Theologen loben "beredtes Schweigen" des Papstes in Auschwitz
Den Verzicht von Papst Franziskus auf eine Rede im NS-Vernichtungslager Auschwitz haben zwei in Österreich lehrende Theologen - die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak und der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff - in ausführlichen Kommentaren als "beredtes Schweigen" gewürdigt. Beide stellen die Papstvisite in der "Hölle auf Erden" in den Kontext einer auch kirchlich mitgetragenen Schuldgeschichte und blicken auf die vorangegangenen Besuche von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Gemeinsamer Tenor: Gerade indem Franziskus anders als seine Vorgänger nur beten und ansonsten schweigen möchte, bekundet er Respekt vor den Opfern und "überstimmt die Toten nicht", wie Hoff formulierte.
Der aus Deutschland stammende Salzburger Theologe äußerte sich in einem Beitrag für die Ausgabe der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" (28. Juli), wo eine gekürzte Version seines Aufsatzes auf der Website der Uni Salzburg abgedruckt wurde; Polak tat dies am selben Tag auf der theologischen Feuilleton-Website "feinschwarz.net". Beide vor dem Hintergrund des für Freitagvormittag, 29. Juli, vorgesehenen Besuch von Franziskus in Auschwitz (9.30 Uhr) und unmittelbar danach (10.30 Uhr) im Vernichtungslager Birkenau.
"Jeder Papst, der das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau betritt, weiß, dass er zu spät kommt", schrieb Gregor Hoff. "Zu spät für eine schwer zu fassende und bis heute nicht klar benannte Schuld, die traumatisch nachwirkt: vor allem für die Juden, die jüdische Gemeinde Roms zumal, aber auch für die katholische Kirche. Weil das Schweigen Pius XII. sprachlos macht." Der Pacelli-Papst habe zwar diplomatische Bemühungen im Hintergrund gesetzt, um Juden vor den Nazis zu retten, es habe aber keinen offiziellen Protest des Vatikan gegeben. 1016 römische Juden wurden nach Auschwitz transportiert, nur 16 überlebten die Zwangsräumung des jüdischen Ghettos im Oktober 1943, erinnerte Hoff. Und verwies zugleich auf einen über Jahrhunderte prägenden christlichen Antijudaismus, unter den erst das II. Vatikanische Konzil mit "Nostra Aetate" einen Schlusstrich zog.
Sich eigener Schuldgeschichte stellen
Auschwitz sei ein Ort, dem kein Papst seit Johannes Paul II. mehr ausweichen kann, "weil er die Hölle auf Erden bedeutet" und vor die Frage stelle: Hat die Kirche wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand, um die Juden zu retten? Wer in Auschwitz "an den Grenzen des Sagbaren Zeugnis für Gott" ablege, muss sich laut dem Theologen der eigenen Schuldgeschichte stellen. "Sonst verschweigt er, was Menschlichkeit vernichtet."
Franziskus will in Auschwitz das "De Profundis" beten - "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir" - und greift damit die Gebetsprache des Juden Jesus und die lebendige Überlieferung Israels auf. Sonst möchte der Papst schweigen - als "ein Zeichen der tiefen Trauer, der Verbundenheit mit den Opfern und dem jüdischen Volk", schrieb Hoff. Dieses Schweigen besitze eine eigene Qualität. "Wenn er in Auschwitz schweigt, überstimmt er die Toten nicht. Er hört auf die Überlebenden und stellt sich einer Schuld, von der sich die Kirche nicht freisprechen kann." Gleichzeitig gebe der Papst die Stimmen der Toten nicht verloren: Psalm 130 artikuliert "die von Juden und Christen geteilte Hoffnung auf den Gott Israels".
Unterschiedliche Herangehensweisen
Regina Polak ging in ihren Ausführungen ausführlicher auf die Auschwitz-Besuche der Vorgängerpäpste von Franziskus ein: Johannes Paul II. kam 1979 als "Pilger" nach Auschwitz, um seine "Knie auf diesem Golgota unserer Zeit ... zu beugen" und die Frage zu stellen: "Man muss sich hier mit Furcht fragen, wo liegen die Grenzen des Hasses?" Der polnische Papst habe damit ein intensives Versöhnungsprogramm mit dem Judentum eingeleitet. Benedikt XVI. habe in seiner "umstrittenen Rede" von 2006 mehr über die Verführung des deutschen Volkes als über die Ermordung von sechs Millionen Juden gesprochen und die Shoa als einen Kampf der Moderne gegen Gott gedeutet, der "im letzten" ein Kampf gegen das Christentum war. "Er fand kein Wort zum Antisemitismus, zur Schuld Deutschlands und der katholischen Kirche", bemängelte Polak.
"Theologische Rationalisierungen und schwülstiges Pathos sind Ausweich- und Ablenkungsmanöver", so ihre Kritik. In diese flüchteten sich alle, die davon absähen, sich Gefühlen wie Grauen, Angst, Ohnmacht - vor allem aber Scham - zu stellen. "Die Scham angesichts dessen, wozu Menschen fähig sind - und möglicherweise auch ich", ist nötig, betonte Polak. Wenn Erkenntnis die ganze Person und nicht nur den Intellekt erreiche, werde etwas Substantielles erlernbar, "das dem Bösen widerstehen lässt, das in Auschwitz geschah" und könne Schritt für Schritt zu Empathie und Verantwortung führen.
Das ist nach den Worten der Wiener Theologin gerade in Zeiten bedeutsam, in denen Antisemitismus - "in linker, zionistischer und islamischer Gestalt" - wiederkehre, da in Europa drei Generationen nach der Shoa politische "Verantwortungs"-träger wieder auf rassistische Ordnungspolitik und damit verbundene Sündenbockmechanismen zurückgriffen, und in denen tägliche Nachrichten von ertrunkenen Menschen im Mittelmeer die meisten "weitgehend kalt" ließen. Angesichts verbreiteter politischer und religiöser Terror-Radikalismen vergesse Europa auf jene Werte, die es "(erst) nach der Shoa mühsam erkämpft hat", beklagte Polak. Das Schweigen von Papst Franziskus lasse auch dieses "bedrohliche Dröhnen der Gegenwart" hören.
Papst fragte: "Adam, wo bist du?"
Gesprochen habe Franziskus bereits an der Gedenkstätte Yad Vashem - mit der Frage aus der Genesis nach dem Menschen: "Adam, wo bist du?" In der folgenden Meditation sei es um die Abgründe des Bösen im Menschen gegangen. "Denn Menschen haben Auschwitz geplant. Menschen haben in Auschwitz gemordet", hielt Polak auch gegenüber der Frage "Wo war Gott in Auschwitz?" fest. Mit ihr habe sie zunehmend "Schwierigkeiten", bekannte Polak. "Statt soziale, ökonomische und politische Fragen zu stellen und damit nach dem Menschen zu fragen, weicht mancher zu rasch in die Theologie aus", werde abseits der irdischen Ursachen "über Gott spekuliert": Gott sei dann "böse" oder "weint" oder "leidet". Die Theologin: "Ich verstehe den Schrecken und die Fürsorge für die Gläubigen, die solcher Theologie zugrundeliegen. Ich halte sie dennoch für Ablenkungsmanöver."
Sie selbst habe im Gespräch mit Jüdinnen und Juden gelernt, sich mit theologischen Spekulationen zurückzuhalten, schrieb Polak. Stattdessen gehe es darum, die Beziehung zu Gott zu pflegen, "ihn zu loben und zu preisen, zu klagen und gegebenenfalls auch mit ihm zu streiten" und so im Sinne des kürzlich verstorbenen Elie Wiesel "praktische Theodizee" zu betreiben. Polaks Schlusssatz: "Ich habe den Eindruck, dass Papst Franziskus dies alles weiß. Deshalb wird er schweigen."
(Link zu Hoff: www.uni-salzburg.at/index.php?id=46749; Link zu Polak: www.feinschwarz.net/beredtes-schweigen/#more-5322)
Quelle: kathpress