Botschaft zum Weltfriedenstag 1977
Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Paul VI. zur Feier des Weltfriedenstages
1. Januar 1977
„WENN DU DEN FRIEDEN WILLST, VERTEIDIGE DAS LEBEN“
Menschen in hoher und verantwortlicher Stellung! Menschen ohne Zahl und unbekannt! Menschen, die Ihr unsere Freunde seid!
Wiederum, und nun schon zum zehnten Mal, wenden Wir Uns an Euch und sind Wir mit Euch! Am Morgen des neuen Jahres 1977 stehen Wir vor Eurer Tür und klopfen an (vgl. Offb 3, 20). Öffnet Uns bitte. Wir sind der gewohnte Pilger, der die Straßen der Welt durchwandert, ohne jemals zu ermüden und ohne sich auf dem Weg zu verirren. Wir sind gesandt, um Euch die gewohnte Botschaft zu verkünden; Wir sind ein Prophet des Friedens! In der Tat, Frieden, Frieden, rufen Wir ohne Unterlaß als Boten einer bestimmten Idee, einer Idee, die bereits alt, aber doch immer neu ist für die wiederkehrenden konkreten Notlagen, die nach ihr verlangen; sie ist wie eine Neuentdeckung, wie eine Verpflichtung, wie eine glückliche Verheißung! Die Idee des Friedens scheint ein bereits erworbenes Allgemeingut zu sein, als gleichwertiger und vollkommener Ausdruck der Zivilisation. Es gibt keine Zivilisation ohne den Frieden. Doch in Wirklichkeit ist der Frieden nie ganz vollendet und sicher. Ihr habt beobachtet, wie die Errungenschaften des Fortschritts selbst Ursachen von Konflikten werden können; und von was für Konflikten! Beurteilt daher Unsere jährliche Botschaft für den Frieden nicht als überflüssig und somit lästig.
Auf der Zeittafel der Psychologie der Menschheit hat der Frieden nach dem letzten Weltkrieg eine glückliche Stunde verzeichnet. Auf den ungeheuren Trümmern, die in den verschiedenen Ländern zwar recht unterschiedlich, aber doch überall vorhanden waren, hat sich schließlich nur der Frieden als siegreich erwiesen. Unverzüglich sind wie in einem frühlingsmäßigen Aufbruch jene Werke und Institutionen entstanden, die dem Frieden zugeordnet sind; viele von ihnen bestehen noch und sind noch immer voller Kraft. Sie sind die Errungenschaften der neuen Welt, und die Welt tut gut daran, ihrer stolz zu sein und deren Wirksamkeit und Entfaltung aufrechtzuerhalten. Es sind die Werke und Einrichtungen, die einen Schritt aufwärts in der Entwicklung der Menschheit bezeichnen. Hören wir an dieser Stelle für einen Augenblick eine gewichtige väterliche und prophetische Stimme, jene Unseres verehrten Vorgängers Papst Johannes XXIII:
„Das menschliche Zusammenleben, ehrwürdige Brüder, geliebte Söhne und Töchter, muß vor allem als eine geistige Wirklichkeit betrachtet werden: als ein Austausch von Erkenntnissen im Lichte der Wahrheit; eine Ausübung von Rechten und Erfüllung von Pflichten; ein Ansporn und Aufruf zum sittlich Guten; als gemeinsame edle Freude am Schönen in all seinen rechtmäßigen Ausdrucksformen; eine Sehnsucht nach gegenseitiger und immer reicherer Aneignung geistiger Werte: Werte, in denen die kulturellen Ausdrucksformen, die Welt der Wirtschaft, die sozialen Institutionen, die politischen Bewegungen und Regime, die Rechtsordnungen und alle übrigen Dinge, die äußerlich das menschliche Zusammenleben in seiner ständigen Entwicklung bestimmen und zum Ausdruck bringen, ihre immerwährende Anregung und grundlegende Orientierung finden“ (Enzyklika „Pacem in terris“, 11. April 1963; in Acta Apostolicae Sedis, LV, 1963, S. 266).
Diese heilsame Phase des Friedens gibt jedoch Raum für neue Auseinandersetzungen, seien sie noch Bestandteile wiederauflebender Streitigkeiten, die nur provisorisch beigelegt worden waren, seien sie neue geschichtliche Phänomene, die aus den sich ständig entwickelnden sozialen Strukturen entstehen. Der Frieden gerät wiederum in Bedrängnis, zunächst in den Herzen der Menschen, dann in den begrenzten örtlichen Auseinandersetzungen und schließlich in erschreckenden Aufrüstungsprogrammen, die das Potential furchtbarer Zerstörungen kaltblütig berechnen, die selbst unsere Fähigkeit übersteigen, sie in anschaulichen Ausmaßen zu beschreiben. Äußerst lobenswerte Versuche werden hier und da unternommen, um derartige Katastrophen zu verhindern, und Wir selbst wünschen, daß sie die unermeßlichen Gefahren abzuwehren vermögen, für deren frühzeitige Überwindung diese Versuche ein wirksames Mittel suchen.
Menschen, die Ihr unsere Brüder seid! Dies allein genügt nicht. Die Idee des Friedens als ein richtungsweisendes Ideal für das tatsächliche Handeln in der menschlichen Gesellschaft scheint einer fatal um sich greifenden Unfähigkeit der Welt, sich selbst in Frieden und mit Frieden zu regieren, zunehmend zu unterliegen. Der Frieden ist keine von selbst gegebene Wirklichkeit, wenn auch das tiefe Streben der menschlichen Natur darauf ausgerichtet ist. Der Frieden besagt Ordnung, und nach der Ordnung strebt jedes Ding, jede Tatsache, wie nach einer vorgegebenen Bestimmung, wie nach ihrem eigenen Seinsgrund, der zwar vorher erkannt, aber nur in Begleitung und unter Mitwirkung vielfältiger Faktoren verwirklicht wird. Deshalb ist der Frieden ein Gipfel, der eine innere komplexe Struktur zu seiner Aufrechterhaltung voraussetzt. Er ist wie ein flexibler Körper, der durch ein kräftiges Skelett gestärkt werden muß. Er ist ein Gebilde, das seine Stabilität und seine Vorzüglichkeit der stützenden Kraft von Ursachen und Bedingungen verdankt, die leider nur allzuoft fehlen, und selbst wenn sie wirksam sind, nicht immer die ihnen zugewiesenen Funktionen erfüllen, damit die Pyramide des Friedens an ihrer Basis stabil und in ihrem Ausmaß hoch ist.
Angesichts dieser Analyse des Friedens, die seine Vorzüglichkeit und seine Notwendigkeit bekräftigt, gleichzeitig aber auch dessen Unbeständigkeit und Brüchigkeit offenbart, betonen Wir jedoch erneut Unsere Überzeugung: der Frieden ist geboten, der Frieden ist möglich. Dies ist Unsere stets wiederkehrende Botschaft, die sich das Ideal der Zivilisation zum Inhalt macht, auf die Erwartungen der Völker antwortet, die Hoffnung der Kleinen und Schwachen unter den Menschen stärkt und die Sicherheit der Starken mit der Gerechtigkeit adelt. Es ist die Botschaft des Optimismus, es ist die Vorankündigung der Zukunft. Der Frieden ist kein Traum, weder eine Utopie noch eine Illusion. Und noch weniger ist er eine Sisyphusarbeit: nein, er kann verlängert und gefestigt werden; er kann die schönsten Seiten der Geschichte bezeichnen, und das nicht nur mit den Denkschriften der Macht und des Ruhmes, sondern noch weit mehr mit jenen wertvolleren der menschlichen Tugenden, der im Volk verwirklichten Güte, des gemeinschaftlichen Wohlstands, der wahren Zivilisation: der Zivilisation der Liebe.
Ist er wirklich möglich? Ja, er ist es; er muß es sein. Seien wir aber aufrichtig: Wir wiederholen es, der Frieden ist geboten, er ist möglich, jedoch nicht ohne die Mitwirkung von vielen und nicht leichten Bedingungen. Wir sind Uns dessen bewußt, daß die Erörterung der Voraussetzungen des Friedens sehr schwierig und sehr umfangreich ist. Wir wagen es nicht, sie hier in Angriff zu nehmen. Wir überlassen sie den Experten. Doch wollen Wir im folgenden wenigstens einen Aspekt aufgreifen, dem ohne Zweifel eine vorrangige Bedeutung zukommt. Es genügt Uns hier, ihn nur zu nennen und ihn den guten und einsichtigen Menschen zur Besinnung zu empfehlen. Es ist der folgende: die Beziehung zwischen dem Frieden und der Auffassung, die die Welt vom menschlichen Leben hat.
Frieden und Leben: beides sind höchste Güter in der zivilen Ordnung; sie stehen in Wechselbeziehung zueinander.
Wollen wir den Frieden? Dann verteidigen wir das Leben!
Dieser zweifache Begriff „Frieden und Leben“ kann fast wie eine Tautologie oder wie ein rhetorischer Slogan erscheinen; er ist es aber nicht. Er stellt eine Errungenschaft dar, die entlang des Weges des menschlichen Fortschritts lange umstritten gewesen ist; es ist ein Weg, der sein Endziel noch immer nicht ganz erreicht hat. Wie viele Male bezeichnete das Begriffspaar „Frieden und Leben“ in der dramatischen Geschichte der Menschheit eher einen grausamen Zusammenstoß der beiden Größen und nicht deren brüderliche Verbindung. Der Frieden ist mit dem Tode und nicht mit dem Leben gesucht und herbeigeführt worden; das Leben behauptete sich nicht mit dem Frieden, sondern mit dem Kampf als einer traurigen Notwendigkeit zur eigenen Verteidigung. Die Verwandtschaft zwischen dem Frieden und dem Leben scheint sich aus der Natur der Dinge zu ergeben; jedoch nicht immer und noch nicht aus der Logik der Gesinnung und des Verhaltens der Menschen. Dies ist, wenn wir die Dynamik des menschlichen Fortschritts verstehen wollen, das Paradox, das Neue, das wir während dieses Jahres der Gnade 1977 und dann für immer geltend machen müssen. Es ist nicht leicht und nicht einfach, damit Erfolg zu haben, denn zu viele Einwände, erschreckende Einwände, die im ungeheueren Arsenal der PseudoÜberzeugungen,
der empirisch oder utilitaristisch begründeten Vorurteile, der sogenannten Staatsraison oder der geschichtlichen und traditionellen Gepflogenheiten gehütet werden, widersetzen sich und bilden noch heute Hindernisse, die unüberwindlich zu sein scheinen. Mit dieser tragischen Schlußfolgerung: wenn Frieden und Leben sich zwar unlogischerweise, jedoch praktisch voneinander lösen, so zeichnet sich am Horizont der Zukunft eine Katastrophe ab, die in unseren Tagen maßlos und ohne rettende Hilfe für den Frieden und für das Leben sein könnte. Hiroshima ist dafür ein furchtbares und beredtes Zeugnis sowie ein in dieser Hinsicht erschreckend prophetisches Beispiel. Wenn der Frieden durch eine beklagenswerte Hypothese als losgelöst von der mit ihm naturgemäß verbundenen Achtung vor dem Leben aufgefaßt würde, so könnte er sich als ein trauriger Triumph des Todes aufdrängen. Es kommen einem die Worte von Cornelius Tacitus in den Sinn: „... wo sie Verwüstung anrichten, nennen sie es Frieden“ (Agricola, 30). Anderseits kann man ebenso mit egoistischer und fast abgöttischer Vorliebe das privilegierte Leben einiger auf Kosten der Unterdrückung oder sogar Beseitigung anderer überschwenglich preisen: ist das Frieden ? Um in diesem Konflikt, der sich aus einem mehr theoretischen und sittlichen zu einem tragisch konkreten entwickelt und noch heute so viele Bereiche des menschlichen Zusammenlebens entweiht und mit Blut befleckt, den Schlüssel der Wahrheit wiederzufinden, muß man ohne weiteres erneut den Vorrang des Lebens als einen Wert und eine Vorbedingung für den Frieden anerkennen. Dies ist die entsprechende Formel: „Wenn du den Frieden willst, verteidige das Leben“. Das Leben ist der Gipfel des Friedens. Wenn die Logik unseres Handelns von der Heiligkeit des Lebens ausgeht, dann ist der Krieg als normales und gewohntes Mittel zur Durchsetzung des Rechtes und somit des Friedens im Grunde geächtet. Der Frieden ist nichts anderes als der unbestreitbare Sieg des Rechts und schließlich die beglückende Achtung vor dem Leben.
Hierfür könnten Wir eine lange Reihe von Beispielen anführen; endlos ist aber auch die Reihe waghalsiger Abenteuer, oder besser gesagt, wirklicher Katastrophen, bei denen das Leben in vermeintlicher Konkurrenz mit dem Frieden aufs Spiel gesetzt wird. Wir übernehmen die Einteilung in „drei wesentliche Imperative“, die zu diesem Thema bereits vorgenommen worden ist. Wenn wir einen wahren und glücklichen Frieden haben wollen, dann müssen wir, so lauten diese Grundforderungen, „das Leben verteidigen, das Leben heilen, das Leben fördern“.
Dadurch ist sogleich die Politik der starken Aufrüstung in Frage gestellt. Der alte Satz, der auch heute noch, so wie früher, in der Politik gern angewandt wird: „Wenn du den Frieden willst, bereite dich zum Krieg vor“, ist ohne grundsätzliche Vorbehalte nicht annehmbar (vgl. Lk 14, 31). Gestützt und ermutigt durch die einfache Klarheit unserer Prinzipien, klagen wir darum das falsche und gefährliche Programm des „Rüstungswettlaufes“ an, des geheimen Ringens um die militärische Vorherrschaft unter den Völkern. Es mag sein, daß ein neuer Krieg - und wie schrecklich würde dieser sein - durch einen glücklichen Rest von Weisheit oder durch eine stillschweigende, aber auch so schon furchterregende stählerne Macht im Gleichgewicht der todbringenden feindlichen Kräfte nicht zum Ausbruch kommt. Muß uns aber nicht der unendlich große Aufwand an finanziellen Mitteln und an menschlicher Kraft traurig stimmen, der dazu dienen soll, jedem einzelnen Staat eine Ausrüstung mit immer kostspieligeren, immer wirkungsvolleren Waffen zu verschaffen, zum Schaden der Haushalte für die Schulen, die Kultur, die Landwirtschaft, das Gesundheitswesen, das Zusammenleben der Bürger. Der Frieden und das Leben ertragen enorme und unermeßliche Lasten, um einen Frieden zu erhalten, der auf einer andauernden Bedrohung des Lebens gegründet ist, oder auch um das Leben zu verteidigen durch eine ständige Bedrohung des Friedens. Man wird entgegnen, dies sei unvermeidlich. Das mag stimmen bei einer immer noch so unvollkommenen Auffassung von der menschlichen Zivilisation. Wir sollten aber wenigstens zugeben, daß diese grundsätzliche gegenseitige Bedrohung von Leben und Frieden, die der Rüstungswettlauf herbeiführt, eine in sich selbst trügerische Formel darstellt, die korrigiert und überwunden werden müßte. Wir sprechen darum Unsere Anerkennung aus für die bereits unternommenen Bemühungen, diesen absurden kalten Krieg einzudämmen und schließlich ganz zu beseitigen, diesen Zustand, der durch die andauernde Vermehrung des jeweiligen militärischen Machtpotentials der Nationen entsteht, als wenn diese unentwegt Feinde untereinander sein müßten und als ob sie unfähig wären zu erkennen, daß diese Auffassung von den internationalen Beziehungen eines Tages zwangsläufig zum Zusammenbruch des Friedens und zur Vernichtung unzähliger Menschenleben führt.
Aber nicht nur der Krieg zerstört den Frieden. Jedes Vergehen gegen das Leben ist ein Attentat auf den Frieden, besonders wenn dabei die Sitten des Volkes verletzt werden, wie dies heute häufig durch die furchtbare und zuweilen vom Gesetz geschützte Leichtigkeit geschieht, mit der das ungeborene Leben durch die Abtreibung ausgelöscht wird. Man pflegt zugunsten der Abtreibung folgende Beweggründe zu nennen: die Abtreibung soll die bedrohliche Vermehrung der Bevölkerung eindämmen, sie soll Lebewesen beseitigen, die verunstaltet leben müßten oder in sozialer Diskriminierung oder in proletarischem Elend, und so fort.
Die Abtreibung scheint also eher dem Frieden zu nützen, als ihm zu schaden. Aber so ist es gerade nicht! Die Tötung eines menschlichen Lebewesens, sei es vor der Geburt, sei es danach, verletzt in erster Linie das unantastbare Moralprinzip, auf das sich die Auffassung von der menschlichen Existenz immer beziehen muß: das Leben des Menschen ist unantastbar und heilig vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an bis zum letzten Augenblick seines natürlichen Lebens in der Zeit. Es ist heilig: was bedeutet dies? Das bedeutet, daß dieses Leben jeglicher willkürlichen Macht der Zerstörung entzogen ist; es ist unantastbar und so wertvoll, daß es alle Hochschätzung, alle Pflege und jedes geschuldete Opfer verdient.
Dieser Sinn für den heiligen, das heißt, für den unantastbaren, unverletzbaren Wert eines menschlichen Lebens, ist für den, der an Gott glaubt, spontan und instinktiv gegeben; er ist verpflichtend aufgrund des transzendenten Gesetzes Gottes. Aber auch für denjenigen, der nicht das Glück hat, Gottes schützende und richtende Hand über jedem Menschenleben anerkennen zu können, ist dieser Sinn notwendigerweise als intuitive Einsicht in die menschliche Würde zu eigen. Das wissen und empfinden auch diejenigen, die das Unglück gehabt haben, mit der damit verbundenen unerbittlichen Schuld und den immer wiederkehrenden Gewissensbissen, willentlich ein Leben ausgelöscht zu haben. Die Stimme des unschuldigen Blutes schreit im Herzen des Mörders mit schriller Eindringlichkeit. Der innere Frieden ist dann nicht mehr möglich auf dem Wege über egoistische Spitzfindigkeiten! Und selbst dann: ein Attentat auf den Frieden, das heißt, auf den allgemeinen Schutzwall für die Ordnung, für ein menschenwürdiges und gesichertes Zusammenleben, in einem Wort, auf den Frieden, ist geschehen. Das Leben des einzelnen und der Frieden aller sind immer durch ein unauflösliches Band innerer Verwandtschaft miteinander verbunden. Wenn wir wünschen, daß der Fortschritt der sozialen Ordnung sich nach festen Prinzipien richtet, dann dürfen wir ihn nicht in seinem wesentlichen Kern, der Achtung vor dem menschlichen Leben, verletzen. Auch unter diesem Gesichtspunkt gehören Frieden und Leben in solidarischer Verbundenheit zur Basis einer geordneten und zivilisierten Kultur.
Die Überlegungen könnten noch lange bei den hundertfältigen Formen verweilen, unter denen der Angriff auf das Leben heute zur Gewohnheit zu werden scheint, dort wo das Verbrechen des einzelnen sich so organisiert, daß daraus ein kollektives Verbrechen wird. So verschafft man sich das Schweigen und die Mithilfe von ganzen Gruppen von Mitbürgern. So erweitert man privates Rachebedürfnis zu einer feigen kollektiven Verpflichtung. So macht man aus dem Terrorismus eine Art von legitimem politischen oder sozialen Handeln. Aus der Polizeitortur wird dann eine effektvolle Methode der Staatsgewalt, nicht mehr darum bemüht, die Ordnung wiederherzustellen, sondern eine schändliche Repression aufzuerlegen. Unmöglich kann der Frieden dort aufblühen, wo die Unverletzlichkeit des Lebens in solcher Weise in Gefahr gebracht wird. Wo die Gewalt losbricht, stirbt der wahre Frieden. Wo aber die Menschenrechte wirklich ernst genommen und öffentlich anerkannt und verteidigt werden, dort kann der Frieden zu einer Atmosphäre werden, in der sich das soziale Zusammenleben glücklich und wirkungsvoll entwickelt. Zeugnisse für unseren zivilen Fortschritt sind die Texte der internationalen Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte, zur Verteidigung des Kindes, zur Sicherstellung der grundlegenden Freiheiten des Menschen. Sie stellen ein Ruhmesblatt für den Frieden dar, weil sie Schutz für das Leben sein wollen. Sind sie vollständig? Werden sie beachtet? Wir alle erkennen, daß unsere Zivilisation sich in solchen Erklärungen ausdrückt und in ihnen die Garantie der eigenen Wirklichkeit findet. Diese wird vollkommen und großartig sein, wenn solche Erklärungen in die Gewissen und in die Sitten eindringen; sie wird armselig und verunstaltet sein, wenn diese toter Buchstaben bleiben.
Ihr Menschen auf dem Höhepunkt des 20. Jahrhunderts, Ihr habt eine ruhmreiche Charta unterzeichnet, in der die Fülle menschlicher Entwicklung erreicht wird, wenn diese Charta Euren wahren Willen wiedergibt; Ihr habt jedoch vor der Geschichte Euer moralisches Urteil unterschrieben, wenn diese Charta nur das Dokument einer leeren und rhetorischen Willensäußerung oder einer juristischen Heuchelei darstellt. Und das ist der Maßstab: der Ausgleich des wahren Friedens mit der Würde des Lebens.
Nehmt Unsere flehentliche Bitte an, daß dieser Ausgleich Wirklichkeit werde und ein neuer Gipfel aufsteige am Horizont unserer Zivilisation, der Gipfel des Lebens und des Friedens, und sich schließlich, so möchten Wir noch hinzufügen, die Zivilisation der Liebe zeige.
Ist damit alles gesagt?
Nein - Wir müssen noch eine ungewohnte Frage hinzufügen: wie kann dieses Programm unseres zivilisatorischen Fortschritts verwirklicht werden? Wie können das Leben und der Frieden wirklich miteinander verbunden werden? Wir wollen eine Antwort geben in Worten, zu denen diejenigen keinen Zugang haben, die den weiten Horizont der Realität nur auf die natürliche Sichtweise beschränkt haben. Aber wir müssen uns hierin auf die vom Glauben durchdrungene Realität beziehen, die wir „übernatürlich“ nennen. Der Glaube ist nötig, um jenes Zusammenspiel der Wirkkräfte im gesamten menschlichen Geschehen zu entdecken: hier wirkt das transzendente Walten Gottes mit und befähigt unser Wirken zu wertvolleren Ergebnissen, die uns, menschlich gesprochen, unmöglich erscheinen. Das Leben mit Gott, lebendig und aufrichtig, ist hierbei nötig, um solche Ergebnisse zu ermöglichen. Der „Gott des Friedens“ (Phil 4, 9) muß uns hierin beistehen.
Wohl uns, wenn wir das erkennen und glauben, wenn wir in diesem Glauben die innere Einheit von Leben und Frieden zu entdecken wissen und verstehen, sie in konkretes Handeln umzusetzen.
Zu den hier dargelegten Gedanken, die dem Leben den Vortritt vor dem Frieden einräumen und von der Unverletzlichkeit des Lebens abhängig machen, gibt es jedoch eine entscheidende Ausnahme. Es ist die Ausnahme, die sich in den Fällen ergibt, in denen ein anderes Gut hinzutritt, das höher als das Leben selbst ist. Es handelt sich um ein Gut von einem Wert, der den des Lebens selbst weit übersteigt, wie die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die bürgerliche Freiheit, die Nächstenliebe, den Glauben ... Christus selbst sagt uns hierzu: „Wer das eigene Leben liebt (d.h. mehr als diese höheren Güter), der wird es verlieren“ (vgl. Jo 12, 25). Dieses zeigt uns, daß in der Weise, wie der Frieden in seiner Beziehung zum Leben verstanden werden muß und wie aus einem geordneten, dem Leben zugesicherten Wohlergehen der Frieden selbst als Harmonie hervorgehen muß, die die menschliche Existenz in ihrem inneren und sozialen Bezug ordnet und glücklich macht, auch diese menschliche Existenz selbst, das Leben nämlich, sich nicht ihrer höheren Bestimmung entziehen kann und darf, die ihm den ersten Daseinsgrund verleiht. Warum lebt man? Was gibt denn dem Leben, außer einer durch den Frieden gewährten Ordnung, seine Würde, seine geistige Fülle, seine sittliche Größe und auch seine religiöse Ausrichtung? Geht denn etwa der wahre Frieden verloren, wenn wir der Liebe in ihrer höchsten Ausdrucksform, die das Opfer ist, in unserem Leben ein Heimatrecht einräumen? Wenn das Opfer tatsächlich zum Erlösungsplan gehört und verdienstvoll sein kann für eine Existenz, die die Gestalt und das Maß der Zeit übersteigt, wird es dann nicht auf einer höheren, überzeitlichen Ebene den Frieden wiederfinden, den wahren, hundertfältigen Frieden des ewigen Lebens (vgl. Mt 19, 29)? Wer den Weg der Nachfolge Christi geht, kann diese vom Glauben getragene Redeweise verstehen (vgl. Mt 19, 11). Und warum sollten wir nicht diesen Weg der Nachfolge gehen? Er, Christus, „ist unser Frieden“ (vgl. Eph 2, 11). Dies ist Unser Wunsch für alle, zu denen diese mit Unserem Segen verbundene Botschaft vom Frieden und vom Leben gelangt!
8. Dezember 1976.