Botschaft zum Weltfriedenstag 1999
BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT JOHANNES PAUL II. ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 1999
IN DER ACHTUNG DER MENSCHENRECHTE LIEGT DAS GEHEIMNIS DES WAHREN FRIEDENS
1. In meiner ersten Enzyklika Redemptor hominis, die ich vor rund zwanzig Jahren an alle Männer und Frauen guten Willens gerichtet habe, unterstrich ich schon die Bedeutung der Achtung der Menschenrechte. Der Frieden wächst, wenn diese Rechte voll geachtet werden, während der Krieg aus der Verletzung dieser Rechte entsteht und noch größere derartige Verletzungen nach sich zieht.(1)
Zu Beginn des neuen Jahres, des letzten vor dem Großen Jubiläum, möchte ich über dieses so außerordentlich wichtige Thema mit euch allen noch einmal nachdenken, mit euch Männern und Frauen in aller Welt, mit euch politischen Verantwortlichen und Religionsführern der Völker, mit euch, die ihr den Frieden liebt und ihn auf der Erde festigen wollt.
Seht, das ist die Überzeugung, die ich euch im Hinblick auf den Weltfriedenstag als Herzensanliegen mitteilen möchte: Wenn die Förderung der Personenwürde das Leitprinzip ist, das uns beseelt, und wenn die Suche des Gemeinwohls die Aufgabe ist, die Vorrang hat, dann werden feste und dauerhafte Grundlagen zum Aufbau des Friedens gelegt. Wenn dagegen die Menschenrechte vernachlässigt oder gar mißachtet werden, wenn die Wahrung von Eigeninteressen gegenüber dem Gemeinwohl ungerechterweise überwiegt, dann werden unweigerlich die Keime für Instabilität, Rebellion und Gewalt gesät.
Achtung der Menschenwürde, Erbe der Menschheit
2. Die Würde der menschlichen Person ist ein transzendenter Wert, der von allen, die ehrlich nach der Wahrheit suchen, stets anerkannt wird. Die gesamte Geschichte der Menschheit sollte eigentlich im Licht dieser Gewißheit gedeutet werden. Da jede Person als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen (vgl. Gen 1, 26-28) und deshalb eindeutig auf ihren Schöpfer hin ausgerichtet ist, steht sie in ständiger Beziehung zu allen, die mit derselben Würde ausgestattet sind. Die Förderung des Wohls des Einzelnen wird so mit dem Dienst am Gemeinwohl verbunden, wenn die Rechte und Pflichten einander entsprechen und sich gegenseitig stärken.
Die Zeitgeschichte hat in tragischer Weise die Gefahr verdeutlicht, die aus der Mißachtung der Wahrheit über die menschliche Person erwächst. Wir haben die Früchte von Ideologien wie die des Marxismus, Nationalsozialismus und Faschismus ebenso vor Augen wie auch die Mythen von Rassismus, Nationalismus und ethnischem Partikularismus. Nicht weniger gefährlich, wenn auch nicht immer so offensichtlich sind die Auswirkungen des materialistischen Konsumismus, in dem die Verherrlichung des Einzelnen und die egozentrische Befriedigung der persönlichen Wünsche zum letzten Lebenszweck werden. In dieser Sicht erscheinen negative Folgen für andere als völlig unerheblich. Dagegen ist zu sagen, daß kein Angriff auf die Menschenwürde unbeachtet bleiben darf – ganz gleich, welche Ursache zugrundeliegt, welche Erscheinungsform er annimmt oder wo er sich zuträgt.
Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte
3. Im Jahre 1998 konnte der 50. Jahrestag der Annahme der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« begangen werden. Sie wurde ausdrücklich mit der Charta der Vereinten Nationen verbunden, da sie vom selben Geist durchdrungen ist. Die grundlegende Voraussetzung für die Erklärung liegt in der Bekräftigung, daß die Anerkennung der angeborenen Würde aller Glieder der Menschheitsfamilie wie auch der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte das Fundament für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt (2) ist. Alle darauf folgenden internationalen Dokumente über die Menschenrechte heben diese Wahrheit hervor, indem sie anerkennen und unterstreichen, daß diese Rechte aus der Würde und dem Wert erwachsen, die der menschlichen Person innewohnen.(3)
Die Allgemeine Erklärung ist klar: Sie erkennt die Rechte, die sie verkündet, an, aber sie verleiht sie nicht; denn diese wohnen der menschlichen Person und ihrer Würde inne. Daraus folgt, daß niemand irgendeinen seiner Mitmenschen dieser Rechte rechtmäßig berauben darf; denn das würde bedeuten, seiner Natur Gewalt anzutun. Alle Menschen ohne Ausnahme sind in der Würde gleich. Aus demselben Grund gelten diese Rechte für alle Lebensphasen und jeden politischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Kontext. Sie bilden ein einziges Ganzes, das eindeutig auf die Förderung aller Aspekte des Wohls der Person und der Gesellschaft ausgerichtet ist.
Die Menschenrechte lassen sich traditionsgemäß in zwei weit gespannte Bereiche einteilen: da sind einerseits die bürgerlichen und politischen Rechte und andererseits die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte. Internationale Vereinbarungen definieren beide Kategorien in klarer Weise. Die Menschenrechte sind ja untereinander eng verflochten, da sie Ausdruck verschiedener Dimensionen eines einzigen Subjekts sind, das Person heißt. Die ganzheitliche Förderung beider Kategorien der Menschenrechte ist die wahre Garantie dafür, daß jedes einzelne Recht voll geachtet wird.
Der Schutz der Universalität und der Unteilbarkeit der Menschenrechte ist entscheidend für den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft und für die ganzheitliche Entwicklung des Einzelnen, der Völker und der Nationen. Die Bekräftigung dieser Universalität und Unteilbarkeit schließt ja berechtigte Unterschiede kultureller und politischer Ordnung bei der Verwirklichung der einzelnen Rechte nicht aus unter der Voraussetzung, daß in jedem Fall die von der Allgemeinen Erklärung für die ganze Menschheit festgesetzten Normen eingehalten werden.
Während ich mir diese grundlegenden Vorbedingungen vor Augen halte, möchte ich nun auf einige besondere Rechte hinweisen, die heute mehr oder weniger offenen Verletzungen ausgesetzt scheinen.
Das Lebensrecht
4. Das erste ist das Grundrecht auf Leben. Das menschliche Leben ist heilig und unantastbar vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an bis zu seinem natürlichen Ende. »Du sollst nicht töten«, lautet das göttliche Gebot, das eine äußerste Grenze setzt, die man nie überschreiten darf. »Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich«.(4)
Das Recht auf Leben ist unantastbar. Das impliziert eine positive Entscheidung, eine Entscheidung für das Leben. Die Entwicklung einer in diesem Sinn ausgerichteten Kultur erstreckt sich auf alle Lebensumstände und gewährleistet die Förderung der Menschenwürde in jeder Lage. Eine wahre Kultur des Lebens sichert dem Ungeborenen das Recht, auf die Welt zu kommen, und schützt die Neugeborenen, insbesondere die Mädchen davor, dem Verbrechen des Kindesmordes zum Opfer zu fallen. In gleicher Weise garantiert es den Behinderten die Entwicklung ihrer Fähigkeiten sowie den kranken und alten Menschen angemessene Pflege.
Die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Gentechnik bringen eine Gefahr mit sich, die tiefe Besorgnis erregt. Wenn die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich der Person dienen soll, muß sie auf jeder Stufe von wachsamer ethischer Reflexion begleitet sein, die sich in entsprechenden gesetzlichen Normen zum Schutz der Unversehrtheit des menschlichen Lebens niederschlägt. Nie darf das Leben zum Objekt degradiert werden.
Das Leben wählen bedeutet eine Absage an jede Form von Gewalt: die der Armut und des Hungers, von denen so viele Menschen betroffen sind; die der bewaffneten Konflikte; die der kriminellen Verbreitung von Drogen und des Waffenhandels; die der leichtsinnigen Schädigung der Umwelt.(5) In jeder Situation muß das Recht auf Leben durch entsprechende gesetzliche und politische Sicherungen gefördert und geschützt werden, denn keine Verletzung des Rechtes auf Leben, die der Würde der Einzelperson entgegensteht, darf außer acht gelassen werden.
Die Religionsfreiheit, das Herz der Menschenrechte
5. Die Religion drückt die tiefste Sehnsucht der menschlichen Person aus, die Religion bestimmt ihre Weltanschauung und regelt die Beziehung zu den anderen: Letztlich gibt sie die Antwort auf die Frage nach dem wahren Lebenssinn im persönlichen und im sozialen Bereich. Die Religionsfreiheit bildet daher den Kern der Menschenrechte. Sie ist so unantastbar, daß sie fordert, daß der Person auch die Freiheit des Religionswechsels zuerkannt wird, wenn das Gewissen es verlangt. Denn jeder ist gehalten, dem eigenen Gewissen in jeder Situation zu folgen, und darf nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln.(6) Gerade deshalb darf niemand gezwungen werden, unbedingt eine bestimmte Religion anzunehmen, welche Umstände oder Beweggründe es auch immer dafür geben mag.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anerkennt, daß das Recht auf Religionsfreiheit auch das Recht einschließt, das eigene Bekenntnis sowohl als Einzelner als auch zusammen mit anderen in der Öffentlichkeit oder privat kundzutun.(7) Dennoch gibt es heute noch Orte, wo das Recht, sich zum Gottesdienst zu versammeln, entweder nicht anerkannt ist oder auf die Anhänger einer einzigen Religion beschränkt bleibt. Diese schwere Verletzung eines Grundrechtes der Person verursacht ungeheure Leiden für die Glaubenden. Wenn ein Staat einer Religion eine Sonderstellung einräumt, darf es nicht zum Nachteil der anderen geschehen. Bekanntlich gibt es aber Nationen, in denen Einzelne, Familien und ganze Gruppen auf Grund ihres religiösen Bekenntnisses weiterhin diskriminiert und ausgegrenzt werden.
Ebensowenig darf ein weiteres Problem verschwiegen werden, das indirekt mit der Religionsfreiheit zusammenhängt. Manchmal kommt es zwischen Gemeinschaften oder Völkern verschiedener religiöser Überzeugungen und Kulturen zu Spannungen, die auf Grund der mitspielenden starken Leidenschaften schließlich in gewalttätige Konflikte ausarten. Gewaltanwendung im Namen des eigenen Glaubensbekenntnisses ist eine Verzerrung dessen, was die großen Religionen lehren. Wie verschiedene Religionsführer oft betont haben, so bekräftige auch ich, daß die Gewaltanwendung niemals eine begründete religiöse Rechtfertigung finden noch das Wachstum der wahren Religiosität fördern kann.
Das Recht auf Teilhabe
6. Jeder Bürger hat das Recht, am Leben seiner Gemeinschaft teilzuhaben: Das ist heute eine allgemein verbreitete Überzeugung. Dennoch wird dieses Recht zunichte gemacht, wenn der Demokratisierungsprozeß durch Begünstigung und Korruption bis zur Unwirksamkeit ausgehöhlt wird. Diese Phänomene verhindern nicht nur die berechtigte Teilhabe an der Machtausübung, sondern versperren sogar den Zugang zu einer gleichmäßig verteilten Nutzung der Güter und der öffentlichen Dienste. Selbst Wahlen können manipuliert werden zu dem Zweck, gewissen Parteien oder Personen zum Sieg zu verhelfen. Dabei handelt es sich um einen Angriff auf die Demokratie, der schwerwiegende Folgen mit sich bringt, denn die Bürger haben neben dem Recht auch die Pflicht zur Teilnahme. Wenn sie daran gehindert werden, verlieren sie die Hoffnung, wirksam eingreifen zu können. So überlassen sie sich einer Haltung passiver Gleichgültigkeit. Die Entwicklung eines gesunden demokratischen Systems wird damit praktisch unmöglich gemacht.
Kürzlich wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um gesetzliche Wahlen in den Staaten sicherzustellen, die unter Schwierigkeiten vom totalitaristischen System zur Demokratie übergehen wollen. So nützlich und wirksam diese Initiativen in Notfällen auch sein mögen, entheben sie dennoch nicht von der Anstrengung, in den Bürgern eine Plattform allgemein geteilter Überzeugungen zu schaffen, durch die jede Manipulierung des Demokratisierungsprozesses endgültig verschwindet.
Im Bereich der internationalen Gemeinschaft haben die Nationen und Völker das Recht auf Mitbeteiligung an den Beschlüssen, die ihre Lebensweise oft tiefgreifend verändern. Die fachliche Besonderheit bestimmter wirtschaftlicher Probleme fördert die Neigung, sie im engen Kreis zu diskutieren. Dabei entsteht die Gefahr, daß sich die politische und finanzielle Macht in einer begrenzten Anzahl von Regierungen oder Interessengruppen anhäuft. Die Suche des nationalen und internationalen Gemeinwohls erfordert auch im wirtschaftlichen Bereich eine wirksame Anwendung des Rechtes aller auf Mitbeteiligung an den Beschlüssen, die sie betreffen.
Eine besonders schwere Form der Diskriminierung
7. Eine der dramatischsten Formen von Diskriminierung besteht darin, den ethnischen Gruppen und nationalen Minderheiten das Grundrecht auf Existenz zu verweigern. Dies geschieht durch Unterdrückung, brutale Übersiedlung oder auch durch den Versuch, ihre ethnische Identität so zu schwächen, daß sie nicht mehr erkennbar ist. Kann man angesichts so schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schweigen? Keine Anstrengung darf als übertrieben gelten, wenn es darum geht, solchen der menschlichen Person unwürdigen Verirrungen ein Ende zu setzen.
Ein positives Zeichen für die wachsende Entschlossenheit der Staaten, die eigene Verantwortung für den Schutz der Opfer solcher Verbrechen zu erkennen und für den Einsatz, sie zu verhüten, stellt die jüngste Initiative einer Diplomatischen Konferenz der Vereinten Nationen dar. Sie hat mit besonderem Beschluß das Statut eines Internationalen Tribunals angenommen, das die Aufgabe hat, schuldhafte Taten festzustellen und diejenigen zu bestrafen, die für Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggressionen verantwortlich sind. Wenn diese neue Institution auf guten gesetzlichen Grundlagen ruht, könnte sie mehr und mehr dazu beitragen, auf Weltebene den wirksamen Schutz der Menschenrechte sicherzustellen.
Das Recht auf Selbstverwirklichung
8. Jeder Mensch besitzt angeborene Fähigkeiten, die auf Entfaltung drängen. Das gehört zur vollen Verwirklichung seiner Persönlichkeit und auch zur entsprechenden Eingliederung in das soziale Gefüge seiner Umgebung. Deshalb ist es vor allem notwendig, für eine angemessene Erziehung und Bildung des jungen Lebens zu sorgen. Davon hängt sein künftiges Gelingen ab.
Besteht aus dieser Sicht nicht aller Grund zur Besorgnis, wenn man beobachtet, daß sich in einigen Gebieten, die zu den ärmsten der Welt gehören, die Bildungsmöglichkeiten tatsächlich verringern — und das besonders im Hinblick auf die Grundschule? Bisweilen ist dafür die Wirtschaftslage des Landes verantwortlich, die den Lehrern keine Entlohnung zusichern kann. In anderen Fällen scheint Geld für Prestigeobjekte oder für Projekte der höheren Bildung, aber nicht für die Grundschule vorhanden zu sein. Wenn besonders die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen eingeschränkt werden, dann schafft man diskriminierende Strukturen, die die ganze Entwicklung der Gesellschaft gefährden können. Die Welt würde schließlich nach einem neuen Kriterium aufgeteilt: auf der einen Seite die mit hochentwickelten Technologien ausgestatteten Staaten und Einzelpersonen, auf der anderen Seite die Länder und Personen mit äuberst begrenzten Kenntnissen und Fähigkeiten. Das würde verständlicherweise die bereits vorhandenen akuten wirtschaftlichen Ungleichheiten nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch in ihrem Innern verstärken. Erziehung und Berufsausbildung müssen sowohl in der Planung der Entwicklungsländer als auch in den Reformprogrammen für Stadt und Land der wirtschaftlich fortschrittlichsten Völker an erster Stelle stehen.
Ein weiteres Grundrecht, von dessen Verwirklichung die Erlangung eines würdigen Lebensstandards abhängt, ist das Recht auf Arbeit. Wie kann man sonst Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und die Befriedigung vieler anderer Lebensbedürfnisse sicherstellen? Der Mangel an Arbeit ist heute jedoch ein schweres Problem. Unzählige Personen in allen Teilen der Welt sind von dem verheerenden Phänomen der Arbeitslosigkeit betroffen. Es ist notwendig und dringend für alle und insbesondere für diejenigen, die die politische und wirtschaftliche Macht haben, alles Mögliche zu tun, um einer so leidvollen Situation abzuhelfen. Man darf sich nicht auf Hilfsmaßnahmen beschränken im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder ähnlichen Umständen, die sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen.(8) Diese Hilfen sind notwendig, doch muß man sich auch darum bemühen, daß die Arbeitslosen die Möglichkeit erhalten, ihr eigenes Dasein selbst in die Hand zu nehmen und sich so von der Bestimmung demütigender Betreuung zu befreien.
Globaler Fortschritt in der Solidarität
9. Die rasch zunehmende Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzsysteme weist ihrerseits darauf hin, daß dringend festgeschrieben werden muß, wer das globale Gemeinwohl und die Anwendung der ökonomischen und sozialen Rechte gewährleisten soll. Der freie Markt allein ist dazu nicht imstande, da es in Wirklichkeit viele menschliche Bedürfnisse gibt, die keinen Zugang zum Markt haben. »Noch vor der Logik des Austausches gleicher Werte und der für sie wesentlichen Formen der Gerechtigkeit gibt es etwas, das dem Menschen als Menschen zusteht, das heißt auf Grund seiner einmaligen Würde«.(9)
Die Auswirkungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrisen hatten schwerwiegende Folgen für unzählige Personen, die in äußerste Armut gerieten. Viele von ihnen hatten erst seit kurzem ihre Lage so weit verbessert, daß sie berechtigte Hoffnungen für die Zukunft hegen konnten. Ohne eigene Schuld sahen sie diese Hoffnungen grausam zerstört, was mit tragischen Folgen für sie selbst und für ihre Kinder verbunden war. Darf man darüber hinaus die Auswirkungen der Fluktuationen der Finanzmärkte außer acht lassen? Dringend notwendig ist eine neue Sicht des globalen Fortschritts in der Solidarität, die eine von der Gesellschaft getragene ganzheitliche Entwicklung vorsieht, so daß jedes ihrer Glieder seine eigenen Fähigkeiten entfalten kann.
In diesem Zusammenhang richte ich einen dringenden Aufruf an die für die Finanzbeziehungen auf Weltebene Verantwortlichen, daß sie sich die Lösung des besorgniserregenden Problems der internationalen Verschuldung der ärmsten Nationen zu Herzen nehmen. Internationale Finanzeinrichtungen haben diesbezüglich eine konkrete Initiative in Gang gebracht, die Anerkennung verdient. Ich appelliere an alle, die sich mit diesem Problem befassen, besonders an die Industrieländer, daß sie die notwendige Unterstützung gewähren, um dieser Initiative zum Erfolg zu verhelfen. Es ist eine rasche und kräftige Anstrengung notwendig, um es der Mehrheit der Länder im Hinblick auf das Jahr 2000 zu ermöglichen, aus einer nunmehr unhaltbaren Situation herauszufinden. Ich bin sicher, daß der Dialog zwischen den beteiligten Institutionen zu einer endgültigen und befriedigenden Lösung führen wird, wenn er vom Willen zum Einvernehmen getragen ist. Auf diese Weise wird den bedürftigsten Nationen eine dauerhafte Entwicklung ermöglicht, und das bevorstehende Jahrtausend wird auch für sie eine Zeit neuer Hoffnung werden.
Verantwortung gegenüber der Umwelt
10. Mit der Förderung der Menschenwürde ist das Recht auf eine gesunde Umwelt verbunden. Denn dadurch wird die Dynamik der Beziehungen zwischen Einzelperson und Gesellschaft deutlich. Ein Paket internationaler, regionaler und nationaler Normen in bezug zur Umwelt gibt diesem Recht allmählich juridische Form. Dennoch genügen die gesetzlichen Maßnahmen für sich allein nicht. Die Gefahr schwerwiegender Schäden für die Erde und das Meer, für das Klima, für Flora und Fauna erfordert einen tiefgreifenden Wandel im Lebensstil der modernen Konsumgesellschaft, besonders in den reichen Ländern. Ebensowenig darf eine weitere — wenn auch weniger drastische — Gefahr unterschätzt werden: Von der Not gedrängt, nutzen arme Landbewohner den geringen Boden, über den sie verfügen, oft über Gebühr. Deshalb ist eine spezifische Ausbildung zu fördern, die sie lehrt, wie sie die Bodenkultur mit der Achtung der Umwelt vereinbaren können.
Die Gegenwart und Zukunft der Welt hängen von der Bewahrung der Schöpfung ab, da zwischen der menschlichen Person und der Natur eine dauernde Wechselwirkung besteht. Das Wohl des Menschen in den Mittelpunkt der Achtung für die Umwelt zu stellen ist in der Tat der sicherste Weg, die Schöpfung zu bewahren; denn auf diese Weise wird das Verantwortungsbewußtsein jedes Einzelnen gegenüber den natürlichen Ressourcen und ihrer gewissenhaften Nutzung verstärkt.
Das Recht auf Frieden
11. Die Förderung des Rechts auf Frieden sichert in gewisser Weise die Achtung aller anderen Rechte, weil sie dem Aufbau einer Gesellschaft Vorschub leistet, in der im Hinblick auf das Gemeinwohl Beziehungen der Zusammenarbeit anstelle von Machtkämpfen treten. Das derzeitige Geschehen bestätigt zur Genüge, daß Gewaltanwendung kein Mittel zur Lösung politischer und sozialer Probleme ist. Krieg baut nicht auf, sondern zerstört; er unterhöhlt die moralischen Fundamente der Gesellschaft und schafft neue Spaltungen und anhaltende Spannungen. Und doch verzeichnet die Chronik weiterhin Kriege und bewaffnete Konflikte mit zahllosen Opfern. Wie oft haben meine Vorgänger und ich selbst das Ende dieser Schrecken herbeigerufen! Ich werde damit so lange fortfahren, bis man verstehen wird, dab der Krieg den Niedergang jedes wahren Humanismus bedeutet.(10)
Gott sei Dank, daß in einigen Gebieten beträchtliche Fortschritte in der Festigung des Friedens erzielt wurden. Anzuerkennen ist das große Verdienst jener mutigen Politiker, die es wagten, die Verhandlungen auch dann fortzuführen, als die Situation es nicht zu erlauben schien. Aber muß man nicht zugleich auch die Massaker anprangern, die in anderen Gebieten andauern, wo ganze Völker aus ihrer Heimat vertrieben und ihre Häuser und Ernten zerstört werden? Angesichts dieser Opfer, die man nicht mehr zählen kann, rufe ich die Verantwortlichen der Nationen und die Menschen guten Willens auf, all jenen zu Hilfe zu kommen, die — besonders in Afrika — in grausame, bisweilen von äußeren Wirtschaftsinteressen angezettelte Konflikte verwickelt sind, und ihnen dabei helfen, den Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen. Ein konkreter Fortschritt in dieser Richtung ist gewiß die Unterbindung des Waffenhandels mit den kriegführenden Ländern und die Unterstützung der Verantwortlichen jener Völker, wieder den Weg des Dialogs zu suchen. Das ist der Weg, der des Menschen würdig ist. Das ist der Weg des Friedens!
Meine Besorgnis gilt denen, die im Kontext des Krieges leben und aufwachsen, denen, die nichts anderes als Krieg und Gewalttätigkeit kennengelernt haben. Die Überlebenden werden für den Rest ihres Lebens unter den Wunden einer solch schrecklichen Erfahrung zu leiden haben. Was soll man über die minderjährigen Soldaten sagen? Kann man je akzeptieren, daß kaum erwachte Menschenleben so ruiniert werden? Müssen diese Kinder, die zum Töten ausgebildet werden und oft auch gedrängt sind, es zu tun, nicht schwerste Probleme bei ihrer nachfolgenden Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft haben? Ihre Ausbildung wird unterbrochen, und ihre beruflichen Fähigkeiten werden unterdrückt. Welche Folgen wird das für ihre Zukunft haben! Die Kinder brauchen Frieden. Sie haben ein Recht darauf.
Neben diesen Kindern möchte ich noch an die minderjährigen Opfer der Landminen und anderer Kriegswaffen erinnern. Trotz der bereits gemachten Anstrengungen zur Zerstörung der Minen ist man jetzt Zeuge eines unglaublichen und unmenschlichen Paradoxons: Entgegen dem ausdrücklichen Willen der Regierungen und Völker, endgültig auf den Gebrauch einer so heimtückischen Waffe zu verzichten, hört man nicht auf, weitere Minen auch in bereits sanierten Gebieten auszustreuen.
Keime des Krieges werden auch durch die gewaltige und unkontrollierte Weitergabe kleiner und leichter Waffen verbreitet, die scheinbar ungehindert von einem Konfliktherd zum anderen wandern und auch unterwegs Gewalt anheizen. Es ist Aufgabe der Regierungen, angemessene Maßnahmen zur Kontrolle der Produktion, des Verkaufs, der Ein- und Ausfuhr solcher Todesinstrumente zu ergreifen. Nur auf diese Weise ist es möglich, dem Problem des gewaltigen unerlaubten Waffenhandels insgesamt wirksam zu begegnen.
Eine Kultur der Menschenrechte, Verantwortung aller
12. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle noch ausführlicher zu werden. Aber ich möchte unterstreichen, daß keines der Menschenrechte sicher ist, wenn man sich nicht bemüht, alle zu schützen. Wenn man tatenlos der Verletzung eines der menschlichen Grundrechte zusieht, geraten alle anderen in Gefahr. Deshalb sind eine globale Annäherung an das Thema der Menschenrechte und ein gewissenhafter Einsatz zu ihrem Schutz unerläßlich. Nur wenn eine Kultur der Menschenrechte, die die unterschiedlichen Traditionen achtet, wesentlicher Bestandteil des moralischen Erbes der Menschheit wird, kann man hoffnungsvoll und gelassen in die Zukunft blicken.
Es ist doch so: Wie könnte es Kriege geben, wenn jedes Menschenrecht respektiert würde? Die ganzheitliche Achtung der Menschenrechte ist der sicherste Weg, um feste Beziehungen unter den Staaten aufzubauen. Die Kultur der Menschenrechte kann nur eine Kultur des Friedens sein. Jede Verletzung birgt die Keime eines potentiellen Konfliktes in sich. Schon mein ehrwürdiger Vorgänger, der Diener Gottes Pius XII., hat am Ende des Zweiten Weltkrieges die Frage gestellt: »Wenn ein Volk mit Gewalt unterdrückt wird, wer hätte den Mut, der übrigen Welt Sicherheit im Kontext eines dauerhaften Friedens zu verheißen?«.(11)
Um eine Kultur der Menschenrechte zu fördern, die die Gewissen durchdringt, ist die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte notwendig. Ich möchte besonders auf die Rolle der Medien hinweisen, die bei der Bildung der öffentlichen Meinung und damit für die Orientierung des Verhaltens der Bürger so wichtig sind. Wie könnte man eine gewisse Verantwortung ihrerseits für die Verletzungen der Menschenrechte verkennen, die ihren Ursprung in der Verherrlichung der von ihnen unter Umständen kultivierten Gewalt haben. Ebenso muß man ihnen das Verdienst der edlen Initiativen für Dialog und Solidarität zuschreiben, die dank der von ihnen verbreiteten Botschaften zugunsten des gegenseitigen Verständnisses und Friedens entstanden sind.
Zeit der Entscheidungen, Zeit der Hoffnung
13. Das neue Jahrtausend steht vor der Tür. Sein Näherrücken hat in den Herzen vieler Menschen die Hoffnung auf eine gerechtere und solidarischere Welt genährt. Es ist ein Bestreben, das verwirklicht werden kann. Ja, es muß verwirklicht werden!
Mit diesem Ausblick wende ich mich jetzt insbesondere an euch, liebe Brüder und Schwestern in Christus, die ihr in vielen Teilen der Welt das Evangelium als Lebensregel annehmt: Seid Botschafter der Menschenwürde! Der Glaube lehrt uns, daß jede Person als Gottes Bild und Gleichnis geschaffen wurde. Auch wenn der Mensch sich verweigert, die Liebe des himmlischen Vaters bleibt immer treu; seine Liebe hat keine Grenzen. Er hat Jesus, seinen Sohn, gesandt, um jede Person zu erlösen, indem er ihr die volle Würde zurückgab.(12) Wie könnten wir angesichts einer solchen Haltung jemandem unsere Zuwendung entziehen? Im Gegenteil, wir müssen Christus in den Ärmsten und Ausgegrenzten erkennen, zu deren Dienst uns die Eucharistie, die Kommunion mit dem für uns hingegebenen Leib und Blut Christi verpflichtet.(13) Wie das Gleichnis vom reichen Mann, der für immer namenlos bleiben wird, und vom armen Lazarus deutlich zeigt, »steht Gott in dem schreienden Kontrast zwischen gefühllosen Reichen und notleidenden Armen auf der Seite der letzteren«.(14) Auf deren Seite sollen auch wir uns stellen.
Das dritte und letzte Vorbereitungsjahr vor dem Jubiläum ist von einem geistlichen Pilgerweg zum Vater geprägt: Jeder ist zu einem Weg wahrer Umkehr eingeladen, der mit der Absage an die Sünde und der positiven Entscheidung für das Gute verbunden ist. An der Schwelle des Jahres 2000 ist es unsere Pflicht, mit neuem Einsatz die Würde der Armen und Ausgegrenzten zu schützen und konkret die Rechte derer anzuerkennen, die keine Rechte haben. Erheben wir unsere Stimme für sie, indem wir die Sendung, die Christus seinen Jünger anvertraut hat, voll verwirklichen! Das ist der Geist des bevorstehenden Jubiläums.(15) Jesus hat uns gelehrt, Gott mit Vater, Abbà, anzureden, und so unsere tiefe Verbindung mit ihm offenbart. Grenzenlos und ewig ist seine Liebe zu jeder Person und zur ganzen Menschheit. Treffend drücken das die Worte Gottes im Buch des Propheten Jesaja aus:
»Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen,
eine Mutter ihren leiblichen Sohn?
Und selbst wenn sie ihn vergessen würde:
ich vergesse dich nicht.
Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet
in meine Hände« (49, 15-16).
Nehmen wir die Einladung zur Teilhabe an dieser Liebe an! In ihr liegt das Geheimnis der Achtung der Rechte jeder Frau und jedes Mannes. Der Anbruch des neuen Jahrtausends wird uns dann bereit finden, gemeinsam den Frieden zu bauen.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember des Jahres 1998.
(1) Vgl. Redemptor hominis (4. März 1979), 17: AAS 71 (1979), 296.
(2) Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Präambel, erster Abschnitt.
(3) Siehe besonders Erklärung von Wien (25. Juni 1993), Präambel, 2.
(4) Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae (25. März 1995), 57: AAS 87 (1995), 465.
(5) Vgl. ebd., 10, aaO., 412.
(6) Vgl. II. Ökumenisches Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 3.
(7) Vgl. Art. 18.
(8) Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 25, 1.
(9) Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 34: AAS 83 (1991), 836.
(10) Vgl. diesbezügliche Aussagen im Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2307-2317.
(11) Ansprache an eine Kommission von Vertretern des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika (21. August 1945): Ansprachen und Radiobotschaften von Pius XII., VII (1945-1946), 141.
(12) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 13-14: AAS 71 (1979), 282-286.
(13) Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1397.
(14) Johannes Paul II., Angelus vom 27. September 1998: L'Osservatore Romano, 28.29. September 1998, S. 5.
(15) Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 49-51: AAS 87 (1995), 35-36.