EU-Sondergesandter fordert mehr Einsatz für Religionsfreiheit
Zur stärkeren politischen Wahrnehmung von Verfolgung aufgrund des religiösen Bekenntnisses hat Jan Figel, der im Mai bestellte erste EU-Sonderbeauftragte für Religionsfreiheit, aufgerufen. "Wer Religion und den Missbrauch von Religion nicht versteht, kann nicht verstehen, was derzeit in der Welt geschieht", sagte der slowakische Politiker und frühere EU-Kommissar am Samstag in Wien. Figel sprach bei einer Tagung über Religionsfreiheit und Christenverfolgung, die auf Einladung der Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung gegen Christen in Europa im Erzbischöflichen Palais stattfand.
Religionsfreiheit sei "Recht und Verantwortung nicht nur von manchen oder nur manchmal, sondern für jeden und immer", betonte der Sonderbeauftragte. Um dieses Menschenrecht umzusetzen, sei es wichtig, negative Grundhaltungen wie Gleichgültigkeit, Ignoranz und Angst zu ersetzen durch Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität. Religion müsse zudem als wichtiger weltpolitischer Faktor erkannt werden: Statistiken zufolge würden 84 Prozent aller Menschen einer Religionsgemeinschaft angehören, sagte Figel. 74 Prozent der Menschheit lebten in Ländern, in denen religiöse Freiheit unterdrückt wird, wobei in 38 Länder diese Freiheit ernsthaft verletzt werde.
Christen sind laut dem EU-Sondergesandten die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft. Grund dafür sei nicht nur, dass sie den größten Anteil der Weltbevölkerung stellten, "sondern auch dass sie in vielen Ländern als Kollaborateure des Westens gesehen werden." Über 100.000 Christen würden jährlich weltweit aufgrund ihres Glaubens getötet.
Völkermord-Jahrhundert beenden
Besonders verwies der EU-Sonderbeauftragte auf die Situation der Christen im Irak, wo von ursprünglich 1,4 Millionen christlichen Bewohnern nach fünf Kriegsjahren nur noch 250.000 übrig seien. Nach der Flucht vieler werde die Zukunft dieser Gruppe vor allem davon abhängen, was nach der erhofften Befreiung der IS-Hochburg Mossul geschehen werde, betonte Figel. "Die Menschen brauche nicht nur Friede, sondern auch Gerechtigkeit: Nationale Versöhnung, Möglichkeiten zur Rückkehr und Wiederaufbau."
Christen hätten eine wichtige Aufgabe im Nahost, betonte der EU-Politiker: Sie hätten sich nie als Minderheit, sondern stets als Bestandteile der Gesellschaft gefühlt und würden erheblich zu deren "Gleichgewicht" beitragen. Besonders hob Jan Figel die "universale Solidarität" der Christen im Irak und auch in Syrien hervor: Ihr Blick sei nicht auf andere Christen, ihr Territorium oder die jeweilige Gesetzgebung beschränkt, sondern sie würden für die Würde aller Menschen eintreten.
Das 1914 mit dem Armenier-Genozid begonnene "Jahrhundert der Völkermorde" könne nur dann beendet werden, "wenn wir unser Denken und Tun ändern", erklärte Figel. Den Anfang müsse die Sprache machen, wozu vor allem die Anerkennung des "Genozids" an den Christen in Nahost gehöre. Das EU-Parlament und mehrere Regierungen hätten sich dazu bereits durchgerungen, noch nicht aber der UN-Sicherheitsrat.
Politik und Kirchen gemeinsam gefordert
Derzeit finde eine "Christenverfolgung unvorstellbaren Ausmaßes" statt, sagte Kardinal Christoph Schönborn in Grußworten zur Tagung. Die internationale Politik und die Kirchen seien durch die vielfältige Bedrohungslage der Gläubigen gemeinsam herausgefordert. Der Schutz religiöser Minderheiten vor Verfolgung müsse ein vorrangiges Ziel internationaler Beziehungen werden, so der Wiener Erzbischof. Es sei wesentlich, dass sich Europa des "dramatischen Themas" der Religionsfreiheit und der "Verfolgung unserer christlichen Geschwister" weltweit annehme.
Der Wiener Weihbischof Stephan Turnovszky zählte in seiner Ansprache die Jahre 2015 und 2016 zu den "schlimmsten Momenten der globalen Kirchengeschichte". Etwas sei "nicht im Lot", wenn Europas Elite zu den Geschehnissen in Nahost hartnäckig schweigen, stellte der Bischof fest.
Auf freilich anderem Niveau, sei die Religionsfreiheit jedoch auch in Europa, wo die Christen die Mehrheitsreligion darstellten, in Gefahr: "Was ursprünglich als Freiheit für die Religionsausübung entsprechend der Gewissensfreiheit eine Errungenschaft war, wird mehr und mehr zur Freiheit von Religion umgedeutet - zum Zugang zur Religionslosigkeit, zumindest im öffentlichen Raum", betonte Turnovszky. Wer für Menschenwürde oder Lebensrecht eintrete, sei zunehmend Drohungen ausgesetzt, und "Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern oder Apotheker müssen oft wählen zwischen ihrer Karriere oder ihrer religiösen Überzeugung".
Ungarn: "Regierung kann mehr tun als NGOs"
Dass Ungarn auf die Vorgänge in Nahost durch die Einführung eines eigenen Staatssekretariats für die Unterstützung verfolgter Christen reagiert habe, legte der mit der Leitung dieser Einrichtung beauftragte Unterstaatssekretär Tamas Török dar. Als Ziel der erst im Oktober angelaufenen Arbeit bezeichnete er die Hilfe für Christen in Nahost, im eigenen Land bleiben zu können. Dass dies für die Betroffenen die beste Option sei, habe sich in zahlreichen Vorgesprächen zwischen Ungarns Regierungsspitze und Nahost-Kirchenführern - u.a. im Vatikan - bestätigt.
Eine nationale Regierung könne mehr tun als eine NGO, sagte der Unterstaatssekretär. Ungarn werde sich vor allem auf die Langzeit-Unterstützung von Schulen und Spitälern in den Nahost-Krisenregionen konzentrieren. Zudem soll es ein spezielles Stipendium für Kinder von verfolgten christlichen Familien ermöglichen, in Ungarn zu studieren und nach der Rückkehr bei der Entwicklung ihrer Dörfer mitzuhelfen. Das weltweite Bewusstsein für Christenverfolgung soll zudem über Ungarns diplomatische Missionen gefördert werden.
Die Einrichtung des eigenen Staatssekretariats im Ministerium für Humanressourcen sehe man auch als Beitrag dazu, "christliche Werte in Ungarn zu erhalten - auch in der Erziehung künftiger Generationen", betonte Török.
EU-Mandatar fordert Autonomie für Nordirak
Für die größtmögliche Unabhängigkeit des Nordiraks sprach sich der EU-Parlamentarier Lars Adaktusson aus. Nur die Autonomie der Region könne den Christen und anderen vertriebenen Gruppen Sicherheit, Schutz und grundlegende Menschenrechte zurückgeben und sie zu einer Rückkehr bewegen, sagte der schwedische Christdemokrat. Das EU-Parlament hatte im Oktober auf Adaktussons Initiative eine entsprechende Resolution verabschiedet. Nötig dafür, dass die Weltpolitik für die Region tätig werde, sei jedoch das gemeinsame Handeln der Akteure vor Ort, so der EU-Mandatar, der im Europaparlament u.a. dem Menschenrechts-Unterausschuss angehört.
Adaktusson sprach klar von einem "Genozid" im Irak. Meldungen, wonach die Christen in den IS-Gebieten durch Bezahlung einer Sondersteuer der Verfolgung entgehen könnten, würden sich in den Berichten der Betroffenen nicht bestätigen: "Ohne Ausnahme sagten uns die Opfer, man habe sie durch Entführungen oder Todesdrohungen gezwungen, zum Islam überzutreten".
Jede Aufmerksamkeit für den Irak sei wichtig, betonte der Christdemokrat, auf dessen Betreiben das EU-Parlament im Februar in einer Resolution von "Völkermord" gesprochen hatte. Dem Beispiel seien auch das britische House of Commons, das australische Repräsentantenhaus, Senat und das Repräsentantenhaus im US-Kongress sowie das Weiße Haus gefolgt. Erst wenn auch die UNO vom "Genozid" spreche, werde sie handeln, so Adaktusson. Er sei optimistisch, dass auch der UNO-Sicherheitsrat einschwenken werde.
Syrien: Armut treibt Christen zur Flucht
In Syrien sei die Herausforderung der Christen nach Jahren der Entführungen und Ermordungen heute nicht mehr die Verfolgung, sondern vor allem die Armut, gab der in Wien tätige melkitische Priester Hanna Ghoneim zu bedenken. "Je länger der Krieg dauert, desto schlimmer ist es für alle. Wenn sie ihre Heimat verlassen, dann tun sie das nicht freiwillig, sondern da sie die Armut völlig hilflos gemacht hat", so der syrische Geistliche. Unterstützung der Christen vor Ort - vor allem im Gesundheits- und Schulwesen - sei wichtig für den Verbleib in der Region.
Quelle: kathpress