Demenzkranke als Mitmenschen sehen
Einen neuen Umgang mit Demenzkranken in Medizin und Pflege fordert das Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) anlässlich des Symposiums "Der Demenzkranke als Mitmensch", das am Freitag in Wien stattfindet. Ein Umdenken sei angesichts der Ängste und Tabus rund um das Thema Demenz dringend notwendig, und zwar "weg von einer bloß sachorientierten hin zu einer personenzentrierten Betreuung und zu einer Ethik der Zuwendung - denn Menschenwürde kennt keine Demenz", erklärte IMABE-Geschäftsführerin Susanne Kummer im Vorfeld gegenüber "Kathpress". IMABE ist der Veranstalter des Symposions.
130.000 demenzkranke Menschen leben in Österreich. Sie können durchaus ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen, sofern ihre Umgebung darauf eingestellt ist, so der Grundtenor der Referenten. Die menschlichen und ethischen Herausforderungen an Pflegende, Angehörige und Ärzte sind allerdings sehr hoch. Ein "personaler Zugang" gelinge nur jenem, der Betroffene nicht bloß von ihren Defiziten her definiert, so IMABE-Generalsekretär Enrique Prat. "Pflege ist keine Einbahnstraße. Angehörige und Professionelle sind gefragt, sich gegenüber dem Demenzkranken in eine Dynamik des Gebens und Empfangens einzulassen", so der Ethiker.
In den Spitälern seien heute weder Ärzte noch Pfleger darauf vorbereitet, dass schon jeder fünfte Spitalspatient die Nebendiagnose Demenz hat und das Krankenhaus als "verrückte Welt" erlebt, legt der Pflegewissenschaftlers Michael Isfort dar. Demenzerkrankte fallen aus dem Rahmen standardisierter Klinikprozesse, entwickeln oft Ängste in der ungewohnten Umgebung, wollen das Spital verlassen und können bei Diagnose, Behandlung und Körperpflege nicht mitwirken. Daraus folgt oft unzureichende Versorgung und die Zustandsverschlechterung im Krankenhaus, erläutert Isfort. Ausdruck dessen sind deutschlandweit geschätzte jährlich 2,6 Millionen sedierende Medikamentengaben sowie rund 500.000 "meist unnötige Fixierungen".
Einen neuen Weg gehen hier sogenannte "demenzsensible Krankenhäuser" mit eigenen Zimmereinheiten für demenzkranke Patienten. Während es in ganz Deutschland 20 solcher Special Care Units in Akutkrankenhäusern gibt, ist Österreich in diesem Punkt noch komplett unterversorgt. "Wir haben das Wissen, es braucht nun den Willen, es umzusetzen", betont Isfort, der am Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln tätig ist.
Ein Schwerpunkt der prominent besetzten Tagung ist der gesellschaftliche Umgang mit Demenz. Dass diese zu den am meisten gefürchteten Erkrankungen zählt, ist für den Gerontopsychologen Andres Kruse Folge eines Menschenbildes, das sich nur an kognitiver Leistung, Autonomie und Effizienz orientiert und Qualitäten wie Beziehung, Empathie und Sorge um den anderen vernachlässigt. Soziale Bezogenheit, lebendige und vertrauensvolle Beziehungen für jeden Menschen seien jedoch wesentlich für das Leben in Menschenwürde.
Dem Direktor am Heidelberger Universitätsinstitut für Gerontologie zufolge zwingen Demenzkranke die Gesellschaft zu einer kritischen Reflexion und zur Erkenntnis, "dass die Sorge um den Anderen wieder neu erlernt werden muss".
Soziologe: Heutige Gesellschaft ist "dement"
Mit provokanten Thesen lässt der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer aufhorchen: Demenz müsse "keine Krankheit" sein, sondern könne auch als Symptom der von Leistung und Beschleunigung dominierten Gesellschaft gesehen werden, legte der deutsche Altersforscher im Vorfeld der Tagung gegenüber der Wochenzeitung "Die Furche" (aktuelle Ausgabe) dar. Ein Nachlassen des Sehens, Hörens und des Verstandes sowie oft auch Verwirrtheit seien immer schon Teil des Altwerdens gewesen, dank der gestiegenen Lebenserwartungen würde sich das Phänomen jedoch häufen. "Dass wir uns nun entschieden haben, das 'Krankheit' zu nennen, mag gute Gründe haben, - ist aber gleichzeitig auch der Versuch einer jugendbesessenen Gesellschaft, davon abzulenken, dass zum Alter eben auch Einschränkungen gehören", so der Tagungsreferent.
Demenz passe "zu einer Gesellschaft, die vom Vergessen begeistert ist", so Gronemeyer. Zwar wachse das Wissen ständig, doch habe der Mensch immer weniger auf seiner "Festplatte" gespeichert. Zugleich werde das Wissen und Können alter Menschen "einfach auf den Müll geworden, weil Erfahrung in der beschleunigungstrunkenen und mobilitätssüchtigen Gesellschaft keine Rolle mehr spielt". Gronemeyers These: Die Gesellschaft sei selbst "dement": Krampfhaft starre sie auf jene, die wirklich ihre Erinnerung verloren haben - "und begegnet dabei ihrem Zwilling".
Zumal eine "Pille für Demenz" in naher Zukunft nicht zu erwarten sei, müsse der Fokus auf der Verbesserung der Lebensbedingungen für die Betroffenen und ihre Angehörigen liegen, sagte der Forscher. Bezahlte, professionelle Dienstleistungen seien hier keine endgültige Lösung, werde es ihrer doch "nie genug" geben. Demenz müsse zur "gesamtgesellschaftlichen Aufgabe" werden. "Wenn jemand heute dement ist und in den Sportverein gehen möchten, aber sich geniert, dann bräuchte es Menschen, die sagen: Ich bring dich da hin." Das sei eine "Kultur, in der es nicht schädlich ist, dement zu sein".
Funktionierende Modelle dafür gebe es bereits - in der "Aktion Demenz", an der sich in Deutschland über 80 Kommunen und auch einzelne Gemeinden in Vorarlberg beteiligen; auch der 3. Wiener Gemeindebezirk sei bereits "demenzfreundlich". Von "Demenzdörfern" nach niederländischem Muster hielt Gronemeyer nichts: Das sei eine Auslagerung und eine "Scheinwelt", vergleichbar mit dem früheren Umgang mit Aussätzigen.
Auch Sterbebegleitung und "Validation" Thema
Weitere Themen der IMABE-Tagung in Wien befassen sich mit der Schmerzerkennung bei Demenzkranken und der Diagnose Demenz, mit der Begleitung sterbender Demenzkranker, den Kommunikationsmöglichkeiten durch die Technik der "Validation" als Brücke in die Welt der Demenz und der Frage, wie Angehörigen rechtzeitig geholfen werden kann. (Tagungsbände unter postbox@imabe.org oder bei www.imabe.org bestellbar).
Quelle: kathpress