Ruf nach Mauern zeigt gestörte Weltbeziehung
In der heutigen Beziehung zur Welt "stimmt etwas nicht, und zwar fundamental": So lautet die Gegenwartsdiagnose des Soziologen und Sozialphilosophen Hartmut Rosa, der am Freitagabend beim Philosophicum Lech eine Dankesrede für den ihm verliehenen Essaypreis "Tractatus" gehalten hat. "Die Welt läuft uns in fast allen Perspektiven aus dem Ruder", so der Preisträger in seiner Ansprache, in der er auch aus dem Evangelium zitierte. Ausgezeichnet wurde er für sein jüngstes Werk "Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung".
Rosa, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, ist der achte Träger der mit 25.000 Euro hochdotierten Auszeichnung für Wissenschaftsprosa und philosophische Essayistik. Als Laudator würdigte der deutsche Schriftsteller Michael Krüger, Mitglied der dreiköpfigen Jury, Rosas Werk und nannte den Preisträger einen "unverbesserlichen Optimisten". Ob er dies tatsächlich sei, stellte Rosa gleich daraufhin allerdings in Frage.
Die Moderne verfolge systematisch das Programm der "Vergrößerung von Weltreichweiten", so Rosa über seine erste Hauptthese: "Sie will Welt verfügbar machen, erreichbar machen, kontrollierbar machen." Das Programm gehe jedoch nicht auf, sondern führe zum Gegenteil des Glücks, das es verspreche. "Die Welt rückt weg von uns, sie entgleitet uns, sie wird uns bedrohlich." Naturzerstörung sei die Folge oder etwa die Entfremdung vom eigenen Körper, dessen Funktionen man zwar genau messen, den man aber nicht mehr selbst spüren kann.
Zwar würden kommunikative Reichweiten enorm gesteigert, vor allem über soziale Netze, doch verbessere sich die Qualität sozialer Beziehungen nicht und es werde immer schwieriger, überall noch auf dem Laufenden zu sein. Und ständig begegne man via Medien Krieg, Terror und Gewalt: "Wenn Sie abends ins Bett gehen, dann lassen Sie eine Welt da draußen, die Sie sich nicht anverwandelt haben, sondern die Ihnen sehr unverstehbar, bedrohlich, schweigend gegenübersteht und sie eigentlich zu überfluten und zu bedrängen scheint", verdeutlichte Rosa.
Anverwandeln statt aneignen
Um "Anverwandlung" der Welt, nicht um ihre Aneignung müsse es gehen, betonte der Preisträger, um "die Stiftung von so etwas wie einer lebendigen Beziehung". Ein positives Verhältnis zu Werten sei nur durch ein neues Verhältnis zur Welt zurückzugewinnen, das nicht auf Weltbeherrschung, Verfügbarmachen und Vergrößerung von Reichweite gerichtet sein dürfe. Grundlegend dafür ist laut dem Sozialphilosophen etwas, was von manchen schon als "naiv" ausgelegt worden ist: "Das Hören, das sich davon berühren und bewegen lassen und dann darauf eine Antwort geben."
Eine andere Art der Beziehung zu Arbeit, Natur und Mitmenschen - Rosa bezeichnete es als "Resonanz" - sei durch diesen neuen Zugang gegeben. Diese Beziehung habe das Potenzial zu einer Transformation, sie sei jedoch nicht zielstrebig herzustellen oder systematisch zu steigern, sondern unverfügbar und unvorhersehbar. "Eine Gesellschaft, die jedes Jahr wachsen, beschleunigen, innovieren muss, nur um so zu bleiben, wie sie ist, hat tendenziell keine Räume mehr für solche nicht vorhersehbare Begegnungen."
Populismus ein "Schrei nach Antworten"
Für Rosa hat sein Modell auch politische Konsequenzen: "Der Populismus, den wir beobachten, von Trump über den Brexit zur AfD in Deutschland oder zur FPÖ in Österreich, den kann man gar nicht anders sehen als einen monströsen Schrei nach Antworten." Hier bestehe "Resonanzverlust", die Bürger hätten das Gefühl, nicht gehört zu werden. Weder die Antworten der Populisten noch die ihrer Gegner jedoch "auf Resonanz geeicht", würde doch die jeweils andere Seite stets als das Entfremdete wahrgenommen.
Man habe das Hören und Antworten - auch infolge der sozialen Medien - verlernt: "Wir suchen nach einer Verdopplung und Vervielfachung unserer eigenen Stimme, man will andere Stimmen gar nicht hören, man sagt, mit denen solle man gar nicht reden." Die politische Welt habe unglücklicherweise die Resonanzfähigkeit fast vollständig eingebüßt.
Flüchtlingskrise als Sinnbild
Das "prekäre" Verhältnis zu Werten und zur Welt zeigt sich laut Hartmut Rosa anhand der Flüchtlingskrise: "Diese Welt, das 'Andere', scheint in Form von Flüchtlingen bedrohlich zu uns hereinzukommen. Und was machen wir: Lasst uns einen Zaun bauen, lasst uns eine Mauer bauen, wir brauchen den Schießbefehl."
Man wolle das Andere lieber aussperren statt hören und denke, die Fremden seien an der Entfremdung gegenüber der Welt schuld, weil sie anders sind, fasste Rosa zusammen. Problematisch geworden sei jedoch vielmehr die Art des Westens, auf die Welt Bezug zu nehmen und sich auf anderes einzulassen, so der Standpunkt des deutschen Philosophen.
Hören und Antworten neu lernen
Wenn die Menschheit den Weg der "stummen Weltreichweitenvergrößerung" weitergeht, werde sie "sklerotischer"; sie werde der Welt immer feindlicher gegenüberstehen und das Verhältnis zu ihr immer prekärer. "Oder", so Rosas Hoffnung, "wir gewinnen diese Fähigkeit des Hörens und Anverwandelns zurück". Oft höre man, "dann müssten wir ja werden wie die, die da zu uns kommen", was jedoch nicht die von ihm gemeinte Resonanz sei.
Worum es gehe, sei ein "wirkliches Antworten und in Dialog treten", was Kindern sehr wohl gelinge. "Kinder machen das, und in der Bibel steht: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen." Grund zur Hoffnung, die kindliche Resonanzfähigkeit zurückzugewinnen, bestehe noch - "weil wir alle Kinder waren und wissen, was Resonanz ist", so der Preisträger.
Quelle: kathpress