Botschaft zum Weltfriedenstag 1997
BOTSCHAFT VON JOHANNES PAUL II. ZUR FEIER DES XXX. WELTFRIEDENSTAGES
1. Januar 1997
BIETE DIE VERGEBUNG AN, EMPFANGE DEN FRIEDEN
1. Nur drei Jahre trennen uns noch vom Anbruch eines neuen Jahrtausends, und das Warten wird zu einer Zeit des Nachdenkens, die uns gleichsam Bilanz ziehen lässt über den Weg, den die Menschheit vor dem Blick Gottes, dem Herrn der Geschichte, zurückgelegt hat. Sieht man sich das zurückliegende Jahrtausend und da vor allem dieses letzte Jahrhundert an, so muss man zugeben, dass in sozio-kultureller, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und technologischer Hinsicht auf dem Weg der Menschen viele Lichter entzündet worden sind. Im Gegensatz dazu gibt es leider lange Schatten, vor allem auf dem Gebiet der Moral und der Solidarität. Ein regelrechter Skandal ist ferner die Gewalt, die in alten und neuen Formen immer wieder viele Menschenleben heimsucht und Familien und Gemeinschaften zerreißt.
Es ist an der Zeit, dass wir uns dazu entscheiden, gemeinsam mit Entschlossenheit einen echten Pilgerweg des Friedens anzutreten, ein jeder aus der konkreten Situation heraus, in der er sich befindet. Die Schwierigkeiten sind manchmal sehr groß: Die ethnische Zugehörigkeit, die Sprache und die Kultur stellen oft ebenso Hindernisse dar wie die Religionszugehörigkeit. Sich miteinander auf den Weg machen, wenn man traumatische Erfahrungen oder gar jahrhundertelange Spaltungen auf dem Rücken hat, ist kein leichtes Unterfangen. Da stellt sich die Frage: Welchen Weg soll man einschlagen, wonach soll man sich orientieren?
Es gibt gewiss viele Faktoren, die unter Wahrung der Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschenwürde die Wiederherstellung des Friedens günstig beeinflussen können. Aber kein Friedensprozess wird sich je in Gang bringen lassen, solange nicht in den Menschen eine Bereitschaft zu aufrichtiger Vergebung heranreift. Ohne sie bluten die Wunden weiter und nähren in den nachfolgenden Generationen einen unaufhörlichen Groll, der Quelle von Rache und Ursache immer neuer Katastrophen ist. Die angebotene und empfangene Vergebung ist die unerlässliche Voraussetzung für den Weg zu einem echten und dauerhaften Frieden.
Aus tiefer Überzeugung will ich daher an alle appellieren, das Ziel des Friedens auf dem Weg der Vergebung zu verfolgen. Ich bin mir völlig bewusst, wie sehr das Vergeben scheinbar im Widerspruch zur menschlichen Logik stehen kann, die häufig der Dynamik des Streites und der Rache gehorcht. Die Vergebung hingegen atmet aus der Logik der Liebe, jener Liebe, die Gott jedem Mann und jeder Frau, jedem Volk und jeder Nation, ja der ganzen Menschheitsfamilie erweist. Wenn aber die Kirche das zu verkünden wagt, was menschlich gesprochen als Torheit erscheinen könnte, so tut sie das eben auf Grund ihres unerschütterlichen Vertrauens in die grenzenlose Liebe Gottes. Gott ist, wie die Schrift bezeugt, reich an Erbarmen und hört nicht auf, denen zu vergeben, die zu ihm zurückkehren (vgl. Ez 18, 23; Ps 32, 5; 103, 3.8-14; Eph 2, 4-5; 2 Kor 1, 3). Gottes Vergebung wird in unseren Herzen zur unerschöpflichen Quelle des Verzeihens auch in unseren Beziehungen untereinander und hilft uns, sie im Zeichen echter Brüderlichkeit zu leben.
Die verwundete Welt sehnt sich nach Heilung
2. Wie ich soeben andeutete, ist und bleibt die moderne Welt trotz der vielen erreichten Ziele von zahlreichen Widersprüchen gezeichnet. Der Fortschritt in den Bereichen von Industrie und Landwirtschaft hat für Millionen Menschen eine Verbesserung des Lebensstandards mit sich gebracht und lässt für viele andere Gutes erhoffen; die Technologie erlaubt bereits das Überwinden großer Entfernungen; die Information, die in Sekundenschnelle erfolgen kann, hat die Möglichkeiten des menschlichen Wissens erweitert; die Achtung vor unserer Umwelt nimmt zu und wird allmählich zu einem Lebensstil. Eine Menge von Freiwilligen engagiert sich mit einer Hochherzigkeit, die oft völlig unbekannt bleibt, in allen Teilen der Welt unermüdlich im Dienst an der Menschheit, wobei sie sich vor allem dafür aufopfert, die Nöte der Armen und der Leidenden zu lindern.
Sollte man diese positiven Zeichen unserer Zeit nicht mit Freude anerkennen? Die Bühne der heutigen Welt präsentiert aber leider auch viele gegenteilige Erscheinungen. Dazu gehören zum Beispiel der Materialismus und die zunehmende Geringschätzung des menschlichen Lebens, die beunruhigende Dimensionen angenommen haben. Es gibt viele, die in ihrer Lebensplanung einzig und allein den Gesetzen von Profit, Ansehen und Macht folgen.
Die Konsequenz davon ist, dass sich zahlreiche Menschen in ihre innere Einsamkeit verbannt finden, andere ständig wegen ihrer Rasse, ihrer Nationalität oder ihres Geschlechts absichtlich diskriminiert werden, während die Armut ganze Massen an den Rand der Gesellschaft oder geradewegs in die Vernichtung treibt. Für allzu viele Menschen ist der Krieg zur harten Wirklichkeit des täglichen Lebens geworden. Eine Gesellschaft, die nur nach den materiellen oder vergänglichen Gütern sucht, neigt dazu, den an den Rand zu drängen, der nicht diesem Zweck dient. Vor diesen Situationen, die manchmal echte menschliche Tragödien darstellen, ziehen es manche vor, einfach die Augen zu verschließen, während sie sich hinter ihrer Gleichgültigkeit verschanzen. In ihnen wiederholt sich das Verhalten Kains: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4, 9). Es ist Pflicht der Kirche, jeden an die strengen Worte Gottes zu erinnern: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10).
Das Leiden so vieler Brüder und Schwestern darf uns nicht gleichgültig lassen! Ihr Leid appelliert an unser Gewissen, an unser inneres Heiligtum, wo wir uns von Angesicht zu Angesicht vor uns selbst und vor Gott finden. Sollte man nicht anerkennen, dass wir alle, wenn auch in unterschiedlichem Grad, in diese Gewissenserforschung, zu der uns Gott aufruft, einbezogen sind? Wir haben alle die Vergebung Gottes und des Nächsten nötig. Deshalb müssen wir alle bereit sein, zu vergeben und um Vergebung zu bitten.
Die Last der Geschichte
3. Die mühsame Arbeit der Vergebung hängt nicht allein vom gegenwärtigen Geschehen ab. Eine schwere Bürde an Gewaltakten und Konflikten, der man sich nur schwer zu entledigen vermag, trägt die Geschichte mit sich. Übergriffe, Unterdrückungen und Kriege haben unzähligen Menschen Leid zugefügt. Auch wenn sich die Ursachen für jene schmerzlichen Vorgänge in längst vergangenen Zeiten verlieren, bleiben ihre Nachwirkungen auf quälende Weise lebendig. Sie nähren Ängste, Verdächtigungen und Hass. Sie lassen Bande zerbrechen zwischen Familien, ethnischen Gruppen und ganzen Völkern. Dies sind Tatsachen, die den guten Willen dessen auf eine harte Probe stellen, der sein Verhalten nicht davon bestimmen lassen möchte. Doch wahr bleibt, dass man nicht Gefangener der Vergangenheit bleiben kann: Für die einzelnen und für die Völker bedarf es einer Art »Reinigung des Gedächtnisses«, damit die Übel von gestern sich nicht wiederholen. Es geht nicht darum, das Geschehene zu vergessen, sondern es mit neuen Gefühlen noch einmal zu lesen und dabei gerade aus den erlittenen Erfahrungen zu lernen, dass allein die Liebe aufbaut, während der Hass Zerstörung und Verfall hervorruft. An die Stelle der tödlichen Wiederholung der Rache muss die befreiende Neuheit der Vergebung treten.
Dazu ist es unerlässlich, die Geschichte der anderen Völker lesen zu lernen, indem man einseitige Pauschalurteile vermeidet und sich darum bemüht, den Standpunkt der Angehörigen jener Völker zu verstehen. Das ist eine echte, auch pädagogische und kulturelle Herausforderung. Eine Herausforderung der Zivilisation! Wenn man gewillt ist, diesen Weg einzuschlagen, wird man entdecken, dass die Fehler niemals nur auf einer Seite liegen; man wird sehen, dass die Darstellung der Geschichte mitunter verzerrt, ja sogar manipuliert worden ist, was tragische Folgen nach sich zog.
Ein korrektes nochmaliges Lesen der Geschichte wird die Annahme und Achtung der zwischen Personen, Gruppen und Völkern bestehenden sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiede begünstigen. Das ist der erste Schritt zur Versöhnung, weil die Achtung der Unterschiede eine Bedingung und eine Dimension dessen ist, was echte Beziehungen zwischen einzelnen und Gemeinschaften brauchen und auszeichnen. Die Unterdrückung der Unterschiede kann einen Scheinfrieden entstehen lassen, sie erzeugt aber eine bedenkliche Situation, die in der Tat das Vorspiel für neue Gewaltausbrüche ist.
Konkrete Mechanismen zur Versöhnung
4. Auch wenn Kriege die Probleme, durch die sie entfacht wurden, »lösen«, hinterlassen sie dabei nur Opfer und Zerstörungen, die auf den nachfolgenden Friedensverhandlungen lasten. Diese Erkenntnis muss die Völker, Nationen und Staaten veranlassen, die »Kultur des Krieges« endgültig zu überwinden, und zwar nicht nur in der höchst verabscheuungswürdigen, als Werkzeug der Gewalt gebrauchten Ausdrucksweise einer Kriegsmacht, sondern auch in jener weniger gehässigen, aber darum genauso verderblichen Anwendung von Waffengewalt, die als schnelles Mittel verstanden wird, um die Probleme anzugehen. Besonders in einer Zeit wie der unsrigen, die über die ausgeklügeltsten Vernichtungstechnologien verfügt, ist es dringend geboten, eine solide »Kultur des Friedens« zu entwickeln, die der unaufhaltsamen Entfesselung der bewaffneten Gewalt zuvorkommen und sie abwenden soll, und dabei auch Eingriffsmöglichkeiten vorzusehen, die das Anwachsen der Rüstungsindustrie und des Waffenhandels verhindern.
Zuvor aber muss der aufrichtige Wunsch nach Frieden noch in den festen Entschluss umgesetzt werden, jedes Hindernis zu beseitigen, das sich der Erreichung des Friedens in den Weg stellt. In diesem Bemühen können die verschiedenen Religionen in der Spur dessen, was sie schon wiederholt getan haben, einen wichtigen Beitrag dadurch leisten, dass sie ihre Stimme gegen den Krieg erheben und mutig den Folgegefahren entgegentreten. Aber sind wir vielleicht nicht alle aufgerufen, noch mehr zu tun, indem wir aus dem unverfälschten Erbe unserer religiösen Überlieferungen schöpfen?
Wesentlich in diesem Anliegen bleibt freilich die Aufgabe der Regierungen und der internationalen Gemeinschaft, deren Sache es ist, zum Aufbau des Friedens durch die Förderung solider Strukturen beizutragen, die imstande sein sollen, den Turbulenzen der Politik zu widerstehen und so Freiheit und Sicherheit für alle und unter allen Umständen zu gewährleisten. Einige dieser Strukturen bestehen bereits, müssen aber noch gestärkt werden. Die Organisation der Vereinten Nationen zum Beispiel hat in jüngster Zeit eine immer größere Verantwortung bei der Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens übernommen und ist so der Idee gefolgt, unter der sie einst ins Leben gerufen wurde. Gerade aus dieser Sicht scheint es fünfzig Jahre nach ihrer Gründung geboten, den Wunsch nach einer entsprechenden Anpassung der ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu äußern, um ihr die Möglichkeit zu geben, den neuen Herausforderungen unserer Zeit wirksam zu begegnen.
Auch anderen Organisationen auf kontinentaler oder regionaler Ebene kommt eine große Bedeutung zu: Sie sind Werkzeuge zur Förderung des Friedens. Es gibt Anlass zur Ermutigung, wenn man sieht, wie sie sich für die Entwicklung konkreter Versöhnungsmechanismen engagieren, indem sie vom Krieg gespaltenen Bevölkerungen dabei helfen, die Grundlagen für ein friedliches und solidarisches Zusammenleben wiederzufinden. Es sind Formen der Vermittlung, die Völkern in scheinbar ausweglosen Situationen Hoffnung bieten. Nicht unterschätzt werden darf ferner das Wirken der Organisationen vor Ort: Da sie in die Umgebung eingebunden sind, wo die Keime des Konflikts gesät werden, können sie die einzelnen Menschen direkt erreichen, zwischen den feindlichen Lagern vermitteln und das gegenseitige Vertrauen fördern.
Der dauerhafte Friede ist jedoch nicht nur eine Frage der Strukturen und Mechanismen. Er stützt sich vor allem auf die Annahme eines Stils menschlichen Zusammenlebens, der von gegenseitiger Annahme geprägt und zu freundlicher Vergebung fähig ist. Wir brauchen alle die Vergebung unserer Brüder und Schwestern, wir müssen daher alle bereit sein, selbst zu vergeben. Vergebung erbitten und gewähren ist ein Weg, der zutiefst der Würde des Menschen entspricht; manchmal ist es der einzige Weg, um aus Situationen herauszukommen, die von altem, gewalttätigem Hass gekennzeichnet sind.
Sicher ist die Vergebung für den Menschen nicht etwas Spontanes und Natürliches. Aus ganzem Herzen vergeben, kann sich mitunter geradezu als heroisch erweisen. Der Schmerz über den Verlust eines Sohnes, eines Freundes, der eigenen Eltern oder der ganzen Familie auf Grund von Krieg, Terrorismus oder krimineller Handlungen kann dazu veranlassen, sich dem anderen gegenüber völlig zu verschließen. Jene, denen nichts geblieben ist, weil sie des Landes und des Hauses beraubt wurden, die Flüchtlinge und alle, die die Schmach der Gewalttätigkeit ertragen haben, können gar nicht anders, als die Versuchung zu Hass und Rache zu spüren. Nur die Wärme menschlicher Beziehungen, die von Achtung, Verständnis und Annahme durchdrungen sind, kann ihnen helfen, diese Gefühle zu überwinden. Dank der heilenden Kraft der Liebe, die ihre erste Quelle in Gott hat, der die Liebe ist, kann die befreiende Erfahrung der Vergebung, freilich unter großen Schwierigkeiten, auch von einem verletzten Herzen erlebt werden.
Wahrheit und Gerechtigkeit als Voraussetzungen der Vergebung
5. Die Vergebung ist in ihrer wahrsten und höchsten Form ein Akt ungeschuldeter Liebe. Aber gerade als Akt der Liebe birgt sie auch Forderungen in sich. Die erste ist die Achtung der Wahrheit. Gott allein ist die absolute Wahrheit. Er hat jedoch das menschliche Herz dem Verlangen nach der Wahrheit geöffnet, die er dann im menschgewordenen Sohn in Fülle offenbart hat. Alle sind also aufgerufen, die Wahrheit zu leben. Wo jedoch Lüge und Falschheit gesät werden, blühen Verdächtigung und Spaltung. Auch Korruption und politische oder ideologische Manipulation widersprechen ihrem Wesen nach der Wahrheit: Sie stellen einen Angriff auf die eigentlichen Fundamente des bürgerlichen Zusammenlebens dar und bedrohen die Möglichkeit zu friedlichen sozialen Beziehungen.
Weit davon entfernt, die Suche nach der Wahrheit auszuschließen, fordert die Vergebung sie sogar. Das Böse, das angerichtet wurde, muss zugegeben und, soweit als möglich, wiedergutgemacht werden. Gerade diese Forderung hat in verschiedenen Teilen der Welt dazu geführt, im Zusammenhang mit den Übergriffen zwischen ethnischen Gruppen oder Nationen geeignete Verfahren zur Wahrheitsfindung als ersten Schritt zur Versöhnung einzuleiten. Man braucht die vorsichtige Zurückhaltung nicht eigens zu betonen, an die sich in diesem, gleichwohl notwendigen Prozess alle halten müssen, um nicht die Gegensätze zu verschärfen und dadurch die Versöhnung noch schwieriger zu machen. Nicht selten kommt es vor, dass in Ländern angesichts des fundamentalen Gutes der Aussöhnung die Regierenden einmütig eine Amnestie für alle beschlossen haben, die sich öffentlich zu den Untaten bekannten, die sie in Zeiten von Krieg und Aufruhr begangen hatten. Eine solche Initiative kann man insofern gutheißen, als diese Bemühung darauf abzielt, gute Beziehungen zwischen einst einander feindlich gegenüberstehenden Gruppen neu anzuknüpfen.
Eine andere wesentliche Voraussetzung für Vergebung und Versöhnung ist die Gerechtigkeit, die ihr letztes Kriterium im Gesetz Gottes und in seinem Plan der Liebe und Barmherzigkeit für die Menschheit hat.(1) So verstanden, beschränkt sich die Gerechtigkeit nicht auf die Festlegung dessen, was zwischen den Konfliktparteien korrekt ist, sondern sie zielt vor allem darauf ab, wieder echte Beziehungen zu Gott, zu sich selbst und zu den anderen herzustellen. Es besteht also kein Widerspruch zwischen Vergebung und Gerechtigkeit. Denn die Vergebung beseitigt noch verringert sie die Forderung nach Wiedergutmachung, die wesentlich zur Gerechtigkeit gehört. Statt dessen strebt sie die Wiedereingliederung sowohl der Einzelpersonen und der Gruppen in die Gesellschaft als auch der Staaten in die Gemeinschaft der Nationen an. Keine Bestrafung vermag die unveräußerliche Würde dessen abzutöten, der Böses getan hat. Die Tür zu Reue und Rehabilitierung muss stets offen bleiben.
Jesus Christus, unsere Versöhnung
6. Wie viele Situationen bedürfen heute der Versöhnung! Angesichts dieser Herausforderung, von der der Friede maßgeblich abhängt, richte ich an alle Gläubigen und in besonderer Weise an die Mitglieder der katholischen Kirche meinen Aufruf, sie mögen sich aktiv und konkret dem Versöhnungswerk widmen.
Der Glaubende weiß, dab die Versöhnung von Gott ausgeht, der immer bereit ist, allen, die sich an ihn wenden, zu vergeben und alle ihre Sünden hinter seinen Rücken zu werfen (vgl. Jes 38, 17). Die Unermesslichkeit der Liebe Gottes übersteigt das menschliche Begreifen, wie die Heilige Schrift sagt: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht« (Jes 49, 15).
Die göttliche Liebe ist die Grundlage der Versöhnung, zu der wir aufgerufen sind. »Der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt; der dein Leben vor dem Untergang rettet und dich mit Huld und Erbarmen krönt ... Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Schuld« (Ps 103, 3-4.10).
In seiner liebenden Bereitschaft zur Vergebung ist Gott soweit gegangen, sich selber der Welt in der Person des Sohnes zu schenken, der gekommen ist, um jedem einzelnen und der ganzen Menschheit die Erlösung zu bringen. Angesichts der Beleidigungen seitens der Menschen, die in seiner Verurteilung zum Kreuzestod gipfeln, betet Jesus: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23, 24).
Die Vergebung Gottes ist Ausdruck seiner väterlichen Zärtlichkeit. Im Gleichnis der Frohen Botschaft vom »verlorenen Sohn« (vgl. Lk 15, 11-32) eilt der Vater dem Sohn sofort entgegen, als er ihn nach Hause zurückkommen sieht. Er lässt ihn nicht einmal die Entschuldigungen vorbringen: alles ist verziehen (vgl. Lk 15, 20-22). Die tiefe Freude über die angebotene und empfangene Vergebung heilt unheilbare Wunden, stellt die Beziehungen wieder neu her und lässt sie Wurzel fassen in der unerschöpflichen Liebe Gottes.
Jesus hat sein ganzes Leben lang die Vergebung Gottes verkündet, hat aber gleichzeitig auf die Forderung der gegenseitigen Vergebung als Bedingung für ihre Erlangung hingewiesen. Im »Vaterunser« lässt er uns beten: »Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben» (Mt 6, 12). Mit jenem »wie« legt er uns das Maß in die Hand, nach dem wir von Gott gerichtet werden. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, der wegen seiner Härte gegenüber seinem Kollegen bestraft wurde (vgl. Mt 18, 23-35), lehrt uns, dass alle, die nicht zum Vergeben bereit sind, sich dadurch selber von der göttlichen Vergebung ausschließen: »Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt« (Mt 18, 35).
Sogar unser Gebet ist dem Herrn nur dann genehm, wenn ihm die aufrichtige Bereitschaft zur Versöhnung mit dem Bruder, der »etwas gegen uns hat«, vorausgeht und es so gewissermaßen in seiner Glaubwürdigkeit »garantiert« ist: Erst dann wird es uns möglich sein, Gott eine Opfergabe darzubringen, die angenommen wird (vgl. Mt 5, 23-24).
Im Dienst der Versöhnung
7. Jesus hat nicht nur seine Jünger die Pflicht der Vergebung gelehrt, sondern er wollte, dass seine Kirche Zeichen und Werkzeug seines Versöhnungsplanes sein sollte, weshalb er sie zum Sakrament »der innigsten Vereinigung mit Gott und der Einheit der ganzen Menschheit« (2) gemacht hat. Auf Grund dieser Aufgabe bezeichnete Paulus den apostolischen Dienst als »Dienst der Versöhnung« (vgl. 2 Kor 5, 18-20). Aber eigentlich muss sich jeder Getaufte als »Diener der Versöhnung« fühlen, weil er, wenn er sich mit Gott und den Brüdern versöhnt hat, aufgerufen ist, mit der Kraft der Wahrheit und der Gerechtigkeit den Frieden aufzubauen.
Wie ich in dem Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente in Erinnerung rufen konnte, sind die Christen, während sie sich dafür rüsten, die Schwelle eines neuen Jahrtausends zu überschreiten, dazu eingeladen, erneut Reue zu zeigen für »alle jene Vorkommnisse im Laufe der Geschichte, wo sie sich vom Geist Christi und seines Evangeliums dadurch entfernt haben, dass sie der Welt statt eines an den Werten des Glaubens inspirierten Lebenszeugnisses den Anblick von Denk- und Handlungsweisen boten, die geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten«. (3)
Dabei haben die Spaltungen, die die Einheit der Christen verletzen, ein besonderes Gewicht. Während wir uns auf die Feier des Großen Jubeljahres 2000 vorbereiten, müssen wir miteinander die Vergebung Christi suchen, indem wir vom Heiligen Geist die Gnade der vollen Einheit erflehen. »Die Einheit ist schließlich Gabe des Heiligen Geistes. Von uns wird verlangt, dieser Gabe dadurch zu entsprechen, dass wir Leichtfertigkeiten und Unterlassungen im Zeugnis für die Wahrheit nicht nachsichtig übergehen«. (4) Während wir in diesem ersten Vorbereitungsjahr auf das Jubiläum den Blick auf Jesus Christus, unsere Versöhnung, richten, wollen wir durch Gebet, Zeugnis und Tat alles uns Mögliche tun, um auf dem Weg zu einer größeren Einheit voranzukommen. Das wird sicher auch nicht seinen positiven Einfluss auf die Befriedungsprozesse verfehlen, die in verschiedenen Teilen der Welt im Gange sind.
Im Juni 1997 werden die Kirchen Europas in Graz ihre zweite Europäische Ökumenische Versammlung über das Thema »Versöhnung, Geschenk Gottes und Quelle neuen Lebens« abhalten. Als Vorbereitung auf diese Begegnung haben die Vorsitzenden der Konferenz der Kirchen Europas und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen eine gemeinsame Botschaft verbreitet, in der sie um einen erneuerten Einsatz für die Versöhnung, »Geschenk Gottes für uns und für die ganze Schöpfung«, bitten. Sie haben auf einige der vielfältigen Aufgaben hingewiesen, die die kirchlichen Gemeinschaften erwarten: die Suche nach einer noch sichtbareren Einheit und der Einsatz für die Versöhnung der Völker. Das Gebet aller Christen möge die Vorbereitung dieses Treffens in den Ortskirchen unterstützen und konkrete Schritte zur Versöhnung auf dem ganzen europäischen Kontinent fördern, um dadurch den Weg zu ähnlichen Anstrengungen auch auf anderen Kontinenten zu eröffnen.
In dem erwähnten Apostolischen Schreiben habe ich den lebhaften Wunsch ausgesprochen, dass die Christen auf diesem Weg in das Jahr 2000 die Bücher der Heiligen Schrift als ständigen Begleiter und Wegweiser haben sollen. (5) Ein äußerst aktuelles Thema, das auf diesem Pilgerweg Anleitung sein mag, könnte das Thema Vergebung und Versöhnung sein, das in den konkreten Situationen jedes einzelnen und jeder Gemeinschaft bedacht und ins Leben umgesetzt werden sollte.
Ein Aufruf an jeden Menschen guten Willens
8. Ich möchte diese Botschaft, die ich anlässlich des bevorstehenden Weltfriedenstages an die Gläubigen und an jeden Menschen guten Willens richte, mit einem Aufruf an jeden einzelnen abschließen, ein Werkzeug des Friedens und der Versöhnung zu werden.
An erster Stelle wende ich mich an euch, meine Brüder im Bischofs- und Priesteramt: Seid ein Spiegel der barmherzigen Liebe Gottes, nicht nur in der Gemeinschaft der Kirche, sondern auch im Bereich der weltlichen Gesellschaft, besonders dort, wo nationalistische oder ethnische Kämpfe toben. Lasst trotz möglicher Leiden, die ihr ertragen müsst, nicht eure Herzen vom Hass durchdringen, sondern verkündet freudig das Evangelium Christi, indem ihr durch das Sakrament der Versöhnung die Vergebung Gottes ausspendet.
Euch, liebe Eltern, bitte ich als erste Glaubenserzieher eurer Kinder, ihnen zu helfen, alle als Brüder und Schwestern anzusehen und dem Nächsten ohne Vorurteile vertrauensvoll zu begegnen und ihn anzunehmen. Seid für eure Kinder ein Spiegel der Liebe und Vergebung Gottes, und bemüht euch mit allen Kräften, um eine geeinte und solidarische Familie aufzubauen.
Und ihr, liebe Erzieher, die ihr berufen seid, die Jugend die wahren Werte des Lebens zu lehren, indem ihr sie in die ganze komplizierte Geschichte und Kultur der Menschheit einführt, helft den jungen Menschen, auf jeder Ebene die Tugenden der Toleranz, des Verständnisses und der Achtung zu leben, indem ihr ihnen jene als Vorbilder hinstellt, die Baumeister des Friedens und der Versöhnung waren.
Ihr, liebe junge Menschen, die ihr im Herzen große Wünsche hegt, lernt, miteinander in Frieden zu leben, ohne untereinander Barrieren aufzurichten, die euch daran hindern, den Reichtum anderer Kulturen und Traditionen zu teilen. Antwortet auf die Gewalt mit Taten des Friedens, um eine versöhnte, von Menschlichkeit erfüllte Welt aufzubauen.
Ihr Politiker, die ihr dem Gemeinwohl dienen sollt, schließt niemanden aus eurer Sorge aus, kümmert euch besonders um die schwächsten Gruppen der Gesellschaft. Setzt nicht den persönlichen Vorteil an die erste Stelle, indem ihr der Verlockung der Korruption nachgebt, und vor allem: Begegnet auch den schwierigsten Situationen mit den Waffen des Friedens und der Versöhnung.
Euch, die ihr im Bereich der Massenmedien arbeitet, bitte ich, die große Verantwortung wahrzunehmen, die euer Beruf mit sich bringt, und nie Botschaften anzubieten, die den Stempel von Hass, Gewalt und Lüge tragen. Habt immer die Wahrheit und das Wohl des Menschen im Blick, in dessen Dienst die mächtigen Massenmedien gestellt werden müssen.
An euch alle, die ihr an Christus glaubt, richte ich schließlich die Einladung, treu auf dem Weg der Vergebung und Versöhnung weiterzugehen und euch im Gebet Christus anzuschließen, auf dass alle eins seien (vgl. Joh 17, 21). Ich fordere euch außerdem auf, dieses unablässige Flehen um Frieden mit Taten der Brüderlichkeit und gegenseitigen Annahme zu begleiten.
An jeden Menschen guten Willens, der den Wunsch hat, unermüdlich mitzuwirken am Aufbau der neuen Zivilisation der Liebe, wiederhole ich: Biete die Vergebung an, empfange den Frieden!
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1996.
JOHANNES PAUL II.
(1) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Dives in misericordia (30. November 1980), 14: AAS 72 (1980), 1223.
(2) 3 II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 1.
(3) Nr. 33: AAS 87 (1995), 25.
(4) Ebd., 34, aaO., 26.
(5) Vgl. ebd., 40, aaO., 31.