Botschaft zum Weltfriedenstag 2012
BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 2012
DIE JUNGEN MENSCHEN ZUR GERECHTIGKEIT UND ZUM FRIEDEN ERZIEHEN
1. Der Anfang eines neuen Jahres, das ein Geschenk Gottes an die Menschheit ist, regt mich an, von Herzen und mit großer Zuversicht an alle einen besonderen Glückwunsch zu richten für diese Zeit, die vor uns liegt, daß sie konkret von Gerechtigkeit und Frieden geprägt sei.
Mit welcher Einstellung soll man auf das neue Jahr schauen? In Psalm 130 finden wir ein sehr schönes Bild. Der Psalmist sagt, daß der gläubige Mensch auf den Herrn wartet, „mehr als die Wächter auf den Morgen“ (V. 6); er erwartet ihn mit fester Hoffnung, denn er weiß, daß er Licht, Barmherzigkeit, Heil bringen wird. Diese Erwartung geht aus der Erfahrung des auserwählten Volkes hervor, das erkennt, von Gott dazu erzogen zu sein, die Welt in ihrer Wahrheit zu sehen und sich von den Nöten nicht niederschlagen zu lassen. Ich lade euch ein, mit dieser zuversichtlichen Einstellung auf das Jahr 2012 zu schauen. Es stimmt, daß im zu Ende gehenden Jahr das Gefühl der Frustration zugenommen hat durch die Krise, welche die Gesellschaft, die Arbeitswelt und die Wirtschaft bedrängt – eine Krise, deren Wurzeln vor allem kultureller und anthropologischer Art sind. Es scheint beinahe, als habe ein dichter Schleier unsere Zeit in Dunkelheit gehüllt und erlaube nicht, das Tageslicht deutlich zu erkennen.
In dieser Dunkelheit hört jedoch das Herz des Menschen nicht auf, das Morgenrot zu erwarten, von dem der Psalmist spricht. Diese Erwartung ist bei den jungen Menschen besonders lebendig und augenscheinlich, und deshalb wenden sich meine Gedanken an sie, in Anbetracht des Beitrags, den sie für die Gesellschaft leisten können und müssen. So möchte ich die Botschaft zum 45. Weltfriedenstag unter dem Aspekt der Erziehung vorstellen: „Die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden erziehen“, in der Überzeugung, daß sie mit ihrer Begeisterung und ihrem idealistischen Ansporn der Welt eine neue Hoffnung geben können.
Meine Botschaft richtet sich auch an die Eltern, die Familien, an alle, die mit der Erziehung und der Ausbildung betraut sind, sowie an die Verantwortlichen in den verschiedenen Bereichen des religiösen, gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Lebens und in dem Bereich der Kommunikation. Aufmerksam auf die Welt der Jugend sein und es verstehen, sie anzuhören und zur Geltung zu bringen, ist nicht nur zweckmäßig, sondern es ist eine Hauptaufgabe der ganzen Gesellschaft für den Aufbau einer Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden. Es geht darum, den jungen Menschen die Wertschätzung für die positive Bedeutung des Lebens zu vermitteln, indem man in ihnen den Wunsch weckt, es für den Dienst am Guten einzusetzen. Das ist eine Aufgabe, in der wir alle persönlich gefordert sind.
Die in letzter Zeit von vielen Jugendlichen in verschiedenen Regionen der Welt geäußerten Sorgen drücken den Wunsch aus, mit begründeter Hoffnung in die Zukunft schauen zu können. Im gegenwärtigen Augenblick gibt es viele Aspekte, die sie mit Besorgnis erfüllen: der Wunsch, eine Ausbildung zu erhalten, die sie gründlicher darauf vorbereitet, sich der Wirklichkeit zu stellen; die Schwierigkeit, eine Familie zu bilden und einen sicheren Arbeitsplatz zu finden; die effektive Fähigkeit, einen Beitrag zur Welt der Politik, der Kultur und der Wirtschaft zu leisten für die Bildung einer Gesellschaft, deren Gesicht menschlicher und solidarischer ist. Es ist wichtig, daß diese Fermente und der idealistische Antrieb, den sie enthalten, in allen Teilen der Gesellschaft die gebührende Aufmerksamkeit finden. Die Kirche sieht voller Hoffnung auf die Jugendlichen, sie vertraut ihnen und ermutigt sie, nach der Wahrheit zu suchen, das Gemeinwohl zu verteidigen, weltoffene Perspektiven zu haben und Augen, die fähig sind, „Neues“ zu sehen (Jes 42,9; 48,6)!
Die für die Erziehung Verantwortlichen
2. Die Erziehung ist das faszinierendste und schwierigste Abenteuer des Lebens. Erziehen – lateinisch educere – bedeutet, einen Menschen über sich selbst hinauszuführen, um ihn in die Wirklichkeit einzuführen, in eine Fülle, die ihn wachsen läßt. Dieser Prozeß wird gespeist durch die Begegnung zweier Freiheiten, der des Erwachsenen und der des Jugendlichen. Er verlangt die Verantwortung des Schülers, der offen sein muß, sich zur Erkenntnis der Wirklichkeit führen zu lassen, und die des Erziehers, der bereit sein muß, sich selbst zu verschenken. Daher sind vor allem authentische Zeugen notwendig und nicht bloße Austeiler von Regeln und Informationen; Zeugen, die weiter zu blicken vermögen als die anderen, weil ihr Leben weitere Räume umfaßt. Zeuge ist derjenige, der den Weg, den er vorschlägt, zuerst einmal vorlebt.
Welches sind die Orte, an denen eine wirkliche Erziehung zum Frieden und zur Gerechtigkeit reift? Vor allem die Familie, denn die Eltern sind die ersten Erzieher. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. „In der Familie erlernen die Kinder die menschlichen und christlichen Werte, die ein konstruktives und friedliches Zusammenleben gestatten. In der Familie lernt man die Solidarität zwischen den Generationen, die Achtung der Regeln, die Vergebung und die Annahme des anderen“.[1] Sie ist die erste Schule, in der man zur Gerechtigkeit und zum Frieden erzogen wird.
Wir leben in einer Welt, in der die Familie und auch das Leben selbst ständig bedroht und nicht selten zerbrochen bzw. aufgesplittert ist. Arbeitsbedingungen, die oft kaum mit der familiären Verantwortung in Übereinstimmung gebracht werden können, Sorgen um die Zukunft, frenetische Lebensrhythmen, Migrationen auf der Suche nach einem angemessenen Unterhalt, wenn nicht nach dem bloßen Überleben erschweren schließlich die Möglichkeit, den Kindern eines der kostbarsten Güter zu sichern: die Anwesenheit der Eltern – eine Anwesenheit, die ein immer tieferes Miteinander auf dem Weg erlaubt, um jene Erfahrung und jene im Laufe der Jahre gewonnenen Sicherheiten weitergeben zu können, die man nur mit der gemeinsam verbrachten Zeit vermitteln kann. Den Eltern möchte ich nahelegen, nicht den Mut zu verlieren! Mit dem Beispiel ihres Lebens sollen sie ihre Kinder ermuntern, die Hoffnung vor allem auf Gott zu setzen, von dem allein echte Gerechtigkeit und echter Friede ausgehen.
Ich möchte mich auch an die Verantwortlichen der Einrichtungen wenden, die Erziehungsaufgaben haben: Sie mögen mit großem Verantwortungsgefühl darüber wachen, daß die Würde jeder Person unter allen Umständen geachtet und zur Geltung gebracht wird. Durch eine Begleitung, welche die Gaben fruchtbar werden läßt, die der Herr einem jeden gewährt hat, mögen sie dafür Sorge tragen, daß jeder junge Mensch seine persönliche Berufung entdecken kann. Sie sollen den Familien die Sicherheit geben, daß ihren Kindern ein Bildungsweg geboten wird, der nicht im Gegensatz zu ihrem Gewissen und ihren religiösen Prinzipien steht.
Möge jeder Bereich pädagogischer Arbeit ein Ort der Offenheit gegenüber dem Transzendenten und gegenüber den anderen sein; ein Ort des Dialogs, des Zusammenhalts und des Hörens, in dem der Jugendliche spürt, daß seine persönlichen Möglichkeiten und inneren Werte zur Geltung gebracht werden, und lernt, seine Mitmenschen zu schätzen. Mögen sie dazu anleiten, die Freude zu empfinden, die daraus entspringt, daß man Tag für Tag Liebe und Mitgefühl gegenüber dem Nächsten praktiziert und sich aktiv am Aufbau einer menschlicheren und brüderlicheren Gesellschaft beteiligt.
Sodann wende ich mich an die Verantwortlichen in der Politik und fordere sie auf, den Familien und den Erziehungseinrichtungen konkret zu helfen, ihr Recht der Erziehung, das zugleich eine Pflicht ist, wahrzunehmen. Niemals darf es an einer angemessenen Unterstützung der Mutter- und Vaterschaft fehlen. Die Politiker mögen dafür sorgen, daß niemandem der Zugang zur Ausbildung verweigert wird und daß die Familien frei die Erziehungseinrichtungen wählen können, die sie für das Wohl ihrer Kinder als am besten geeignet ansehen. Sie mögen sich dafür einsetzen, die Zusammenführung jener Familien zu fördern, die aufgrund der Notwendigkeit, ihren Unterhalt zu bestreiten, getrennt sind. Den jungen Menschen sollen sie ein lauteres Bild der Politik als eines wahren Dienstes für das Wohl aller bieten. Außerdem kann ich nicht umhin, an die Welt der Medien zu appellieren, ihren erzieherischen Beitrag zu leisten. In der heutigen Gesellschaft kommt den Massenkommunikationsmitteln eine besondere Rolle zu: Sie informieren nicht nur den Geist ihrer Adressaten, sondern sie formen ihn auch und können folglich beträchtlich zur Erziehung der Jugendlichen beitragen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die Verbindung zwischen Erziehung und Kommunikation äußerst eng ist: Die Erziehung ereignet sich ja durch Kommunikation, welche die Bildung des Menschen positiv oder negativ beeinflußt. Auch die Jugendlichen müssen den Mut haben, zuallererst selber das zu leben, was sie von ihrer Umgebung fordern. Es ist eine große Verantwortung, die sie betrifft: Sie sollen die Kraft haben, ihre Freiheit in guter und verantwortungsvoller Weise zu gebrauchen. Auch sie sind verantwortlich für ihre Erziehung und Bildung zur Gerechtigkeit und zum Frieden!
Zur Wahrheit und zur Freiheit erziehen
3. Der heilige Augustinus hat sich gefragt: „Quid enim fortius desiderat anima quam veritatem? – Was ersehnt der Mensch stärker als die Wahrheit?“[2] Das menschliche Gesicht einer Gesellschaft hängt sehr vom Beitrag der Erziehung ab, diese nicht zu unterdrückende Frage lebendig zu erhalten. Denn die Erziehung betrifft die ganzheitliche Bildung des Menschen, einschließlich der moralischen und spirituellen Dimension des Seins, im Hinblick auf sein letztes Ziel und auf das Wohl der Gesellschaft, deren Glied er ist. Darum muß man, um zur Wahrheit zu erziehen, zunächst einmal wissen, was der Mensch ist, muß man seine Natur kennen. Bei der Betrachtung dessen, was ihn umgibt, überlegt der Psalmist: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,4-5). Das ist die grundlegende Frage, die man sich stellen muß: Was ist der Mensch? Der Mensch ist ein Wesen, das einen Durst nach Unendlichkeit im Herzen trägt, einen Durst nach Wahrheit – nicht nach einer Teilwahrheit, sondern nach der Wahrheit, die den Sinn des Lebens zu erklären vermag –, denn er ist als Gottes Abbild und ihm ähnlich erschaffen worden. Dankbar das Leben als unschätzbares Geschenk zu erkennen führt also zur Entdeckung der eigenen inneren Würde und der Unantastbarkeit jedes Menschen. Darum besteht die erste Erziehung darin zu lernen, im Menschen das Bild des Schöpfers zu erkennen, folglich eine hohe Achtung für jedes menschliche Wesen zu hegen und den anderen zu helfen, ein dieser höchsten Würde entsprechendes Leben zu verwirklichen. Man darf niemals vergessen, daß „die echte Entwicklung des Menschen einheitlich die Gesamtheit der Person in all ihren Dimensionen betrifft“, einschließlich der transzendenten [3], und daß man nicht den Menschen opfern darf, um ein spezielles Gut – sei es wirtschaftlicher oder sozialer, individueller oder gemeinschaftlicher Art – zu erlangen.
Allein in der Beziehung zu Gott begreift der Mensch auch die Bedeutung der eigenen Freiheit. Und es ist Aufgabe der Erziehung, zu echter Freiheit heranzubilden. Diese besteht nicht im Fehlen von Bindungen oder in der Herrschaft der Willkür, sie ist nicht der Absolutismus des Ich. Der Mensch, der sich selbst absolut setzt, der meint, von nichts und niemandem abhängig zu sein und alles tun zu können, was er will, widerspricht letztlich der Wahrheit seines eigenen Seins und verliert seine Freiheit. Der Mensch ist vielmehr ein relationales Wesen, das in Beziehung zu den anderen und vor allem zu Gott lebt. Die echte Freiheit kann niemals erreicht werden, indem man sich von Gott entfernt.
Die Freiheit ist ein kostbarer, aber heikler Wert; sie kann mißverstanden und mißbraucht werden. „Ein besonders tückisches Hindernis für die Erziehungsarbeit stellt heute in unserer Gesellschaft und Kultur das massive Auftreten jenes Relativismus dar, der nichts als definitiv anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich mit seinen Gelüsten gelten läßt und unter dem Anschein der Freiheit für jeden zu einem Gefängnis wird, weil er den einen vom anderen trennt und jeden dazu erniedrigt, sich ins eigene »Ich« zu verschließen. Innerhalb eines solchen relativistischen Horizonts ist daher wahre Erziehung gar nicht möglich: Denn ohne das Licht der Wahrheit sieht sich früher oder später jeder Mensch dazu verurteilt, an der Qualität seines eigenen Lebens und der Beziehungen, aus denen es sich zusammensetzt, ebenso zu zweifeln wie an der Wirksamkeit seines Einsatzes dafür, gemeinsam mit anderen etwas aufzubauen“ [4].
Um seine Freiheit auszuüben, muß der Mensch also den relativistischen Horizont überwinden und die Wahrheit über sich selbst und die Wahrheit über Gut und Böse erkennen. Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und dazu, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das getane Böse zu übernehmen.[5] Deswegen ist die Ausübung der Freiheit zuinnerst an das natürliche Sittengesetz gebunden, das universaler Art ist, die Würde eines jeden Menschen ausdrückt, die Basis seiner fundamentalen Rechte und Pflichten und also letztlich des gerechten und friedlichen Zusammenlebens der Menschen bildet. Der rechte Gebrauch der Freiheit steht also im Mittelpunkt der Förderung von Gerechtigkeit und Frieden, welche die Achtung vor sich selbst und gegenüber dem anderen verlangen, auch wenn dieser weit von der eigenen Seins- und Lebensweise abweicht. Aus dieser Haltung entspringen die Elemente, ohne die Frieden und Gerechtigkeit Worte ohne Inhalt bleiben: das gegenseitige Vertrauen, die Fähigkeit, einen konstruktiven Dialog zu führen, die Möglichkeit der Vergebung, die man so viele Male erhalten möchte, sich jedoch schwer tut, sie zu gewähren, die wechselseitige Liebe, das Mitgefühl gegenüber den Schwächsten wie auch die Opferbereitschaft.
Zur Gerechtigkeit erziehen
4. In unserer Welt, in der die Bedeutung der Person, ihrer Würde und ihrer Rechte jenseits der Absichtserklärungen ernstlich bedroht ist durch die verbreitete Tendenz, ausschließlich auf Kriterien der Nützlichkeit, des Profits und des Besitzes zurückzugreifen, ist es wichtig, den Begriff der Gerechtigkeit nicht von seinen transzendenten Wurzeln zu trennen. Die Gerechtigkeit ist ja nicht eine bloße menschliche Vereinbarung, denn was gerecht ist, wird nicht ursprünglich vom positiven Gesetz bestimmt, sondern von der tiefen Identität des Menschen. Es ist die ganzheitliche Anschauung des Menschen, die es erlaubt, nicht in eine vom Vertragsdenken beeinflußte Auffassung der Gerechtigkeit zu verfallen, sondern auch ihr den Horizont der Solidarität und der Liebe zu öffnen.[6]
Wir können nicht übersehen, daß manche Strömungen der modernen Kultur, gestützt auf rationalistische und individualistische Wirtschaftsprinzipien, den Begriff der Gerechtigkeit durch dessen Trennung von der Liebe und der Solidarität seiner transzendenten Wurzeln beraubt haben: „Die »Stadt des Menschen« wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert“.[7]
„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden“ (Mt 5,6). Sie werden satt werden, weil sie hungern und dürsten nach rechten Beziehungen zu Gott, zu sich selbst, zu ihren Mitmenschen und zur gesamten Schöpfung.
Zum Frieden erziehen
5. „Friede besteht nicht einfach darin, daß kein Krieg ist; er läßt sich nicht bloß durch das Gleichgewicht der feindlichen Kräfte sichern. Friede auf Erden herrscht nur dann, wenn die persönlichen Güter gesichert sind, die Menschen frei miteinander verkehren können, die Würde der Personen und der Völker geachtet und die Brüderlichkeit unter den Menschen gepflegt wird“ [8].
Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit und die Wirkung der Liebe. Er ist vor allem ein Geschenk Gottes. Wir Christen glauben, daß Christus unser wahrer Friede ist: In ihm, in seinem Kreuz, hat Gott die Welt mit sich versöhnt und die Schranken zerstört, die uns voneinander trennten (vgl. Eph 2,14-18); in ihm gibt es eine einzige, in der Liebe versöhnte Familie. Doch der Friede ist nicht nur ein Geschenk, das man empfängt, sondern auch ein Werk, das man aufbauen muß. Um wirklich Friedensstifter zu sein, müssen wir uns zum Mitgefühl, zur Solidarität, zur Zusammenarbeit und zur Brüderlichkeit erziehen, in der Gemeinschaft aktiv sein und wachsam, die Gewissen aufzurütteln für die nationalen und internationalen Fragen und für die Wichtigkeit, geeignete Bestimmungen zur Umverteilung der Güter, zur Förderung des Wachstums, zur Zusammenarbeit an der Entwicklung und zur Lösung von Konflikten zu suchen. „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,9).
Der Friede für alle entspringt aus der Gerechtigkeit eines jeden, und niemand kann sich dieser wesentlichen Verpflichtung entziehen, die Gerechtigkeit gemäß den eigenen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu fördern. Besonders die jungen Menschen, in denen das Streben nach den Idealen immer lebendig ist, bitte ich, die Geduld und die Hartnäckigkeit zu haben, die Gerechtigkeit und den Frieden zu suchen, den Geschmack am Gerechten und Wahren zu pflegen, auch wenn das möglicherweise mit Opfern verbunden ist und verlangt, gegen den Strom zu schwimmen.
Die Augen zu Gott erheben
6. Angesichts der schwierigen Herausforderung, die Wege der Gerechtigkeit und des Friedens zu gehen, können wir versucht sein, uns wie der Psalmist zu fragen: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?“ (Ps 121,1).
Zu allen, besonders zu den jungen Menschen möchte ich mit Nachdruck sagen: „Nicht die Ideologien retten die Welt, sondern allein die Hinwendung zum lebendigen Gott, der unser Schöpfer, der Garant unserer Freiheit, der Garant des wirklich Guten und Wahren ist … die radikale Hinwendung zu Gott, der das Maß des Gerechten und zugleich die ewige Liebe ist. Und was könnte uns denn retten wenn nicht die Liebe?“[9] Die Liebe freut sich an der Wahrheit, sie ist die Kraft, die befähigt, sich für die Wahrheit, die Gerechtigkeit, und den Frieden einzusetzen, denn sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand (vgl. 1 Kor 13,1-13).
Liebe junge Freunde, ihr seid ein kostbares Geschenk für die Gesellschaft. Laßt euch angesichts der Schwierigkeiten nicht von der Entmutigung überwältigen, und gebt euch nicht falschen Lösungen hin, die sich oft als der einfachste Weg zur Überwindung der Probleme präsentieren. Scheut euch nicht, euch einzusetzen, Mühen und Opfer auf euch zu nehmen, die Wege zu wählen, die Treue und Beständigkeit, Demut und Hingabe verlangen. Lebt eure Jugend und die tiefe Sehnsucht nach Glück, Wahrheit, Schönheit und echter Liebe, die ihr verspürt, mit Zuversicht! Lebt dieses Lebensalter, das so reich und voller Begeisterung ist, ganz intensiv.
Seid euch bewußt, daß ihr selbst den Erwachsenen Vorbild und Ansporn seid, und das um so mehr, je mehr ihr euch anstrengt, Ungerechtigkeiten und Korruption zu überwinden, je mehr ihr eine bessere Zukunft ersehnt und euch einsetzt, um sie aufzubauen. Seid euch eurer Möglichkeiten bewußt und verschließt euch nie in euch selbst, sondern versteht, für eine Zukunft zu arbeiten, die für alle heller ist. Ihr seid nie allein. Die Kirche vertraut euch, sie begleitet euch, ermutigt euch und möchte euch das wertvollste anbieten, was sie hat: die Möglichkeit, die Augen zu Gott zu erheben, Jesus Christus zu begegnen, dem, der die Gerechtigkeit und der Friede selber ist.
An euch alle, Männer und Frauen, denen die Sache des Friedens am Herzen liegt: Der Friede ist nicht ein schon erreichtes Gut, sondern ein Ziel, das wir alle und jeder einzelne anstreben müssen. Blicken wir mit größerer Hoffnung auf die Zukunft, ermutigen wir uns gegenseitig auf unserem Weg, arbeiten wir, um unserer Welt ein menschlicheres und brüderlicheres Gesicht zu geben, und fühlen wir uns vereint in der Verantwortung für die gegenwärtigen und die kommenden jungen Generationen, besonders indem wir sie dazu erziehen, friedliebend und Friedensstifter zu sein. In diesem Bewußtsein sende ich euch diese Überlegungen und richte meinen Appell an euch: Vereinen wir unsere geistigen, moralischen und materiellen Kräfte, um „die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden zu erziehen“.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2011
BENEDICTUS PP XVI
[1] BENEDIKT XVI., Ansprache an die Verwaltungsmitarbeiter der Region Latium, der Stadt und der Provinz Rom (14. Januar 2011): L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 41, Nr. 4 (28. Januar 2011), S. 7.
[2] Kommentar zum Johannesevangelium, 26,5.
[3] BENEDIKT XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 11: AAS 101 (2009), 648; vgl. PAUL VI., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 14: AAS 59 (1967), 264.
[4] BENEDIKT XVI., Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom zum Thema Familie (Lateranbasilika, 6. Juni 2005): AAS 97 (2005) 816; L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 35, Nr. 24, S. 8.
[5] Vgl. ZWEITES VATIKANISCHES KONZIL, Past. Konst. Gaudium et spes, 16.
[6] Vgl. BENEDIKT XVI., Ansprache an den Bundestag (Berlin, 22. September 2011): L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 41 (2011), Nr. 39 (30. September 2011), S. 4-5.
[7] DERS., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 6: AAS 1101 (2009), 644-645.
[8] Katechismus der Katholischen Kirche, 2304.
[9] Vgl. BENEDIKT XVI., Vigil mit den Jugendlichen (Köln, 20.August 2005): AAS 97 (2005) 885-886; L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 35, Nr. 34, S. 14.