Botschaft zum Weltfriedenstag 2015
BOTSCHAFT DES HEILIGEN VATERS PAPST FRANZISKUS ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 2015
NICHT MEHR KNECHTE, SONDERN BRÜDER
1. Zu Beginn eines neuen Jahres, das wir als Gnade und Geschenk Gottes an die Menschheit annehmen, möchte ich an jeden Mann und jede Frau sowie an alle Völker und Nationen der Welt, an die Staatsoberhäupter und die Regierungschefs und an die Verantwortlichen der verschiedenen Religionen meine herzlichen Friedenswünsche richten, begleitet von meinem Gebet, dass die Kriege, die Konflikte und die vielen Leiden enden mögen, welche sowohl von Menschenhand als auch durch alte und neue Epidemien und durch die verheerenden Auswirkungen der Naturkatastrophen verursacht werden. Besonders bete ich dafür, dass wir – entsprechend unserer gemeinsamen Berufung, mit Gott und mit allen Menschen guten Willens für die Förderung von Eintracht und Frieden in der Welt zusammenzuarbeiten – bewusst der Versuchung widerstehen, uns in einer Weise zu verhalten, die der Würde unseres Menschseins nicht gerecht wird.
In der Botschaft zum vergangenen 1. Januar hatte ich gesagt, dass zum » Wunsch nach einem erfüllten Leben […] ein unstillbares Verlangen nach Brüderlichkeit [gehört], das zu einer Gemeinschaft mit den anderen drängt, in denen wir nicht Feinde oder Konkurrenten sehen, sondern Geschwister, die man aufnimmt und umarmt «.[1] Da der Mensch ein relationales Wesen ist, dazu bestimmt, sich im Zusammenhang zwischenmenschlicher Beziehungen zu verwirklichen, die auf Gerechtigkeit und Liebe ausgerichtet sind, ist es für seine Entwicklung grundlegend, dass seine Würde, seine Freiheit und seine Autonomie anerkannt und geachtet werden. Leider verletzt das immer noch verbreitete Übel der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in schwerwiegender Weise das gemeinschaftliche Leben und die Berufung, von Achtung, Gerechtigkeit und Liebe geprägte zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen. Dieses abscheuliche Phänomen, das dazu führt, die Grundrechte des anderen mit Füßen zu treten und seine Freiheit und seine Würde zu vernichten, nimmt vielfältige Formen an, über die ich einige kurze Überlegungen anstellen möchte, damit wir im Licht des Wortes Gottes in allen Menschen „nicht mehr Knechte, sondern Brüder“ sehen.
Hinhören auf den Plan Gottes für die Menschheit
2. Das Thema, das ich für diese Botschaft gewählt habe, knüpft an den Philemonbrief des heiligen Paulus an. Darin bittet der Apostel seinen Mitarbeiter Philemon, Onesimus, dessen ehemaligen Sklaven, der nun Christ geworden und darum – nach Paulus – würdig ist, als Bruder betrachtet zu werden, wieder aufzunehmen. Der Völkerapostel schreibt: » Vielleicht wurde er nur deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder « (Phlm 15-16). Onesimus ist dadurch, dass er Christ wurde, zum Bruder Philemons geworden. So stellt die Bekehrung zu Christus, der Beginn eines Lebens der Jüngerschaft in Christus, eine neue Geburt dar (vgl. 2 Kor 5,17; 1 Petr 1,3), welche die Brüderlichkeit als grundlegende Bindung des Familienlebens und als Basis des gesellschaftlichen Lebens zu neuem Leben erweckt.
Im Buch Genesis (vgl. 1,27-28) steht, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf und sie segnete, damit sie wachsen und sich vermehren sollten: Er machte Adam und Eva zu Eltern, welche den Segen Gottes, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, Wirklichkeit werden ließen und das erste Bruderpaar, Kain und Abel, zeugten. Kain und Abel sind Brüder, weil sie aus dem gleichen Schoß hervorgegangen sind, und darum haben sie den gleichen Ursprung, die gleiche Natur und die gleiche Würde ihrer Eltern, die als Gottes Abbild und ihm ähnlich erschaffen sind.
Doch die Brüderlichkeit drückt auch die Vielfalt und den Unterschied aus, der unter den Geschwistern besteht, obwohl sie durch die Geburt verbunden sind und die gleiche Natur und die gleiche Würde besitzen. Als Brüder und Schwestern stehen also alle Menschen von Natur aus in Beziehung zu den anderen, von denen sie sich unterscheiden, mit denen sie aber in Bezug auf Ursprung, Natur und Würde gleich sind. Kraft dieser Tatsache bildet die Brüderlichkeit das Netz grundlegender Beziehungen für den Aufbau der von Gott erschaffenen Menschheitsfamilie.
Leider steht zwischen der ersten Schöpfung, die im Buch Genesis erzählt wird, und der neuen Geburt in Christus, welche die Gläubigen zu Brüdern und Schwestern des » Erstgeborenen von vielen Brüdern « (Röm 8,29) macht, die negative Wirklichkeit der Sünde, die immer wieder die kreatürliche Brüderlichkeit unterbricht und ständig die Schönheit und den Adel, Brüder und Schwestern der einen Menschheitsfamilie zu sein, entstellt. Kain erträgt nicht nur nicht seinen Bruder Abel, sondern aus Neid tötet er ihn und begeht damit den ersten Brudermord. » Der Mord an Abel durch Kain bestätigt in tragischer Weise die radikale Ablehnung der Berufung, Brüder zu sein. Ihre Geschichte (vgl. Gen 4,1-16) verdeutlicht die schwierige Aufgabe, zu der alle Menschen gerufen sind, nämlich vereint zu leben und füreinander zu sorgen. «[2]
Auch in der Geschichte der Familie Noachs und seiner Söhne (vgl. Gen 9,18-27) ist es der Frevel Hams gegenüber seinem Vater Noach, der diesen dazu treibt, seinen ehrfurchtslosen Sohn zu verfluchen und die anderen, die ihn geehrt hatten, zu segnen und damit eine Ungleichheit zwischen Brüdern zu schaffen, die demselben Mutterschoß entstammten.
In der Erzählung von den Ursprüngen der Menschheitsfamilie wird die Sünde der Entfernung von Gott, von der Figur des Vaters und vom Bruder zum Ausdruck der Verweigerung der Gemeinschaft und führt zur Kultur der Verknechtung (vgl. Gen 9,25-27), mit den dazugehörenden Folgen, die von Generation zu Generation fortdauern: Ablehnung des anderen, Misshandlung von Menschen, Verletzung der Würde und der Grundrechte, Institutionalisierung der Ungleichheiten. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit einer ständigen Umkehr zum Bund, der durch das Kreuzesopfer Christi erfüllt wurde. Dabei haben wir die Zuversicht, dass » wo … die Sünde mächtig wurde, … die Gnade übergroß geworden [ist] … durch Jesus Christus« (Röm 5,20.21). Er, der » geliebte Sohn « (vgl. Mt 3,17), ist gekommen, um die Liebe des Vaters zur Menschheit zu offenbaren. Jeder, der das Evangelium hört und dem Aufruf zur Umkehr Folge leistet, wird für Jesus » Bruder und Schwester und Mutter « (Mt 12,50) und daher Adoptivsohn bzw. -tochter seines Vaters (vgl. Eph 1,5).
Man wird jedoch nicht Christ, Sohn oder Tochter des Vaters und Bruder bzw. Schwester Christi durch eine autoritäre göttliche Anordnung, ohne den Gebrauch der persönlichen Freiheit, das heißt ohne sich freiwillig zu Christus zu bekehren. Kind Gottes wird, wer der Aufforderung zur Umkehr Folge leistet: » Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen « (Apg 2,38). Alle, die auf diese Predigt von Petrus mit dem Glauben und mit ihrem Leben geantwortet haben, sind in die Brüderlichkeit der ersten christlichen Gemeinschaft eingetreten (vgl. 1 Petr 2,17; Apg 1,15.16; 6,3; 15,23): Juden und Griechen, Sklaven und Freie (vgl.1 Kor 12,13; Gal 3,28), deren Verschiedenheit in Bezug auf ihre Herkunft und ihren gesellschaftlichen Stand nicht die Würde jedes Einzelnen schmälert, noch irgendjemanden aus der Zugehörigkeit zum Volk Gottes ausschließt. Die christliche Gemeinde ist also der Ort der in der Liebe gelebten Gemeinschaft unter Geschwistern (vgl. Röm 12,10; 1 Thess 4,9; Hebr 13,1; 1 Petr 1,22; 2 Petr 1,7).
All das zeigt, wie die Frohe Botschaft Jesu Christi, durch den Gott » alles neu « macht (Offb 21,5)[3], auch imstande ist, die Beziehungen zwischen den Menschen wieder in Ordnung zu bringen, einschließlich der zwischen einem Sklaven und seinem Herrn, indem sie das hervorhebt, was beiden gemeinsam ist: die Adoptivkindschaft und die geschwisterliche Bindung in Christus. Jesus selbst sagte zu seinen Jüngern: » Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe « (Joh 15,15).
Die vielfältigen Gesichter der Sklaverei gestern und heute
3. Seit unerdenklichen Zeiten kennen die verschiedenen menschlichen Gesellschaften das Phänomen der Verknechtung des Menschen durch den Menschen. Es gab Epochen in der Geschichte der Menschheit, in denen die Einrichtung der Sklaverei allgemein akzeptiert und durch das Recht geregelt war. Dieses schrieb fest, wer frei und wer dagegen als Sklave geboren wurde und unter welchen Bedingungen ein als Freier geborener Mensch seine Freiheit verlieren bzw. wiedererwerben konnte. Mit anderen Worten, das Recht selbst ließ zu, dass einige Menschen als Eigentum eines anderen betrachtet werden konnten oder mussten, der frei über sie verfügen konnte; der Sklave konnte verkauft und gekauft, an andere abgetreten und erworben werden, als sei er eine Ware.
Heute ist infolge einer positiven Entwicklung des Bewusstseins der Menschheit die Sklaverei, ein Verbrechen gegen die Menschheit,[4] weltweit formell abgeschafft. Das Recht eines jeden Menschen, nicht in Sklaverei oder Knechtschaft gehalten zu werden, ist im Völkerrecht als unabdingbarer Grundsatz anerkannt.
Doch obwohl die internationale Gesellschaft zahlreiche Abkommen getroffen hat mit dem Ziel, der Sklaverei in all ihren Formen ein Ende zu setzen, und verschiedene Strategien eingeleitet hat, um dieses Phänomen zu bekämpfen, werden noch heute Millionen Menschen – Kinder, Männer und Frauen jeden Alters – ihrer Freiheit beraubt und gezwungen, unter Bedingungen zu leben, die denen der Sklaverei vergleichbar sind.
Ich denke an viele – auch minderjährige – Arbeiter und Arbeiterinnen, die in den verschiedenen Bereichen sowohl auf vertraglicher Ebene als auch inoffiziell geknechtet sind – von der häuslichen bis zur landwirtschaftlichen Arbeit, vom Einsatz in der verarbeitenden Industrie bis zu dem im Bergbau, sowohl in den Ländern, in denen das Arbeitsrecht nicht mit den internationalen Minimalstandards übereinstimmt, als auch – obschon illegal – in denen, deren Gesetzgebung den Arbeiter schützt.
Ich denke auch an die Lebensbedingungen vieler Migranten, die auf ihrem dramatischen Weg Hunger leiden, ihrer Freiheit beraubt werden, die um ihr Hab und Gut gebracht oder physisch und sexuell missbraucht werden. Ich denke an diejenigen unter ihnen, die, nach schwerster, von Angst und Unsicherheit geprägter Reise ans Ziel gelangt, unter manchmal unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden. Ich denke an diejenigen unter ihnen, die durch die verschiedenen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände in die Illegalität gedrängt werden, und an diejenigen, die, um in der Legalität zu bleiben, akzeptieren, unter unwürdigen Bedingungen zu leben und zu arbeiten, besonders wenn die nationalen Gesetze eine strukturelle Abhängigkeit des Wanderarbeiters vom Arbeitgeber schaffen oder zulassen, indem sie zum Beispiel die Aufenthaltsgenehmigung vom Arbeitsvertrag abhängig machen… Ja, ich denke an „Sklavenarbeit“.
Ich denke an die Menschen, die zur Prostitution gezwungen werden, unter denen viele Minderjährige sind, und an die sexuellen Slavinnen und Sklaven; an die Frauen, die zur Heirat genötigt werden, an diejenigen, die im Hinblick auf die Ehe verkauft werden, oder an die, welche beim Tod ihres Ehemannes als Erbe einem Familienangehörigen übergeben werden, ohne das Recht zu haben, ihr Einverständnis zu geben oder zu verweigern.
Unmöglich kann ich die Minderjährigen und Erwachsenen übergehen, die als Handelsware verschachert werden für die Explantation von Organen, um als Soldaten rekrutiert zu werden, um zu betteln, um illegale Aktivitäten wie die Herstellung oder den Verkauf von Drogen auszuüben, oder für verschleierte Formen internationaler Adoption.
Schließlich denke ich an alle, die von terroristischen Gruppen entführt, in Gefangenschaft gehalten und deren Zwecken unterworfen werden als Kämpfer oder – was vor allem die Mädchen und die Frauen betrifft – als sexuelle Sklavinnen. Viele von ihnen verschwinden, einige werden immer wieder verkauft, misshandelt, verstümmelt oder getötet.
Einige tiefe Ursachen der Sklaverei
4. Heute wie gestern liegt an der Wurzel der Sklaverei ein Verständnis vom Menschen, das die Möglichkeit zulässt, ihn wie einen Gegenstand zu behandeln. Wenn die Sünde das Herz des Menschen verdirbt und es von seinem Schöpfer und seinen Mitmenschen entfernt, werden Letztere nicht mehr als Wesen gleicher Würde, als Brüder und Schwestern im Menschsein wahrgenommen, sondern als Objekte betrachtet. Der Mensch, der als Abbild Gottes und ihm ähnlich erschaffen ist, wird mit Gewalt, mit List oder durch physischen bzw. psychologischen Zwang seiner Freiheit beraubt, kommerzialisiert und zum Eigentum eines anderen herabgemindert; er wird als Mittel und nicht als Zweck behandelt.
Neben dieser ontologischen Ursache – die Ablehnung des Menschseins des anderen – tragen noch weitere Ursachen zur Erklärung der heutigen Formen von Sklaverei bei. Unter diesen denke ich vor allem an die Armut, die Unterentwicklung und die Ausschließung, besonders wenn sie sich mit einem fehlenden Zugang zur Ausbildung oder mit einer Situation verbinden, die durch spärliche, wenn nicht sogar fehlende Arbeitsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Nicht selten sind die Opfer des Handels und der Verknechtung Menschen, die einen Weg gesucht haben, aus einer Lage extremer Armut auszubrechen. Dabei haben sie häufig falschen Verheißungen einer Arbeit Glauben geschenkt und sind stattdessen in die Hände der kriminellen Netze gefallen, die den Menschenhandel betreiben. Diese Netze bedienen sich geschickt der modernen Informationstechnologien, um junge und sehr junge Menschen aus aller Welt anzulocken.
Auch die Korruption derer, die zu allem bereit sind, um sich zu bereichern, ist zu den Ursachen der Sklaverei zu zählen. Tatsächlich verlangen die Verknechtung und der Handel von Menschen eine Komplizenschaft, die oft ihren Weg über die Korruption der Mittelsmänner nimmt – einige Mitglieder der Ordnungskräfte oder anderer staatlicher Akteure oder verschiedener ziviler und militärischer Einrichtungen. » Das passiert, wenn im Zentrum eines Wirtschaftssystems der Götze Geld steht und nicht der Mensch, die menschliche Person. Ja, im Zentrum jedes sozialen oder wirtschaftlichen Systems muss der Mensch stehen, das Ebenbild Gottes, geschaffen, um Herr des Universums zu sein. Wenn die Person beiseite geschoben wird und der Götze Geld ins Spiel kommt, dann werden die Werte über den Haufen geworfen. «[5]
Weitere Ursachen der Sklaverei sind die bewaffneten Konflikte, die Gewalt, die Kriminalität und der Terrorismus. Zahlreiche Menschen werden entführt, um verkauft oder als Kämpfer rekrutiert oder sexuell ausgebeutet zu werden, während andere sich gezwungen sehen, auszuwandern und ihren ganzen Besitz zu verlassen: Grund und Boden, Haus, Eigentum und auch die Angehörigen. Sie stehen unter dem Druck, eine Alternative zu diesen schrecklichen Bedingungen zu suchen, auch auf die Gefahr hin, ihre Würde und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, und riskieren, auf diese Weise in jenen Teufelskreis zu geraten, der sie zum Opfer von Elend und Korruption und deren unheilvollen Folgen macht.
Ein gemeinsamer Einsatz, um die Sklaverei zu überwinden
5. Wenn man das Phänomen des Menschenhandels, des illegalen Transports von Migranten und anderer bekannter wie unbekannter Gesichter der Sklaverei betrachtet, hat man oft den Eindruck, dass es unter allgemeiner Gleichgültigkeit stattfindet.
Auch wenn das leider großenteils zutrifft, möchte ich doch an die enorme Arbeit erinnern, die viele – besonders weibliche – Ordensgemeinschaften seit vielen Jahren im Stillen für die Opfer vollbringen. Diese Institute wirken in schwierigen, manchmal von der Gewalt beherrschten Umfeldern und versuchen, die unsichtbaren Ketten zu sprengen, mit denen die Opfer an ihre Händler und Ausbeuter gefesselt sind – Ketten, deren Maschen aus feinen psychologischen Mechanismen bestehen, welche die Opfer von ihren Peinigern abhängig machen durch Erpressung und Drohung ihnen und ihren Lieben gegenüber, aber auch durch materielle Mittel wie die Einziehung der Ausweise und die physische Gewalt. Die Tätigkeit der Ordensgemeinschaften gliedert sich hauptsächlich um drei Einsatzbereiche: die Hilfe für die Opfer, ihre Rehabilitation unter psychologischem und formativem Gesichtspunkt sowie ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft ihres Ziel- oder ihres Herkunftslandes.
Diese ungeheure Arbeit, die Mut, Geduld und Ausdauer erfordert, verdient die Würdigung der ganzen Kirche und der Gesellschaft. Doch sie allein kann natürlich nicht genügen, um dem Übel der Ausbeutung des Menschen ein Ende zu setzen. Es bedarf auch eines dreifachen Einsatzes auf institutioneller Ebene in der Vorbeugung, im Schutz der Opfer und in einem gerichtlichen Vorgehen gegen die Verantwortlichen. Und wie die kriminellen Organisationen sich globaler Netze bedienen, um ihre Ziele zu erreichen, so erfordert die Aktion zur Überwindung dieses Phänomens außerdem eine gemeinsame ebenso globale Anstrengung seitens der verschiedenen Akteure, welche die Gesellschaft bilden.
Die Staaten müssten darüber wachen, dass ihre nationale Gesetzgebung zur Migration, zur Arbeit, zu Adoptionen, zur Standortverlagerung der Unternehmen und zur Vermarktung von Produkten, die durch die Ausbeutung der Arbeit hergestellt werden, wirklich die Würde der Person achten. Es sind gerechte Gesetze notwendig, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, seine Grundrechte verteidigen und sie im Fall ihrer Verletzung wiederherstellen, indem sie die Opfer rehabilitieren und ihnen die Unversehrtheit gewährleisten. Außerdem bedarf es wirksamer Kontrollmechanismen für die korrekte Anwendung dieser Vorschriften, die keinen Raum lassen für Korruption und Straffreiheit. Zudem ist es notwendig, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft anerkannt wird; um diesbezüglich die erhofften Ergebnisse zu erzielen, muss auch auf kultureller Ebene sowie im Bereich der Kommunikation gearbeitet werden.
Die zwischenstaatlichen Organisationen sind gemäß dem Prinzip der Subsidiarität berufen, aufeinander abgestimmte Initiativen durchzuführen, um die nationenübergreifenden Netze der organisierten Kriminalität zu bekämpfen, welche den Menschenhandel und den illegalen Transport der Migranten betreiben. Es ist eine Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen notwendig, und zwar so, dass sie die nationalen und internationalen Institutionen ebenso einschließt wie die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Welt des Unternehmertums.
Die Unternehmen[6] haben nämlich die Pflicht, ihren Angestellten würdige Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne zu garantieren, aber auch darüber zu wachen, dass in den Verteilerketten keine Formen von Verknechtung oder Menschenhandel vorkommen. Mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens geht dann die soziale Verantwortung des Verbrauchers einher. In der Tat müsste jeder Mensch sich bewusst sein, » dass das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist«.[7]
Die Organisationen der Zivilgesellschaft haben ihrerseits die Aufgabe, die Gewissen zu sensibilisieren und sie zu den Schritten anzuregen, die notwendig sind, um der Kultur der Verknechtung entgegenzuwirken und sie auszurotten.
In den letzten Jahren hat der Heilige Stuhl den schmerzvollen Aufschrei der Opfer des Menschenhandels und die Stimme der Ordenskongregationen, die sie in die Freiheit begleiten, aufgegriffen und seine Appelle an die internationale Gemeinschaft vervielfacht, damit die verschiedenen Akteure ihre Bemühungen miteinander verknüpfen und zusammenarbeiten, um diesem Übel ein Ende zu setzen.[8] Außerdem wurden einige Treffen organisiert mit dem Ziel, das Phänomen des Menschenhandels ins Rampenlicht zu rücken und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure – unter anderem Sachverständige aus dem Bereich der Wissenschaft und der internationalen Organisationen, Ordnungskräfte verschiedener Herkunfts-, Durchgangs- und Zielländer der Migranten und Vertreter der kirchlichen Gruppen, die sich für die Opfer einsetzen – zu erleichtern. Ich hoffe, dass dieser Einsatz in den kommenden Jahren fortgesetzt und verstärkt wird.
Die Brüderlichkeit globalisieren, nicht die Sklaverei noch die Gleichgültigkeit
6. In ihrem Werk der » Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft«[9] engagiert sich die Kirche ständig in den Tätigkeiten karitativer Art auf der Basis der Wahrheit über den Menschen. Sie hat die Aufgabe, allen den Weg zur Umkehr zu zeigen, die dazu anregt, den Nächsten mit anderen Augen zu sehen, im anderen, wer immer er sei, einen Bruder und eine Schwester im Menschsein zu erkennen und ihm seine innere Würde in der Wahrheit und in der Freiheit zuzugestehen. Das zeigt uns die Geschichte der Giuseppina Bakhita, der Heiligen aus der Region Darfur im Sudan. Sie wurde von Sklavenhändlern entführt und im Alter von neun Jahren an grausame Herren verkauft. Auf dem Weg über schmerzliche Erfahrungen wurde sie dann durch den Glauben, den sie als Ordensfrau und im Dienst an den anderen – besonders den Geringen und Schwachen – lebte, eine „freie Tochter Gottes“. Diese Heilige, die an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte, ist auch heute eine beispielhafte Zeugin der Hoffnung[10] für die zahlreichen Opfer der Sklaverei und kann die Bemühungen all derer unterstützen, die sich dem Kampf gegen diese » Wunde im Leib der heutigen Menschheit « widmen, » eine Wunde im Fleisch Christi «.[11]
In dieser Perspektive möchte ich jeden einladen, in seiner Rolle und seinen besonderen Verantwortlichkeiten Gesten der Brüderlichkeit denen gegenüber zu vollbringen, die in einem Zustand der Verknechtung gehalten werden. Fragen wir uns, wie wir uns als Gemeinschaft oder als Einzelne angefragt fühlen, wenn wir im Alltag Menschen begegnen oder mit ihnen zu tun haben, die Opfer des Menschenhandels sein könnten, oder wenn wir entscheiden müssen, ob wir Produkte kaufen, die aus gutem Grund vermuten lassen, dass sie durch die Ausbeutung anderer Menschen hergestellt worden sind. Einige von uns schließen aus Gleichgültigkeit oder weil sie durch die täglichen Sorgen abgelenkt sind oder aus finanziellen Gründen die Augen. Andere entscheiden sich hingegen, etwas Positives zu tun, sich in den Vereinen der Zivilgesellschaft zu engagieren oder kleine alltägliche Gesten zu vollbringen, wie zum Beispiel ein gutes Wort, einen Gruß, ein „Guten Tag“ oder ein Lächeln. Wie wertvoll sind diese Gesten! Sie kosten uns nichts, können aber Hoffnung geben, Wege öffnen, einem Menschen, der in der Unsichtbarkeit lebt, das Leben verändern und auch unser Leben in der Gegenüberstellung mit dieser Wirklichkeit verändern.
Wir müssen zugeben, dass wir vor einem weltweiten Phänomen stehen, das über die Zuständigkeiten einer einzelnen Gemeinschaft oder Nation hinausgeht. Um es zu überwinden, bedarf es einer Mobilisierung von vergleichbaren Ausmaßen wie denen des Phänomens selbst. Aus diesem Grund richte ich einen eindringlichen Appell an alle Männer und Frauen guten Willens und an alle, die aus der Nähe oder aus der Ferne – auch in den höchsten Ebenen der Institutionen – Zeugen der Plage der heutigen Sklaverei sind, nicht zu Komplizen dieses Übels zu werden, angesichts der Leiden ihrer Brüder und Schwestern im Menschsein, die ihrer Freiheit und ihrer Würde beraubt sind, nicht wegzuschauen, sondern den Mut zu haben, mit dem leidenden Leib Christi in Berührung zu kommen[12], der sich in den zahllosen Gesichtern derer zeigt, die er selbst seine » geringsten Brüder « nennt (Mt 25,40.45).
Wir wissen, dass Gott jeden von uns fragen wird: „Was hast du mit deinem Bruder gemacht?“ (vgl. Gen 4,9-10). Die Globalisierung der Gleichgültigkeit, die heute auf dem Leben so vieler Schwestern und Brüder lastet, verlangt von uns allen, zu Urhebern einer Globalisierung der Solidarität und der Brüderlichkeit zu werden, die ihnen die Hoffnung zurückgeben und ihnen helfen kann, mutig den Weg durch die Probleme unserer Zeit wieder aufzunehmen und die neuen Perspektiven wiederzugewinnen, die er mit sich bringt und die Gott in unsere Hände legt.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2014
FRANZISKUS
[1] Nr. 1.
[2] Botschaft zum Weltfriedenstag 2014, 2.
[3] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 11.
[4] Vgl. Ansprache an eine Delegation der internationalen Strafrechtsgesellschaft (AIDP) (23. Oktober 2014).
[5] Ansprache an die Teilnehmer am internationalen Treffen der Volksbewegungen (28. Oktober 2014).
[6] Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, La vocazione del leader d’impresa. Una riflessione [Die Berufung zum Unternehmensleiter. Eine Überlegung], Mailand und Rom, 2013.
[7]Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 66.
[8] Vgl. Botschaft an Herrn Guy Ryder, Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, anlässlich der 103. Sitzung der Konferenz der ILO (22. Mai 2014).
[9] Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 5.
[10] » Durch diese Hoffnungserkenntnis war sie "erlöst", nun keine Sklavin mehr, sondern freies Kind Gottes. Sie verstand, was Paulus sagte, wenn er die Epheser daran erinnerte, dass sie vorher ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt gewesen waren – ohne Hoffnung, weil ohne Gott « (Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 3).
[11] Ansprache an die Teilnehmer der II. Internationalen Konferenz Combating Human Trafficking: Church and Law Enforcement in partnership (10. April 2014); vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 270.
[12] Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium 24; 270.