Immer mehr Junge vom Leistungsdruck überfordert
Jugendliche, die dem gegenwärtigen Leistungsdruck nicht standhalten und schlichtweg überfordert sind, was sich u.a. in Konzentrationsverlust, Leistungsabfall und Antriebslosigkeit äußert - mit dieser Klientel hat der Hamburger Kinder-und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort immer öfter zu tun. Dass das Tempo in der Gesellschaft zunimmt, werde zum Problem gerade für zunehmend erschöpfte Heranwachsende, berichtete der Psychiater am Mittwoch im Rahmen der Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg - diesjähriges Leitthema: "Zeit" - aus seiner Arbeit.
Schulte-Markwort, bekannt für seine Arbeiten zu Erschöpfungsdepressionen bei Kindern und Jugendlichen, verwies auf die Problemgruppe von "dyspraktischen", als "tollpatschig" wahrgenommenen Kindern: Sie, die Schwierigkeiten mit der Grob- oder Feinmotorik und mit Schnelligkeit haben, kämen besonders schwer mit Stress zurecht. Die Folge sei Rückzug, nicht zuletzt aufgrund von Reaktionen aus ihrem Umfeld, sagte Schulte-Markwort. Immer als letztes Kind im Turnunterricht ins Team gewählt zu werden, sei dabei nur ein Aspekt. Heutige Kinder seien zudem sehr reflektiert und bauten auch selbst innerlich Druck auf, wenn es zum Beispiel darum gehe, mit einem guten Zeugnis in eine anspruchsvolle höhere Schule zu wechseln und damit womöglich später bessere Berufschancen zu haben.
Psychische Erkrankungen haben laut dem Mediziner keine Einzelursache, sie beruhten vielmehr auf einem Zusammenspiel gesamtgesellschaftlicher Phänomene. Als Stichworte nannte Schulte-Markwort Familienleben, Schule, digitale Welt, Ökonomisierung und das Prinzip Leistung. Bei Kindern mit einem guten Familienklima etwa sei die Gefahr, depressive oder Angstsymptome zu entwickeln, bereits halbiert.
Wichtig sei es, junge Menschen dort abzuholen wo sie stehen und neue gesellschaftliche Gegebenheiten zu berücksichtigen, riet Schulte-Markwort. In diesem Zusammenhang wolle er auch den Umgang von Kindern mit dem Smartphone nicht verteufeln: "Betrachten Sie 'WhatsApp' als digitale Nabelschnur", gab er den Hunderten Interessierten in der Großen Aula der Universität Salzburg nur eine von vielen Möglichkeiten vor, mit Jugendlichen in Kontakt zu bleiben.
Zeitempfinden ist subjektiv
Die Heidelberger Psychologin Hede Helfrich unterschied in ihrem Vortrag bei der Werktagung zwischen zwei Arten des Zeitempfindens: Zum einen existiere eine innere Uhr, die sich an biologischen Rhythmen wie dem Pulsschlag, der Atmung und den Schlaf-Wach-Phasen orientiert. Zum anderen konstruiert sich der Mensch abgekoppelt davon seine eigene, subjektiv wahrgenommene und erinnerte "Ereigniszeit": Helfrich bezeichnete es als "Zeitparadox", wenn Phasen voller Eindrücke und Signale als viel länger wahrgenommen werden, als sie eigentlich ist. Ruhigere Zeiten hingegen lieferten weniger Signale, hinterließen weniger Spuren im Gedächtnis und erschienen im Rückblick kurz.
Interessant ist laut der Psychologin, dass bei der Nutzung von neuen Medien dieses Zeit-Paradoxon nicht zu gelten scheint. Trotz der Vielzahl an Eindrücken und der schnellen Verarbeitung von Signalen werde der Beschäftigung im Netz offenbar wenig Bedeutung beigemessen, und im Gedächtnis verblieben nur wenige Spuren.
Die beschleunigten Zeittakte der gegenwärtigen Gesellschaft müssen aber nicht zwingend alle Lebensbereiche umfassen. Zudem gibt es bedeutende kulturelle und soziale Unterschiede, sagte die Expertin für kulturvergleichende Psychologie. Helfrich berichtet zum Beispiel von Beobachtungen, die sie während ihrer derzeitigen Lehrtätigkeit in China mache: Dort sind manche Bereiche des Lebens unglaublich schnell, neue Kommunikationsmöglichkeiten werden exzessiv genutzt, das Essen wird mit dem Smartphone bestellt, das Taxi damit bezahlt. Andererseits warten Chinesen geduldig und ohne Eile in der Schlange auf den nächsten Bus, wenn beim vorherigen nur noch Steh- und keine Sitzplätze mehr frei sind.
Quelle: kathpress