Ich meine auch den Dialog, der sich ergibt, wenn eine Kultur durch den Kontakt mit einer anderen reicher wird, wenn Schüler und Studenten sich frei austauschen können, wenn Arbeiter sich frei versammeln dürfen, wenn junge Menschen ihre Kräfte für den Weg in die Zukunft vereinen, wenn ältere Menschen mit ihren Angehörigen wiedervereint werden. Der Weg des Dialogs ist ein Weg der Entdeckungen, und je mehr wir einander entdecken, umso mehr können wir die Spannungen der Vergangenheit durch friedliche Bindungen ersetzen.
5. Neue Beziehungen auf der Grundlage von Solidarität und Dialog
Im Geist der Solidarität und mit den Mitteln des Dialogs werden wir den Respekt lernen
- für jede menschliche Person,
- für die echten Werte und Kulturen anderer,
- für ihre berechtigte Autonomie und Selbstbestimmung; im selben Geist werden wir lernen,
- über uns selbst hinauszublicken, um das Wohl anderer zu verstehen und zu fördern;
- mit unseren eigenen Möglichkeiten in sozialer Solidarität beizutragen zu Entwicklung und Wachstum, wie Billigkeit und Gerechtigkeit sie fordern;
- die Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, daß soziale Solidarität und Dialog die bleibenden Merkmale der Welt, in der wir leben, sein werden.
Die Spannungen, die aus den zwei Machtblöcken entstehen, werden erfolgreich durch vielseitige Beziehungen im Geist von Solidarität und Dialog ersetzt werden, wenn wir lernen, stets den Vorrang der menschlichen Person zu betonen. Es geht um die Würde der Person und die Verteidigung ihrer Menschenrechte; denn diese leiden immer in der einen oder anderen Weise durch solche Spannungen und Verzerrungen unter den Machtblöcken, die wir soeben näher betrachtet haben. Das kann in Ländern geschehen, wo zwar viele persönliche Freiheiten garantiert sind, wo jedoch Individualismus und Konsumismus die Werte des Lebens entstellen und verfälschen. Es geschieht in Gesellschaften, wo die Person im Kollektiv untergeht. Es kann auch geschehen in jungen Staaten, die wohl Wert darauf legen, die Kontrolle ihrer eigenen Angelegenheiten in die Hand zu bekommen, die aber oft von den Mächtigen zu bestimmten politischen Entscheidungen gezwungen oder von der Verlockung unmittelbaren Gewinnes auf Kosten der Völker selbst verführt werden. In all diesen Fällen müssen wir stets den Vorrang der Person betonen.
6. Christliche Sicht und Verpflichtung
Meine Brüder und Schwestern im christlichen Glauben finden in Jesus Christus, in der Botschaft des Evangeliums und im Leben der Kirche tiefe Beweggründe und noch stärkere Motivationen, um sich für die Verwirklichung eines allumfassenden Friedens in der heutigen Welt einzusetzen. Der christliche Glaube hat seinen Brennpunkt in Jesus Christus, der am Kreuz seine Arme ausbreitet, um die zerstreuten Kinder Gottes zu vereinen (vgl. Joh 11, 52), die trennenden Mauern niederzureißen (vgl. Eph 2, 14) und die Völker in Brüderlichkeit und Frieden zu versöhnen. Das über der Welt errichtete Kreuz umfängt zeichenhaft Nord und Süd, Ost und West und hat die Kraft, sie miteinander zu versöhnen.
Christen wissen im Licht des Glaubens, daß der letzte Grund dafür, daß die Welt ein Schauplatz von Spaltungen, Spannungen, Rivalitäten, Blöcken und ungerechten Unterschieden ist anstatt ein Ort echter Brüderlichkeit, die Sünde ist, das heißt die sittliche Unordnung des Menschen. Christen wissen aber auch, daß die Gnade Christi, die diese Lage des Menschen verändern kann, ständig der Welt angeboten wird; denn „wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden“ (Rom 5, 20). Die Kirche, die das Werk Christi fortsetzt und seine erlösende Gnade austeilt, hat als Ziel gerade die Versöhnung von allen Menschen und Völkern in Einheit, Brüderlichkeit und Frieden. „Förderung von Einheit“, so sagt das Zweite Vatikanische Konzil, „hängt ja mit der letzten Sendung der Kirche zusammen, da sie „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ ist“ (Gaudium et spes, 42). Die Kirche, die eine einzige und universale Gemeinschaft ist bei aller Verschiedenheit der Völker, welche sie zusammenführt, „kann ... ein ganz enges Band zwischen verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden. Nur müssen diese ihr Vertrauen schenken und ihr wahre Freiheit zur Erfüllung dieser ihrer Sendung ehrlich zuerkennen“ (ebd.).
Diese Sicht und diese Forderungen, die sich ganz aus der Herzmitte des Glaubens ergeben, sollten vor allem alle Gläubigen dazu veranlassen, sich immer mehr jener Situationen bewußt zu werden, die mit dem Evangelium nicht im Einklang stehen, um sie zu bereinigen und zu korrigieren. Gleichzeitig sollten die Christen die positiven Zeichen anerkennen und wertschätzen, die bezeugen, daß Anstrengungen unternommen werden, um solche Situationen zu beheben, Anstrengungen, die sie wirksam unterstützen, fördern und stärken sollen.
Von lebendiger Hoffnung beseelt und fähig, zu hoffen gegen alle Hoffnung (vgl. Rom 4, 18), müssen Christen die Barrieren der Ideologien und Systeme überwinden, um mit allen Menschen guten Willens ins Gespräch zu kommen, neue Beziehungen zu knüpfen und neue Formen von Solidarität zu schaffen. In dieser Hinsicht möchte ich allen, die sich in freiwilligen Diensten auf internationaler Ebene und in anderen Hilfsbereichen einsetzen, welche sich um die Schaffung von Brücken für Austausch und Brüderlichkeit über die verschiedenen Blöcke hinaus bemühen, ein Wort der Wertschätzung und Anerkennung sagen.
7. Das Internationale Jahr des Friedens und ein Schlußappell
Liebe Freunde, Brüder und Schwestern! Am Beginn eines neuen Jahres erneuere ich meinen Aufruf an euch alle, Feindschaften zu überwinden und sich aus den Fesseln der Spannungen, die es in der Welt gibt, zu befreien. Ich rufe euch auf, die Spannungen zwischen Nord und Süd, Ost und West in neue Beziehungen sozialer Solidarität und des Dialogs zu verwandeln. Die Vereinten Nationen haben 1986 zum Internationalen Jahr des Friedens erklärt. Diese gute Initiative verdient unsere Ermutigung und Förderung. Welchen besseren Weg könnte es geben, um die Zielsetzung des Jahres des Friedens zu unterstützen, als diesen, die Beziehungen von Nord und Süd und Ost und West zur Basis eines allumfassenden Friedens zu machen!
Euch, den Politikern und Staatsmännern, rufe ich zu: Führt die Menschen so, daß sie zu neuen Anstrengungen in dieser Richtung angespornt werden.
Euch, die Geschäftsleute und die Verantwortlichen im Finanz- und Handelsbereich, rufe ich dazu auf, eure Verantwortung für alle eure Brüder und Schwestern erneut zu überprüfen.
An euch, die militärischen Planer, Beamten, Wissenschaftler und Technologen, appelliere ich: Benutzt eure Erfahrung dazu, den Dialog und die Verständigung zu fördern.
Euch, die Leidenden, die körperlich Behinderten, lade ich ein, eure Gebete und euer Leben aufzuopfern, damit die Barrieren niedergerissen werden, die die Welt spalten. Euch alle, die ihr an Gott glaubt, ermahne ich, in dem Bewußtsein zu leben, unter der Vaterschaft Gottes eine einzige Familie zu bilden.
An euch alle und jeden einzelnen, an jung und alt, schwach und stark, richte ich den Aufruf: Betrachtet den Frieden als den großen einigenden Wert eures Lebens. Wo immer ihr auf diesem Planeten lebt, bitte ich euch dringend, in Solidarität und aufrichtigem Dialog fortzufahren.
Friede, ein Wert ohne Grenzen:
Nord-Süd, Ost-West,
überall ein Volk, geeint in einem einzigen Frieden.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1985.