Migration ruft Europa zur Umkehr
Zur Suche nach dem theologischen Sinn im aktuellen Migrationsgeschehen hat die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak aufgerufen. Flucht und Migration seien nicht nur "Fluch", sondern könnten auch "Segen" sein - wenn die katastrophalen Erfahrungen zu Selbstkritik, Umkehr und Reue bewegen und positive Veränderungen in Gang setzen, erklärte die Expertin am Samstag bei einer gemeinsamen Tagung der Katholischen Aktion Österreichs (KAÖ), des deutschen Katholikenkomitees (ZdK) und des Hilfswerks Renovabis zu Flüchtlingshilfe und Integration.
Polak regte einen Perspektivenwechsel auf die Seite der Migranten an: Deportation, Vertreibung, Heimatverlust, Ausgeliefertsein an Schlepper und Menschenhändler, Trauer um zerrissene Familien und verschwundene oder im Krieg zurückgebliebene Mitglieder sowie die unfreiwillige Diaspora in fremder Kultur seien für sie ein "Fluch". Dennoch hätten viele der ankommenden Menschen viel Hoffnung, Mut und Glauben - und irritierten damit die Europäer. "Können sich nur Wohlstands-Satte Angst und Hoffnungslosigkeit leisten?", hinterfragte die Theologin.
Durchaus würden eigene oder fremde Migrationserfahrungen dabei helfen, sich für die Frage nach Gott zu öffnen und auf ihn hören zu lernen, so Polaks These. Sie verwies dabei auf das Alte Testament, deren Verfasser "aus Migrantenperspektive" geschrieben hätten, indem sie über Exil, Versklavung und Armut reflektiert und sie ebenfalls als "Fluch" dargestellt hätten. Auch die hebräischen Flüchtlinge und Migranten seien von den Mehrheitsgesellschaften - etwa den Ägyptern - als Fremdkörper und Bedrohung wahrgenommen worden.
Theologie entstand durch Migration
Einzigartig neu sei in den Schriften des alten Israels, dass darin die Migrantengemeinschaft nicht nur ihre Gewaltherrscher, sondern auch sich selbst kritisiert habe: Das Exil in Babylon sei als Folge der Abwendung Israels von Gott dargestellt worden, als "Strafe und Fluch Gottes" und als sein Verlangen nach Wiedergutmachung und Umkehr. Erst Fragen wie "Was bedeuten diese Ereignisse für uns? Was fordert Gott von uns? Was müssen wir verändern?" angesichts der Katastrophen hätten Israel - anders etwa als Ägypten, Assur und Babylon - Zukunft eröffnet.
Polak zufolge sei erst durch Migrationserfahrung Theologie entstanden: Errungenschaften wie die rechte Gottesverehrung, die soziale Gerechtigkeitspraxis, das hohe soziale Ethos und der Aufbau einer gerechten Gesellschaft ohne Arme hätten sich aus dieser spezifischen Reflexion von Katastrophen hergeleitet. Auch die eigene Verpflichtung zur Gedenkkultur, zum Erinnern und Lernen und zum namentlichen Benennen von Tätern und Opfern sollte den Frieden bewahren.
Im Neuen Testament hätten die ersten Christengemeinden dann auf diese bewährten Narrative zurückgegriffen: Obwohl nicht mehr Flüchtlinge und Migranten, erfuhren sie dennoch Ablehnung, Unterdrückung und Verfolgung bis hin zu Massenkreuzigungen, so Polak. "Kern dieser Narrative ist die Erfahrung, dass Gott inmitten größter Hoffnungslosigkeit neues Leben schaffen kann. Dieser Gott steht auf der Seite der Armen, Ausgeschlossenen und Fremden und erklärt den Rand zur Mitte. Dieser Gott lässt die Ohnmacht zur Macht werden." Im auferstandenen Jesus sei diese Hoffnung konkret geworden.
Suche nach Hoffnung
Auch den heutigen Ereignissen müsse "Hoffnung und Sinn" abgerungen werden, sonst würde allen Engagierten für Flüchtlingshilfe und friedliches Zusammenleben angesichts der noch anstehenden globalen Umwälzungen "langfristig die Luft ausgehen", betonte die Pastoraltheologin. Erst Sinn und Hoffnung machten es möglich, Schwierigkeiten - Polak bezeichnete Terror, politischen Islamismus und Dschihadismus als durchaus "reale Gefahren" für Europa - "ohne Hass und Ressentiment zu benennen und Lösungen zu suchen". Europa brauche "einen Narrativ über Migration und Flucht, der positiv und ressourcenorientiert ist".
Jene "gebildete Hoffnung" einzubringen, die Europa derzeit fehle und die im Gegensatz zum bloßen Optimismus das ungeschönte Nennen von Wirklichkeit erlaube, bezeichnete Polak als wichtigen Beitrag der Kirchen. Psychologisch gehe es dabei um "die Fähigkeit, Verlust- und Trennungserfahrungen schöpferisch zu verarbeiten". Theologisch bedeute Hoffnung, "in schwierigen Zeiten die Orientierung an Gott, seinen Geboten und Zusagen, seinen Verheißungen und Versprechen nicht zu verlieren". Christliche Hoffnung sei kein frommes Gefühl, sondern "geistige Transformation", und sie könne von Migration geweckt werden.
Reiche in Pflicht genommen
Um diesen Umgang mit Migration zu erreichen, brauche Europa allerdings die schmerzliche Erkenntnis, "dass es nicht auf Seite der Opfer steht, sondern als Machtsystem wohl eher mit Ägypten oder dem Imperium Romanum als mit dem Migrantenvolk Israel zu vergleichen ist", betonte Polak. Dazu komme, dass Gott "parteiisch" sei und auf Seiten der Armen stehe, "nicht gegen die Reichen, diese aber in die Pflicht nehmend".
Migration sei wie ein "Spiegel", der helfe, "jene Strukturen, Prozesse, Institutionen und Personen in Gesellschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Bildung und Kirchen zu identifizieren, die das Leben von Menschen einschränken, blockieren und zerstören". Migration sei somit für Europa "zuerst ein Ruf zur Umkehr: politisch, ökonomisch, technokratisch, wissenschaftlich, individuell". Auch Papst Franziskus habe dabei bei seiner Rede im Europaparlament deutlich hingewiesen.
Erschwert werde die Umkehr durch Verteidigungsreflexe - sei es doch "einfacher, Flüchtlinge und Migranten zur Ursache aller Übel zu erklären und so der überfälligen Debatte über Fluchtursachen und deren Behebung auszuweichen", bemerkte Polak. Ohnmachtsgefühle, Angst vor der Konfrontation mit der eigenen Lebensweise und der Verstrickung in Schuldkontexte, sowie eine "Kultur des Unschuldswahns und der Schuldabwehr" seien vielerorts anzutreffen und ließen Neid und Hass auf Migranten entstehen. Diese würden die Menschen daran erinnern, "dass sie ihr ganzes Leben der Arbeit und dem Aufbau von Wohlstand geopfert haben. Und die Flüchtlinge sollen das jetzt alles umsonst bekommen?"
Helfer schreiben Bibel weiter
Nicht nur aus Großmut, Nächstenliebe und Gastfreundschaft müsse man mit Migranten teilen, sondern auch, da sie Mitglieder der Menschheitsfamilie seien, erklärte Polak. Schon 2004 habe der Vatikan die Migrationen der Gegenwart als "Zeichen der Zeit" und der Gegenwart Gottes bezeichnet, als Teil von Gottes Plan zur Bildung einer universalen Gemeinschaft, in der genug für alle da ist.
"Migrationen sind also der Zu- und Anspruch Gottes, sich am Aufbau einer erneuerten Menschheit zu beteiligen und im Sinne des Evangeliums für Friede einzusetzen. Sie ist ein Zeichen des Zusammenwachsens der Menschheit", so die Pastoraltheologin. Jeder, der heute schon mit Migranten zusammenlebe, schreibe daher die Hoffnungs-Geschichten der Bibel weiter und lasse "eine Zukunft erkennen, in der die Menschheit gemeinsam in Liebe und Gerechtigkeit, versöhnter Verschiedenheit und Friede leben wird."
Quelle: kathpress