Botschaft zum Weltfriedenstag 1981
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1981
„UM DEM FRIEDEN ZU DIENEN, ACHTE DIE FREIHEIT“
An euch alle, die ihr am Aufbau des Friedens mitwirkt, an euch, die Verantwortlichen der Nationen, an euch, Brüder und Schwestern, Bürger dieser Welt, an euch, ihr jungen Menschen, die ihr von einer besseren Welt zu träumen wagt!
An euch alle, Männer und Frauen guten Willens, wende ich mich heute, um euch aus Anlaß des 14. Weltfriedenstages am 1. Januar 1981 einzuladen, über die Weltlage und das wichtige Anliegen des Friedens nachzudenken. Dazu bringt mich die feste Überzeugung, daß der Frieden sehr wohl möglich ist, daß er aber zugleich eine immer neue Errungenschaft darstellt, einen Wert, der durch stets neue Anstrengung verwirklicht werden muß. Jede Generation erfährt auf neue Weise die ständige Herausforderung des Friedens in der Auseinandersetzung mit den täglichen Lebensproblemen. Ja, Tag für Tag muß das Ideal des Friedens von jedem einzelnen von uns in konkrete Wirklichkeit übersetzt werden.
Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit
1. Wenn ich heute als Gegenstand der Reflexion das Thema der Freiheit vorlege, dann schließe ich mich damit der Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. an, der die Freiheit dort als eine der „vier Säulen, die das Haus des Friedens tragen“, bezeichnet hat. Die Freiheit entspricht einer tiefen Sehnsucht aller Menschen unserer heutigen Welt; das bezeugt unter anderem der häufige Gebrauch dieses Wortes „Freiheit“, auch wenn es nicht immer im selben Sinne benutzt wird von den Gläubigen und den Atheisten, von den Wissenschaftlern und den Wirtschaftsführern, von den Menschen in einer demokratischen Gesellschaft und von denen unter einem totalitären Regime. Jeder gibt diesem Wort einen besonderen Akzent und manchmal sogar eine grundverschiedene Bedeutung. Wenn wir dem Frieden dienen wollen, müssen wir also verstehen, welches jene wahre Freiheit ist, die zugleich Wurzel und Frucht des Friedens ist.
Verhältnisse, die heute eine neue Besinnung erfordern
2. Der Frieden muß im Rahmen der Wahrheit geschaffen und auf die Gerechtigkeit gegründet werden; er muß von der Liebe beseelt und in Freiheit gelebt werden (vgl. Pacem in terris). Ohne eine verbreitete tiefe Achtung der Freiheit erreicht der Mensch den Frieden nicht. Wir brauchen nur auf die Verhältnisse in unserer eigenen Umgebung zu schauen, um uns davon zu überzeugen. Denn das Panorama, das sich zu Beginn dieser achtziger Jahre unseren Augen bietet, scheint wenig ermutigend zu sein, wenn sich auch so viele Männer und Frauen, einfache Bürger wie auch verantwortliche Führer, mit aller Kraft, manchmal sogar angsterfüllt um den Frieden mühen. Ihre Sehnsucht nach wahrem Frieden wird aber nicht erfüllt, weil die Freiheit fehlt oder beeinträchtigt ist oder in einem zweideutigen und sogar falschen Sinn ausgeübt wird.
Was bedeutet denn die Freiheit von Völkern, deren Existenz, deren Wünsche und Verhaltensweisen von Furcht bestimmt sind anstelle von gegenseitigem Vertrauen, von Unterdrückung anstelle von freier Verwirklichung ihres Gemeinwohls? Die Freiheit ist verletzt, wenn die Beziehungen zwischen den Völkern nicht auf der Achtung der gleichberechtigten Würde eines jeden einzelnen gründen, sondern auf dem Recht des Stärkeren, auf dem Verhalten von Machtblöcken und auf militärischem oder politischem Imperialismus. Die Freiheit der Völker leidet Schaden, wenn die kleineren Nationen gezwungen sind, sich mit den größeren zu verbünden, um ihr Recht auf Selbständigkeit oder aufs Überleben gesichert zu wissen. Die Freiheit ist verletzt, wenn ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern aufgrund der ökonomischen oder finanziellen Vorherrschaft, wie sie von bessergestellten und starken Nationen ausgeübt wird, nicht mehr möglich ist.
Und hat der Frieden im Innern einer Nation, im gesellschaftspolitischen Bereich, eine echte Chance, wenn ein freies Mitwirken an Entscheidungen, welche die Gemeinschaft betreffen, oder die freie Ausübung der Rechte des einzelnen nicht garantiert sind? Es gibt keine wahre Freiheit, die das Fundament des Friedens ist, wo alle Macht in den Händen einer einzigen sozialen Klasse, einer Rasse oder einer Gruppe allein konzentriert ist oder wo das Gemeinwohl mit den Interessen einer einzigen Partei verwechselt wird, die sich mit dem Staat gleichsetzt. Es gibt keine wahre Freiheit, wenn die Freiheitsrechte der Einzelpersonen durch ein Kollektiv vereinnahmt werden, „indem man dem Menschen und seiner persönlichen wie sozialen Geschichte alle Transzendenz abspricht“ (Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, Nr. 26). Die wahre Freiheit fehlt gleichermaßen, wenn die verschiedenen Formen einer theoretisch vertretenen herrschaftsfreien Gesellschaft dazu führen, jegliche Autorität zurückzuweisen oder ständig in Frage zu stellen, und in ihrer extremen Spielart zu politisch motiviertem Terrorismus und zu blindwütenden Gewalttätigkeiten, ob spontan oder organisiert, ausarten. Es handelt sich nicht mehr um wahre Freiheit, wenn die innere Sicherheit des Staates zur einzigen und obersten Norm für die Beziehungen zwischen der politischen Autorität und den Bürgern erhoben wird, als wenn sie das alleinige oder hauptsächliche Mittel zur Erhaltung des inneren Friedens darstelle. Man kann in diesem Zusammenhang nicht die Augen verschließen vor dem Problem einer systematischen oder selektiven Unterdrückung, begleitet von Morden und Torturen, von Entführung und Verbannung, deren Opfer so viele Menschen werden, darunter Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laienchristen, die sich für den Dienst am Nächsten einsetzen.
3. Im sozialen Bereich kann man schwerlich jene Männer und Frauen als wirklich frei bezeichnen, die keine Sicherheit für eine anerkannte und gerecht entlohnte Arbeit haben oder die, wie es in so vielen Dörfern auf dem Lande vorkommt, immer noch so mancher Form von bedauerlicher Versklavung unterworfen sind, zuweilen Erbe einer Vergangenheit in Abhängigkeit oder einer kolonialen Mentalität. Andererseits gibt es auch keine ausreichende Freiheit für diejenigen, die sich infolge einer unkontrollierten Entwicklung der Industrie, der Städte oder der Bürokratie in einem gigantischen Räderwerk gefangen sehen, in einem System von Mechanismen, die sie nicht gewollt haben oder noch nicht beherrschen und die keinen genügenden Raum mehr lassen für eine menschenwürdige soziale Entwicklung. Die Freiheit ist darüber hinaus, mehr als es scheinen mag, eingeschränkt in einer Gesellschaft, die sich vom Dogma eines unbegrenzten materiellen Fortschritts, vom Besitzstreben oder vom Rüstungswettlauf bestimmen läßt. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die alle Gesellschaften trifft, droht, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den Grundsätzen einer anderen Ordnung gesehen wird, solche Maßnahmen auszulösen, die jenen Freiheitsraum noch mehr einschränken werden, dessen der Friede bedarf, um aufzublühen und zu reifen.
Auch auf geistiger Ebene kann die Freiheit vielfältige Manipulationen erleiden. Dies ist der Fall, wenn die sozialen Kommunikationsmittel ihre Macht mißbrauchen, ohne sich um strenge Objektivität zu kümmern. Das trifft ferner zu, wenn psychologische Mittel ohne Rücksicht auf die Würde der Person eingesetzt werden. Ferner ist die Freiheit sehr unvollständig oder nur schwer auszuüben für Männer, Frauen und Jugendliche, deren Analphabetismus eine Art von ständiger Versklavung darstellt in einer Gesellschaft, die Kultur voraussetzt.
An der Schwelle des Jahres 1981, das von den Vereinten Nationen zum Jahr des behinderten Menschen erklärt worden ist, müssen schließlich in diesen Überblick auch unsere Brüder und Schwestern eingeschlossen werden, die körperlich oder geistig behindert sind. Ist sich unsere Gesellschaft ihrer Verpflichtung genügend bewußt, solche Mittel zur Verfügung zu stellen, die es den Behinderten gestatten, leichter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und auch Zugang zu einer menschlichen Entwicklung zu haben, die ihren Personrechten sowie ihren Anliegen in würdiger Weise entspricht?
Ermutigende Bemühungen und lobenswerte Verwirklichungen
4. Neben diesen typischen Beispielen von Behinderung der rechten Entfaltung der Freiheit durch mehr oder weniger schwerwiegende Umstände - die aber geändert werden könnten - gibt es indes auch eine andere, positive Seite im Bild der Welt von heute auf ihrer Suche nach Frieden in Freiheit. Es gibt ungezählte Männer und Frauen, die an dieses Ideal glauben, die sich einsetzen, um mit ihrer Freiheit dem Frieden zu dienen, ihn zu achten, zu fördern, zu fordern und zu verteidigen, und die zu den Anstrengungen und Opfern bereit sind, welche dieser Einsatz verlangt. Ich denke an die Staats- und Regierungschefs, die Politiker, die Verantwortlichen im internationalen und gesellschaftlichen Leben auf allen Ebenen, die sich bemühen, die feierlich verkündeten Freiheiten allen zugänglich zu machen. Ich denke an all jene, die aus dem Wissen, daß Freiheit unteilbar ist, im Wechsel der Situationen unbeirrbar auf neue Freiheitsverletzungen im persönlichen, familiären, kulturellen, sozio-ökonomischen und politischen Leben in aller Objektivität aufmerksam machen. Ich denke an die Männer und Frauen überall auf der Erde, die sich für eine Solidarität über alle Grenzen hinweg begeistert haben und für die es unmöglich ist, in einer weltweit gewordenen Zivilisation ihre eigene Freiheit von jener Freiheit zu trennen, um deren Erlangung oder Bewahrung ihre Brüder und Schwestern in anderen Kontinenten ringen. Ich denke besonders an die Jugendlichen, die daran glauben, daß man nur dann wahrhaft frei wird, wenn man sich um dieselbe Freiheit für die anderen bemüht.
Die Verwurzelung der Freiheit im Menschen
5. Die Freiheit ist im wesentlichen dem Menschen eingeschrieben, sie gehört wesenhaft zur menschlichen Person und ist Merkmal seiner Natur. Denn die Freiheit der Person gründet in ihrer transzendenten Würde, die ihr von Gott, ihrem Schöpfer, gegeben wurde und die sie auf Gott hin ausrichtet. Aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen l, 27) gehört zum Menschen untrennbar die Freiheit, und keine Gewalt, kein Zwang von außen kann sie je aufheben; sie ist sein Grundrecht. Das gilt für den Menschen als Individuum wie als Glied der Gesellschaft. Der Mensch ist frei, weil er das Vermögen besitzt, sich im Licht des Wahren und des Guten zu entscheiden. Er ist frei, weil er die Fähigkeit der Wahl besitzt, „personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang“ (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 17). Frei sein, das heißt: wählen können und wollen; frei sein heißt, nach seinem Gewissen leben.
Die Förderung freier Menschen in einer freien Gesellschaft
6. Der Mensch muß folglich die Möglichkeit haben, seine Entscheidungen im Hinblick auf die von ihm bejahten Werte zu fällen. Das ist seine Verantwortung, und Sache der Gesellschaft ist es, diese Freiheit unter Berücksichtigung des Gemeinwohls zu fördern.
Der erste und grundlegende dieser Werte ist stets die Beziehung zu Gott, die sich in den religiösen Überzeugungen ausdrückt. So wird die Religionsfreiheit zur Grundlage der anderen Freiheiten. Im Hinblick auf das Madrider Treffen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa konnte ich wiederholen, was ich seit Beginn meines Dienstes immer wieder betone: „Die Gewissensund Religionsfreiheit... ist... ein ursprüngliches und unveräußerliches Recht der Person; mehr noch: insoweit sie den innersten Kern alles Geistigen betrifft, kann man sogar sagen, daß sie die in jeder Person tief verankerte Begründung der anderen Freiheiten darstellt“ (Die Religionsfreiheit und die Schlußakte von Helsinki, Nr. 5; vgl. L'Osservatore Romano 15. November 1980).
Die verschiedenen verantwortlichen Stellen in der Gesellschaft müssen die Ausübung der wahren Freiheit in all ihren Äußerungen ermöglichen. Sie müssen bemüht sein, jedem Mann und jeder Frau die Möglichkeit einer vollen Selbstverwirklichung zu sichern. Sie müssen ihm einen rechtlich geschützten Freiraum zuerkennen, damit er als einzelner und auch in Gemeinschaft nach dem Anspruch seines Gewissens leben kann. Auf eine solche Freiheit berufen sich ja auch die wichtigsten internationalen Erklärungen und Verträge, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die diesbezüglichen internationalen Konventionen, und ebenso die große Mehrheit der einzelnen Verfassungen. Das ist auch nicht mehr als gerecht; denn als Mandatsträger seiner Bürger muß der Staat die grundlegenden Rechte der Person nicht nur anerkennen, sondern auch schützen und fördern. Er wird diese positive Rolle wahrnehmen unter Beachtung der Gesetze und in Ausrichtung auf das Gemeinwohl nach den Forderungen des Sittengesetzes. Die frei gebildeten gesellschaftlichen Gruppen im Zwischenbereich werden auf ihre Weise ebenfalls zum Schutz und zur Förderung der Freiheiten beitragen. Diese hohe Aufgabe stellt sich allen aktiven Kräften der Gesellschaft.
7. Doch ist die Freiheit nicht nur ein Recht, das man für sich selbst beansprucht; sie ist auch eine Pflicht, die man anderen gegenüber auf sich nimmt. Um wahrhaft dem Frieden zu dienen, muß die Freiheit jedes Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft die Freiheit und das Recht der anderen Menschen und Gemeinschaften achten. Darin findet sie ihre Begrenzung, aber auch ihre innere Logik und Würde. Denn der Mensch ist von Natur auf Gemeinschaft angelegt. Manche Formen von „Freiheit“ verdienen diesen Namen nicht; die Freiheit muß wachsam verteidigt werden vor den verschiedensten Zerrbildern. So kann die Konsumgesellschaft in ihrem Überfluß an nicht notwendigen Gütern in einem gewissen Sinn einen Mißbrauch der Freiheit darstellen, wenn das immer unersättlichere Verlangen nach Gütern nicht dem Gesetz der Gerechtigkeit und der sozialen Liebe untergeordnet ist. Eine solche Konsumpraxis beschneidet nämlich die Freiheit der anderen; ja, aus der Sicht der internationalen Solidarität beeinträchtigt sie sogar das Leben ganzer Gesellschaften, die nicht über das Minimum verfügen, das sie für ihre Grundbedürfnisse brauchten. Zonen extremen Elendes auf dieser Erde, Hunger und Unterernährung sind ernste Fragen an jene Länder, die sich frei entwickelt haben, ohne die zu beachten, welche oft nicht das Minimum hatten, - und manchmal vielleicht auf deren Kosten. Ja, auch in den reichen Ländern selbst ist das ungezügelte Streben nach materiellen Gütern und allen möglichen Annehmlichkeiten für deren Nutznießer nur scheinbar freiheitsfordernd, weil es den materiellen Besitz als entscheidenden menschlichen Wert hinstellt, anstatt daß ein gewisser materieller Wohlstand nur als Voraussetzung und Mittel für die volle Entfaltung der Anlagen des Menschen - in Zusammenarbeit und Harmonie mit seinen Mitmenschen - angesehen wird.
In gleicher Weise verwehrt eine rein materialistisch begründete Gesellschaft dem Menschen die Freiheit, wenn sie die individuellen Freiheiten dem Primat der Wirtschaft unterordnet, wenn sie im Namen einer falschen ideologischen Vereinheitlichung die geistig schöpferische Kraft des Menschen unterdrückt, wenn sie die Ausübung des Rechtes auf Zusammenschluß verweigert, wenn sie die Möglichkeit, das öffentliche Leben mitzugestalten, praktisch auf ein Nichts reduziert oder wenn sie auf diesem Gebiet so handelt, daß Individualismus und passive Distanz im bürgerlichen und sozialen Leben zur allgemeinen Haltung werden. Schließlich ist zu sagen, daß die wahre Freiheit auch in der permissiven Gesellschaft nicht gefördert wird, welche die Freiheit mit der Erlaubnis zur Willkür verwechselt und im Namen der Freiheit eine Art von allgemeiner Sittenlosigkeit verkündet. Die Behauptung, der Mensch sei frei, sein Leben unabhängig von sittlichen Werten zu gestalten, und die Gesellschaft brauche diese Werte nicht zu schützen und zu fördern, ist eine Karikatur der Freiheit. Eine solche Haltung zerstört Freiheit und Frieden. Es gibt zahlreiche Beispiele für diese irrige Auffassung von Freiheit, so die Vernichtung von Menschenleben durch geduldete oder legalisierte Abtreibung.
Die Förderung freier Völker in einer freien Welt
8. Die Achtung der Freiheit der Völker und Nationen ist ein wesentlicher Bestandteil des Friedens. Es sind immer wieder Kriege ausgebrochen, und ganze Völker und Kulturen sind der Zerstörung anheimgefallen, weil die Souveränität eines Volkes oder einer Nation nicht geachtet worden ist. Alle Kontinente sind Zeugen und Opfer mörderischer Bruderkriege und Kämpfe gewesen, die durch den Versuch einer Nation, die Autonomie einer anderen zu beschränken, hervorgerufen wurden. Man kann sich sogar fragen, ob der Krieg nicht eine normale Gegebenheit unserer Zivilisation zu werden - oder zu bleiben - droht mit „begrenzten“ bewaffneten Konflikten, die sich lange hinziehen, ohne daß sich die öffentliche Meinung darüber empört, oder mit einer Kette von Bürgerkriegen. Die direkten und indirekten Gründe dafür sind vielfältig und komplex: territorialer Expansionismus, ideologischer Imperialismus, für dessen Erfolg man Waffen anhäuft, die die totale Vernichtung herbeiführen können, ferner fortgesetzte wirtschaftliche Ausbeutung, Überbetonung territorialer Sicherheit, ethnische Unterschiede, die durch den Waffenhandel ausgenutzt werden, und vieles andere mehr. Was auch immer der Grund sein mag, diese Kriege enthalten in sich Unrecht Menschenverachtung oder Haß und beeinträchtigen die Freiheit. Ich habe dies im vergangenen Jahr vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen unterstrichen: „Die Kriegslust in ihrer ursprünglichen, grundlegenden Bedeutung keimt und reift dort, wo die unveräußerlichen Menschenrechte verletzt werden. Das ist eine neue Sicht der Sache des Friedens, zutiefst aktuell und zugleich wesentlicher und radikaler. Es ist eine Sicht, die das Entstehen des Krieges und in gewissem Sinne auch seine Substanz in allen möglichen Formen der Ungerechtigkeit unter ihren verschiedensten Aspekten erblickt; diese greift zunächst die Menschenrechte an und zerreißt dadurch die organische Einheit der sozialen Ordnung und erschüttert schließlich das gesamte Gefüge der internationalen Beziehungen.“ (Nr. 11)
9. Ohne den Willen, die Freiheit jedes Volkes, jeder Nation oder Kultur zu achten, und ohne einen diesbezüglichen weltweiten Konsens wird es schwierig sein, die Voraussetzungen für den Frieden zu schaffen. Dennoch muß man den Mut haben, sie in Angriff zu nehmen. Dies verlangt von jeder Nation und ihren Regierungen den bewußten und öffentlichen Verzicht auf Ansprüche und Ziele, die die anderen Nationen beeinträchtigen, das heißt den Verzicht auf die Billigung jeglicher Doktrin nationaler oder kultureller Vorherrschaft. Ebenso muß man bereit sein, die inneren Entwicklungen der anderen Nationen zu achten, ihre Personalität inmitten der Menschheitsfamilie anzuerkennen und somit jede Art von Politik zu überprüfen und zu korrigieren, die praktisch eine Einmischung oder eine Ausbeutung im wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Bereich bedeuten könnte. In diesem Zusammenhang möchte ich dafür plädieren, daß die Völkergemeinschaft sich noch mehr darum bemüht, jungen Nationen oder Entwicklungsländern zu helfen, die volle Verfügung über ihre eigenen Naturschätze und auf dem Gebiet der Ernährung und der wesentlichen Lebensbedürfnisse Autonomie zu erlangen. Ich bitte die reichen Länder, ihre Hilfe vor allem auf das vordringliche Anliegen zu richten, das extreme Elend wirksam zu beheben.
Die entsprechende Überarbeitung der rechtlichen Mittel ist von Bedeutung für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Nationen. Um die Freiheit zu schützen, ist es wichtig, auch zur Kodifizierung jener konkreten Schlußfolgerungen beizutragen, die sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergeben. In die Achtung der Identität der Völker möchte ich besonders auch das Recht eines jeden Volkes einschließen, seine religiösen Traditionen im eigenen Land und durch die anderen Nationen respektiert zu sehen, sowie das Recht, sich im Bereich der Religion, der Kultur, der Wissenschaft und der Erziehung am freien Austausch zu beteiligen.
In einem Klima des Vertrauens und der Verantwortung
10. Die beste Garantie für die Freiheit und ihre volle Verwirklichung liegt in der Verantwortung der Menschen und Völker, in den Anstrengungen, welche die einzelnen in ihrem jeweiligen Bereich, in ihrer unmittelbaren Umgebung, auf nationaler und internationaler Ebene konkret unternehmen. Denn die Freiheit ist nicht einfach gegeben. Sie muß ununterbrochen neu erworben werden. Sie ist verbunden mit dem Bewußtsein um die Verantwortung, die einem jeden obliegt. Man macht die Menschen nicht frei, ohne sie gleichzeitig aufgeschlossener und verantwortungsbewußter für die Belange des Gemeinwohls zu machen.
Es ist notwendig, dafür ein Klima gegenseitigen Vertrauens zu schaffen und zu festigen, ohne das die Freiheit sich nicht entfalten kann. Es ist allen offenkundig, daß dies die unerläßliche Voraussetzung für einen wahren Frieden und dessen erste Ausdrucksform ist. Aber auch das Vertrauen ist wie die Freiheit und der Frieden nicht einfach gegeben: es muß erworben, es muß verdient werden. Wenn der einzelne Mensch seine Verantwortung für das Gemeinwohl nicht wahrnimmt und eine Nation sich für das Geschick der Welt nicht mitverantwortlich fühlt, ist das Vertrauen kompromittiert; erst recht, wenn man die anderen nur für seine eigenen egoistischen Ziele mißbraucht oder wenn man einfach Praktiken verfolgt, die darauf abzielen, die eigenen Interessen über die legitimen Interessen der anderen zu stellen. Nur das Vertrauen, das man sich durch konkreten Einsatz für das Gemeinwohl erworben hat, kann zwischen den Menschen und den Nationen die Achtung der Freiheit ermöglichen, die ein Dienst am Frieden ist.
Die Freiheit der Kinder Gottes
11. Gestattet mir, daß ich mich abschließend noch eingehender an diejenigen wende, die mit mir im Glauben an Christus verbunden sind. Der Mensch kann nicht wirklich frei sein noch die wahre Freiheit fördern, wenn er nicht die Transzendenz seines Seins über die Welt hinaus und seine Beziehung zu Gott anerkennt und lebt; denn die Freiheit ist immer die des Menschen, der nach dem Bild seines Schöpfers geschaffen ist. Der Christ findet im Evangelium eine Bestätigung und Vertiefung dieser Überzeugung. Christus, der Erlöser des Menschen, macht frei. „Wenn euch der Sohn frei macht, dann seid ihr in Wahrheit frei“, sagt der Apostel Johannes (Joh 8, 36). Und der Apostel Paulus fügt hinzu: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3, 17). Frei sein von Ungerechtigkeit, von Furcht, von Zwang, von Leid würde nichts nützen, wenn man in der Tiefe des Herzens ein Sklave, ein Sklave der Sünde bleiben würde. Um wirklich frei zu sein, muß der Mensch von dieser Versklavung befreit und in eine neue Kreatur verwandelt werden. Die radikale Freiheit des Menschen hat ihren Raum im innersten Kern des Menschen, dort wo er sich in der Bekehrung des Herzens für Gott öffnet; denn im Herzen des Menschen liegen die Wurzeln aller Zwänge, aller Verletzungen der Freiheit. Schließlich kommt für den Christen die Freiheit nicht vom Menschen selbst: sie zeigt sich im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und in der Treue zu seiner Liebe. Hier findet der Jünger Christi die Kraft, um für die Freiheit in der Welt zu kämpfen. Angesichts der Schwierigkeiten dieser Aufgabe läßt er sich nicht zu Untätigkeit oder Mutlosigkeit verleiten; denn er setzt seine Hoffnung auf Gott, der unterstützt und fruchtbar macht, was immer in seinem Geist getan wird.
Die Freiheit ist das Maß der Reife eines Menschen und einer Nation. Somit kann ich meine Botschaft nicht beenden, ohne noch einmal den eindringlichen Aufruf zu wiederholen, den ich schon am Anfang an euch gerichtet habe: Wie der Frieden ist auch die Freiheit eine Anstrengung, die man immer wieder neu unternehmen muß, um dem Menschen sein volles Menschsein zu geben. Erwarten wir nicht den Frieden vom Gleichgewicht des Schreckens! Nehmen wir die Gewalt nicht als einen Weg zum Frieden! Beginnen wir vielmehr damit, die wahre Freiheit zu respektieren: Der Frieden, der daraus erwächst, wird imstande sein, die Erwartung der Welt zu erfüllen; denn er wird gerecht sein und sich auf die unvergleichliche Würde des freien Menschen gründen.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1980.