Angstabbau ist "Megaprojekt Nr. 2"
Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner sieht es als eine Aufgabe der Kirchen, zum Abbau von Ängsten vor Flüchtlingen beizutragen. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Angst kleiner und das Vertrauen größer wird - als zweites Megaprojekt neben der Hilfe. Das gelingt nicht durch Moralisieren, sondern indem wir die Menschen aus ihrer Angst 'herauslieben' und Begegnung mit Flüchtlingen schaffen", erklärte der Theologe am Samstag bei der Tagung "Ich wart fremd und ihr habt mich aufgenommen", die von der Katholischen Aktion, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und dem Hilfswerk Renovabis in Klagenfurt veranstaltet wird.
Dass heute 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind, sei keine Überraschung, sondern schon lange absehbar gewesen, verwies Zulehner auf eine Prognose des "Club of Rome" von 1991. Europa spalte sich durch die Entwicklung immer in Ängstliche und Zuversichtliche: "Die einen orbanisieren, die andere merkeln", so der Religionssoziologe. Im Vormarsch sei eine "populistische Politik der Angst, die dazu führt, dass man die eigene Meme vergisst - das, was die eigenen Werte ausmacht." Sozialisten seien plötzlich keine Sozialisten mehr und die Christdemokraten täten sich mit dem Christlichen schwer; beides wolle man mit einer "Verantwortungsethik" rechtfertigen.
Viele der von Rechtspolitikern beschworenen Zusammenhänge von Sozialproblemen und Migration hielten genauerem Blick nicht stand, betonte Zulehner. "Wenn etwa in Kärnten eine jahrzehntelang regierende Partei den Slogan 'erschwingliche Wohnungen für unsere eigenen jungen Leute' verwendet, so fragt man sich: Was haben die vorher die ganze Zeit gemacht?" Flüchtlinge seien daher "Lesehilfe für nicht geleistete Sozialpolitik", so der Theologe. Nur eine "Aufnahmekultur" werde langfristig den heutigen Problemen gerecht und ermögliche es, sowohl Flüchtlingen in menschlich und respektvoll zu begegnen als auch Einheimische für die nötige Mithilfe bei der Integration zu gewinnen.
Starker Einsatz gegen Fluchtursachen
Eine "Entängstigung" braucht laut der Ansicht des Experten zunächst eine "starke staatsmännische Politik des Vertrauens, der es gelingt, Fluchtursachen abzubauen". Der Kampf gegen Armut und Krieg gehöre dazu, das Ausverhandeln von Waffenstillständen, ein "Marshall-Plan" für die Nahost-Region und Afrika sowie das Hinterfragen von Waffenlieferungen - "denn wenn Österreich Waffen nach Saudiarabien liefert und diese kurz darauf im Jemen auftauchen, so ist dies ein Skandal und zeigt, wie schlecht die Kontrolle des Exportwesens im Wirtschaftsministerium funktioniert". Aufgrund der vielen Rücküberweisungen von Migranten in ihre Heimat sei deren Aufnahme auch ökonomisch sinnvoll und "die interessanteste Form der Entwicklungszusammenarbeit".
Auch Bildung sei ein Angstverminderer; Zulehner zählte darunter vor allem politische und interreligiöse Bildung sowie jene der Persönlichkeit. Die Muslime in Westeuropa seien ohnehin in einem "schöpferischen Modernisierungsstress, denn die Europäisierung des Islam geht nicht von Professoren und Imamen aus, sondern findet zuerst durch Druck von unten statt." Stammtisch-Weisheiten wie etwa, "dass Muslime uns niedergebären werden", seien falsch: Bei Muslima der zweiten und dritten Generation unterscheide sich der Kinderwunsch nicht von einheimischen Frauen. Auch die gleichzeitige Anpassung von Geschlechterrollen sei eine "unglaubliche Leistung".
Zuhören und gute Geschichten erzählen
Als dritte Form der "Entängstigung" nannte der Theologe Begegnungen: "Wer Gesichter kennt, sich Fluchtgeschichten anhört, wer zusammen musiziert und Feste feiert, verliert die Angst vor den fremden Menschen aus arabischen Kulturen. Dann wird der Fremde, der dazukommt, nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung erlebt." Auf Ebene der Einzelpersonen gehe es darum, "dass die Balance zwischen Angst und Vertrauen auf der Seite des Vertrauens bleibt", so Zulehner. Erst wo Angst übermächtig sei, griffen Menschen zu Selbstverteidigung und Gewalt, während ihnen ein vorhandenes "Urvertrauen" ermögliche, "glauben und lieben zu können".
Besondere Aufmerksamkeit forderte der Religionssoziologe gegenüber der Verwendung von Wörtern, die negative Gefühle verstärken. "Die Sprache der Abwehr mit Begriffen wie Flüchtlingsstrom, Lawine, Zäune und Abschotten ist ohne Gesicht und ohne Geschichte und vermittelt das Gefühl, Europa sei am Untergehen." Selbst die "Flüchtlingskrise" sei zu hinterfrage; besser sei es, von Menschen, die auf der Flucht sind und Schutz und Sicherheit suchen, zu reden, und Alternativen zum Negativen zu bieten. "Wir sollten unentwegt gute Geschichten erzählen, damit unsere Kultur nicht nur von dunklen Kronenzeitungserzählungen durchtränkt ist", so Zulehner.
Quelle: kathpress